Struktureller Rassismus bei der Polizei: Wessen Freund und Helfer?
Unter „Defund the Police“ fordert die Black-Lives-Matter-Bewegung die Streichung von Polizeigeldern. Ein Blick in die Geschichte gibt ihnen Recht.
Unter dem Eindruck der jüngsten massiven Proteste nach dem Tod George Floyds hat eine große Mehrheit des Stadtrats von Minneapolis erklärt, das dortige Police Department abschaffen und alternative Methoden des community policing erproben zu wollen. In Los Angeles wird eine geplante Erhöhung des Polizeibudgets um 150 Millionen Dollar nicht nur ausgesetzt, der Haushaltposten wird sogar um etwa dieselbe Summe gekürzt.
Auch in anderen Städten nutzen antirassistische und bürgerrechtliche Initiativen die Chance, ihre politischen Forderungen nach einer Polizeireform unter dem Slogan „Defund the Police“ hörbar zu machen. Nicht einmal die Parteiprominenz der Demokraten kann sich gänzlich vor der Bewegung wegducken, auch wenn man sich, wie Präsidentschaftskandidat Biden, von der angesichts der unhaltbaren Zustände mit ihrem hohen Blutzoll doch recht höflichen „Defund“-Forderung distanziert.
In Deutschland hat die Kritik an der Polizei als Institution derzeit nicht dieselbe Wucht. Jedoch ist bei Kundgebungen in den vergangenen Tagen deutlich geworden, dass es auch hier ein wachsendes Bewusstsein für rassistische Diskriminierung durch die Polizei gibt. Die ganz allgemein kritische Bewertung der Ordnungsmacht ist dabei nicht völlig neu und hat im Laufe der Zeit einige überraschende Wendungen genommen.
Nicht erst seit am 1. Mai 1987 der Bolle-Supermarkt am Görlitzer Bahnhof in Flammen aufging und die Polizei daraufhin alljährlich darum kämpfen musste, am Maifeiertag die Kontrolle über den Stadtbezirk zu erringen, ist Berlin-Kreuzberg ein polizeigeschichtlich interessanter Ort. Bereits gut hundert Jahre zuvor erging hier ein Gerichtsurteil, das gelegentlich als Geburtsstunde der modernen Polizei in Preußen und Deutschland angesehen wird. Das sogenannte Kreuzbergerkenntnis vom Juni 1882 nämlich schränkte die bis dato allmächtig agierende Truppe in ihren Befugnissen erheblich ein und ebnete einer in ihren Verantwortlichkeiten stark ausdifferenzierten Verwaltung den Weg.
Der Blick auf das zur Erinnerung an die gegen Napoleon geführten Befreiungskriege auf dem Kreuzberg errichtete Siegesdenkmal sollte laut einer polizeilichen Verordnung nicht verbaut werden dürfen, wogegen ein Grundstückseigentümer klagte. Der Mann bekam recht, und zwar unter anderem mit der Begründung, dass es auf der Hand liege, dass es der Polizei nicht zustehe, stadtplanerische Regeln zu erlassen. Das war neuartig, weil diese Beschränkung mit der absolutistischen Tradition willkürlich und selbstherrlich agierender Polizeibehörden brach.
Schützen und dienen
Im wachsenden modernen Staat waren die Aufgaben der Verwaltungen bereits so weit aufgeschlüsselt, dass es des Vogts als lokaler Verkörperung der absoluten Macht des Monarchen nicht mehr bedurfte. Verschiedene Probleme wurden von verschiedenen Ämtern bearbeitet – so ist es im Wesentlichen bis heute geblieben.
Aufgabe der Polizei in diesem Mosaik staatlicher Zuständigkeiten ist es, Rechtsbrüche zu verfolgen und allgemein für Sicherheit zu sorgen. So entwickelte sich bis in die 1920er Jahre das Idealbild des Polizisten als „dein Freund und Helfer“. In den USA dauerte es bis in die 1960er Jahre, bis mit dem legendären Wahlspruch der Polizei von Los Angeles, „To protect and to serve“ („zu schützen und zu dienen“), ein ähnlich griffiges Motto gefunden war.
Während in Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts angeregt über die Kompetenzen der Polizei gestritten wurde, sah die Situation in den USA ganz anders aus. Bis dahin gab es in den meisten Landesteilen praktisch keine vergleichbare zivile Exekutivbehörde. Ein aus dem Pioniergeist und der unkontrollierten Expansion des Landes gewachsenes ultraliberales Staatsverständnis übersetzte sich in der Realität oft genug in ein Gesetz des Stärkeren.
