Strukturproblem Rücksichtslosigkeit: Unsere Empathie wird auch im Zug nach Hameln verteidigt
Verroht die Gesellschaft immer mehr oder sind wir gegenüber Aggressivität und Rücksichtslosigkeit nur sensibilisierter? Beobachtungen einer Bahnreisenden.
D ie Schaffnerin holte Luft und machte die Schultern breit. Sie rüstete sich für den nächsten Halt vor Hildesheim, bei dem weitere Menschen, teils mit Fahrrädern, versuchen würden, in den Zug zu gelangen. „Diese Leute machen noch nicht einmal mehr für Kinderwagen Platz“, sagte sie. „Es nimmt wirklich niemand mehr auf irgendwen Rücksicht.“ Sie müsse oft eingreifen.
Nun wäre eine mögliche Antwort gewesen, dass es wohl zu unschönen Szenen kommen mag, wenn der vorherige Zug in Hameln auf halber Strecke stehen bleibt – „plötzlicher Personalausfall“ – und all die Leute dann in die nächsten Züge drängen. Aber das Fass mit dem sattsam bekannten Strukturproblem „Zerstörung der Bahn“ wollte ich nicht aufmachen, und sie konnte ja auch nichts dafür.
Wer das Fass mit den Strukturproblemen sehr wohl aufmachen will, ist Wilhelm Heitmeyer, inzwischen 80-jähriger Soziologe. Als Professor an der Uni Bielefeld wurde Heitmeyer berühmt mit seinen Langzeitstudien zur „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“, also Rassismus, Sexismus und so weiter.
Sein aktueller Befund: Die Gesellschaft werde immer aggressiver, das sei in Familien und Ehen zu messen, aber auch wenn in Schulen Lehrkräfte attackiert würden, wenn bei Notfällen Rettungs- und Feuerwehrkräfte angegriffen würden, und in öffentlichen Verkehrsmitteln wie der Bahn. Er nennt es „Durchrohung“ der Gesellschaft. So soll die Strukturfrage darin besser zum Ausdruck kommen als im Begriff „Verrohung“.
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Mehr Gewaltbereitschaft oder mehr Sensibilisierung?
„Die Langzeitdaten sind eindeutig“, erklärt Heitmeyer am Telefon: Gewaltbereitschaft nehme zu. Dies sei auch nicht mit einer zunehmenden Sensibilisierung zu erklären, wonach Gewalt stärker wahrgenommen, angezeigt und also gemessen werde. Wie der Kapitalismus „nur überleben kann, wenn er sich ausweitet und seinem Prinzip des Wettbewerbs alles unterwirft“, sagt Heitmeyer, so hätten auch die Individuen gelernt, dass sie ihre eigenen Werte zum Maßstab machen und sich nur auf Kosten von anderen ausbreiten könnten. Das in die Freiheit entlassene Individuum stehe, so Heitmeyers Vokabel, unter „Durchsetzungszwang“.
Ich gebe zu, ich hänge an der Sensibilisierungsthese – laut der so vieles, was früher „normal“ war oder wegen gewaltvoller Verhältnisse nicht angezeigt wurde, heute doch gemeldet wird. Es gibt zwar jene beeindruckende Studie der Universität von Michigan von 2010, wonach die Empathiefähigkeit unter US-amerikanischen Studierenden in 30 Jahren um 40 Prozent abgenommen habe, insbesondere ab dem Jahr 2000. Doch kommen mir die EmpathieforscherInnen hierzulande ausgesprochen vorsichtig vor, wenn sie auf eine generelle Abnahme der Einfühlungskraft angesprochen werden.
Möglicherweise beschränkt sie sich auch einfach zunehmend auf Angehörige der eigenen Gruppe: Dann trägt die viel geliebte Empathie nicht etwa zur Befriedung, sondern vielmehr zur Polarisierung der Gesellschaft bei, wie eine Studie der Uni Houston von 2019 argumentiert.
Na gut, sagt Heitmeyer, „die Entwicklungen sind nicht überall linear nach dem Motto ‚Wird alles immer schlimmer‘, sondern etwa bei der Gewaltneigung junger Menschen auch kurvenreich.“ Am „Gesamtbild“ hält er aber fest. Übrigens ohne eine optimistische Botschaft hinterherzuschieben.
Die Schaffnerin in der Bahn nach Hildesheim bewog ihre Zuggäste dazu, das entscheidende bisschen zusammenzurücken. Dazu mussten vor allem die E-Bike-Eigentümer dulden, dass ihre Räder angefasst und zusammengeschoben wurden. Daran hängt’s ja oft erst einmal: dass denen mit dem teuren Zeugs deutlich gemacht wird, wie viel Platz sie wegnehmen.
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