Terror in Konzerthalle: Schuld und Sühne
Nach dem Anschlag bei Moskau versucht der Kreml, Spuren in die Ukraine zu legen. Diskutiert wird auch eine Wiedereinführung der Todesstrafe.
In dem Moskauer Vorort hatten Bewaffnete am Freitagabend am Eingang des Konzertsaals, wo die russische Rockband Piknik auftreten sollte, das Feuer auf Sicherheitskräfte eröffnet und eine Brandbombe geworfen. Diese löste ein Feuer in der Halle aus.
Anschließend drangen die Attentäter in den Saal ein und mordeten unter Rufen wie „Allahu akbar“ wahllos weiter. Die vorläufige schreckliche Bilanz: 137 Personen wurden getötet, 154 verletzt – einige davon schwer. Mindestens zehn Menschen werden noch vermisst.
Es ist der schwerste Terroranschlag in der Russischen Föderation seit 2004. Damals hatten tschetschenische Terroristen in Beslan (Nordossetien) in einer Schule mehr als 1.200 Geiseln genommen. Bei der Erstürmung des Gebäudes kamen nach offiziellen Angaben 331 Geiseln ums Leben, die meisten von ihnen Minderjährige.
Täter-Video auf Telegram verbreitet
Die Crocus City Hall gehört zu einem gleichnamigen Geschäftszentrum, das über die Moskauer Ringstraße zu erreichen ist. Es gibt eine Fußgängerbrücke über den Fluss Moskwa sowie von der U-Bahn-Station Mjakinino einen direkten Durchgang zur Konzerthalle. Dieser ist sowohl über den Haupteingang als auch über Parkplätze zu erreichen. Zum Zeitpunkt des Anschlags könnten sich laut dem Internetportal insider.ru bis zu 6.000 Menschen in dem Gebäude aufgehalten haben.
Wie die Attentäter unbehelligt in das Gebäude gelangen konnten, ist nach wie vor unklar. „Heute ist mein zweiter Geburtstag. Ich bin am Leben.Wir haben es in die Garderobe geschafft. Es herrschte Panik, sie hätten beinahe jemanden in der Schranktür zerquetscht. Wir sind mehr als eine halbe Stunde herumgelaufen. Während dieser Zeit waren nirgendwo Sicherheitsdienste zu sehen. Im Großen und Ganzen sind wir alleine rausgekommen“, zitiert die oppositionelle russische Zeitung Nowaja Gazeta Europe die Benutzerin Marina Truschina auf dem sozialen Netzwerk VKontakte.
Bereits am Freitagabend hatte die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP), eine lokale Gruppierung des IS, den Anschlag für sich reklamiert. Einen Tag später erfolgte eine Bestätigung im Onlinedienst Telegram. Der Anschlag sei Teil des „natürlichen Kontextes des tobenden Kriegs“ mit den „Ländern, die den Islam bekämpfen“, heißt es dort. Auf einem ebenfalls auf Telegram verbreiteten Video des Angriffs, mutmaßlich von den Attentätern aufgenommen, ist zu sehen, wie einer von ihnen einer verletzten Person die Kehle durchschneidet.
Am Samstag ließ der Kreml die Festnahme von elf Verdächtigen bekannt geben – darunter auch die der vier Angreifer. Sie seien ausländische Staatsbürger, einige von ihnen aus dem zentralasiatischen Land Tadschikistan, wie russische Medien berichteten. Die Festnahmen seien in der Region Brjansk erfolgt, die an Belarus und die Ukraine grenzt. Der Inlandsgeheimdienst FSB gab an, die mutmaßlichen Täter hätten „Kontakte“ in die Ukraine und hätten dorthin fliehen wollen.
Die Erzählung, die Spur führe in die Ukraine, tischte auch Russlands Präsident Wladimir Putin seinen Landsleuten in einer TV-Ansprache auf, die erst 19 Stunden nach dem Terroranschlag ausgestrahlt wurde. Die Täter hätten die russisch-ukrainische Grenze überqueren wollen. Dort habe die Ukraine schon ein „Fenster“ für deren Grenzübergang vorbereitet, sagte Putin. Beweise für diese Beschuldigung nannte der Kremlchef nicht. Auch den IS erwähnte er nicht.
Selenskyj nennt Putin Dummkopf
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ging am Samstag in seiner allabendlichen Videoansprache auf die Vorwürfe ein. Nach dem, was in Moskau passiert sei, „versuchen Putin und die anderen Mistkerle natürlich nur, jemand anderem die Schuld in die Schuhe zu schieben. Anstatt sich um seine russischen Bürger*innen zu kümmern und sich an sie zu wenden, hat dieser Dummkopf Putin einen Tag lang geschwiegen und überlegt, wie er das mit der Ukraine in Verbindung bringen kann“, sagte Selenskyj.
Derweil befeuert der jüngste Anschlag in Russland Debatten, wieder die Todesstrafe einzuführen. Der Chef der Duma-Fraktion Einiges Russland, Wladimir Wassiljew, kündigte am Samstag Pläne an, sich in der Duma „eingehend mit der Frage der Aufhebung des Moratoriums für die Todesstrafe im Einklang mit den ‚Erwartungen der Gesellschaft‘ zu befassen.“ Die Verhängung dieses Moratoriums war seinerzeit aufgrund von Russlands Mitgliedschaft im Europarat erfolgt. Dem gehört Moskau aber seit 2022 nicht mehr an. Der Präsident des russischen Verfassungsgerichts Waleri Sorkin hatte schon 2022 darauf hingewiesen, dass eine Aufhebung des Moratoriums die Annahme einer neuen Verfassung erforderlich mache.
Besagte Erwartungen der Gesellschaft könnten jedoch noch in eine ganz andere Richtung gehen. „Die Geheimdienste konzentrieren sich auf politische Ermittlungen und die Einschüchterung von Bürgern. Sie kommen ihrer unmittelbaren Verantwortung, die Gesellschaft vor realen Bedrohungen zu schützen, nicht nach“, schreibt der russische Journalist Dmitri Kolezew auf X. „Der Angriff von 22. März sieht nach einem grandiosen Versagen des Staats aus. Es werden unglaubliche Summen für ‚Sicherheit‘ ausgegeben, aber diese Sicherheit wird nicht gewährt.“
Unterdessen wurden am Sonntag mehrere Angriffe auf Migranten aus Zentralasien gemeldet. In der Region Moskau warf eine Gruppe junger Männer vier Tadschiken aus einem Nahverkehrszug, nachdem sie Berichten zufolge damit gedroht hatten, sie zu töten.
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