Zur selben Zeit, als Bismarck angesichts politischer und sozialer Konflikte und der aufbegehrenden Sozialdemokratie Wohlfahrts- und Polizeistaat synchronisierte, also die Politik von Zuckerbrot und Peitsche betrieb, setzte sich auf der anderen Seite des Atlantiks das Verlangen nach einer Ordnungsmacht durch – einer Peitsche, aber ohne Zuckerbrot.
Ohne staatliche Wohlfahrt dienten die von Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts gegründeten Police Departments von Anfang an der Aufstandsbekämpfung und waren klar gegen sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen gerichtet. Das statistisch deutlich höhere Armutsrisiko nichtweißer US-Bürger*innen machte sie automatisch zum Hauptfeind der Ordnungsmacht, die qua Auftrag seitdem kaum anders kann, als strukturell rassistisch zu agieren, wie divers auch immer ihr Personal inzwischen zusammengesetzt sein mag.
Der vor allem in antirassistischen Kontexten wie der Black-Lives-Matter-Bewegung nun immer lauter werdende Ruf „Defund the Police“, also danach, den Polizeibehörden die finanziellen Mittel zu streichen, ist einerseits ein historisch begründeter Akt der Selbstverteidigung. Da es den Aktivist*innen jedoch nicht einfach um die Einsparung der Mittel, sondern deren Umwidmung für karitative Projekte, community building, sozialen Stadtumbau und dergleichen geht, kann der Slogan andererseits als politisches Programm zur nachholenden Sozialdemokratisierung des US-amerikanischen Staatswesens gelesen werden. Ein um bald 150 Jahre verspätetes Zuckerbrot.
Im direkten Vergleich wird die historisch gewachsene sehr unterschiedliche Situation mehr als deutlich. Die Stadt Los Angeles zum Beispiel hat mit rund 4 Millionen Einwohner*innen nur wenig mehr als Berlin und gibt sogar ähnlich viel Geld für ihre Polizei aus (umgerechnet etwa 1,55 Milliarden Euro gegenüber 1,6 Milliarden in Berlin). Gemessen am Gesamthaushalt der Stadt, ist das jedoch mit mehr als 16 Prozent der größte Haushaltsposten. Die deutsche Hauptstadt gibt gerade mal gut 5 Prozent ihres Haushalts für die Polizei aus, allein der Etat der Jugendämter ist mehr als doppelt so groß.
Ist damit alles gut? Antifa-Aktivist*innen in Deutschland würden zu Recht aufs Heftigste widersprechen, sind rassistisch motivierte Übergriffe durch die Polizei doch auch hier Legion. Racial Profiling, ungeklärte Todesfälle in Haft und enge Verbindungen von Beamten zu rechtsextremen Strukturen machen immer wieder Schlagzeilen. Die Diskussion nach der Vorstellung eines Antidiskriminierungsgesetzes in Berlin illustriert den offensichtlichen Reformbedarf nachhaltig.
Nicht nur rechts außen zu verortende Beamte wie der frühere Abgeordnetenhauskandidat der Republikaner und heutige Landesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Bodo Pfalzgraf, beklagen einen „Generalverdacht“ gegen die Polizei. Wie auch in den Vereinigten Staaten nach den wiederholt dokumentierten schweren rassistischen Ausfällen fällt es den Verteidiger*innen der Polizei außerordentlich schwer, eine Systematik der auftretenden Probleme anzuerkennen.
Der ungebrochene Korpsgeist und die affektive Abwehr jeglicher Kritik und Kontrolle scheinen der Polizei in Deutschland wie in den USA bei allen Unterschieden gemein zu sein. Der alte Vogt als unantastbare Verkörperung der absoluten Macht steckt noch unter den Uniformmützen.
Systematisch diskriminierende Gesellschaft
Das ständig reproduzierte Selbstbild der Polizei als generell sakrosankte, unparteiische und über dem gewöhnlichen Einerlei stehende und vor allem unpolitische Ordnungsinstanz hält sich überall hartnäckig. Deshalb stoßen schon Rufe nach nur kleineren Reformen auch auf so heftigen Widerstand.
Darüber zu diskutieren, wie eine Organisation reformierbar ist, die von Anfang an der sozialen Kontrolle und der Aufrechterhaltung des Status quo dient, geht aber nicht nur in den USA am Kern des Problems vorbei. Zumindest solange dieser Zustand systematisch und strukturell Menschen sozial und rassistisch diskriminiert.
So wird es immer wieder unter kaum vorhersehbaren konkreten Umständen passieren, dass sich Unzufriedenheit und Wut Bahn brechen, ob auf den Straßen von Los Angeles, von Minneapolis oder vor einem Kreuzberger Supermarkt. Die politisch zu beantwortende Kernfrage bleibt deshalb: Wem zu dienen, was zu schützen, wessen Freund und Helfer?
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