Streiks in Großbritannien: Die Briten sind not amused
Eine halbe Million Beschäftigte in Großbritannien streiken. Sie protestieren gegen niedrige Löhne und für ihr Streikrecht.
Sie sind Teil von geschätzt einer halben Million Menschen, die am Mittwoch in verschiedenen Berufssparten der öffentlichen Dienste streiken, Lehrkräfte, Zugfahrer:innen, Universitätsangestellte, Busfahrer:innen und an die 100.0000 Beamt:innen. Nächste Woche wird auch wieder Krankenhauspersonal streiken, neben Grenzschutzangestellten und Angestellten in den Rettungsdiensten. Auch die Feuerwehr könnte sich bald mit anschließen,
Der gemeinsame Grund für die Streiks sind fehlende oder nicht ausreichende Gehaltserhöhungen bei steigender Inflation. Fragt man genauer nach, geht es aber auch um sich über die letzten Jahre immer mehr verschlechternde Arbeitsbedingungen.
Die konservative Regierung von Rishi Sunak, der am Donnerstag 100 Tage im Amt ist, gerät zunehmend unter Druck, die wirtschaftliche Lage ist angespannt: Die Inflation lag zuletzt bei mehr als 10 Prozent, der Brexit schwächt die Wirtschaft. Laut Umfragen des Politikmagazins Politico liegen die Tories in der Wählergunst 20 Prozentpunkte hinter Labour.
Zu hohe Arbeitsbelastung
Für die Englischlehrerin und Gewerkschaftvertreterin T. C. de Roche, 28, und Englischlehrer Ben Coulson-Gilmore, 33, ist dieser Mittwoch das erste Mal überhaupt, dass sie streiken. „In den letzten zehn Jahren ist unser Gehalt um 23 Prozent gesunken. Ein Drittel aller Lehrer:innen steigt nach fünf Jahren aus und wird nicht ersetzt“, erklärt Coulson-Gilmore. La Roche sagt, dass sie zwar eine Gehaltserhöhung von 5 Prozent erhalten sollen, aber dass diese nicht durch mehr Unterstützung von der Regierung zustande kam, sondern aus dem Budget der Schule finanziert werden musste, was Kürzungen für anderes bedeute. So wollte es die Regierung. Überstunden und zu viel Arbeit und Stress für alle sei das Resultat.
Eltern, die heute nicht zur Arbeit gehen können, weil ihre Kinder unerwartet zu Hause bleiben mussten, unterstützen jedoch weitgehend die Streiks. Katherine, 54, Mutter einer Zehnjährigen, kann heute nicht arbeiten und ist auf dem Weg in ein Museum. „Solange es nicht zu viele Streiks werden, können wir das verkraften“, sagt sie. Sie vertraue Lehrer:innen bei ihrer Entscheidung, zu streiken. Fahima Sahina, 41, die selbst Lehrerin ist, muss sich heute statt der Arbeit um ihre eigenen drei Kinder kümmern. „Der Streik ist richtig, weil das Leben sehr viel teurer geworden ist“, findet sie.
Chris McGovern, der Vorsitzende der Denkfabrik der Campaign for Education ist einer der wenigen, die glauben, dass zumindest der Streik der Lehrer:innen falsch sei. „Ich halte ihre Arbeitsniederlegung für verwerflich, eigennützig und kurzsichtig“, erzählt er der taz. Das Vereinigte Königreich gäbe bei der Bildung mehr pro Kopf aus als die meisten anderen Länder der Welt. „Was wir uns wirklich fragen müssen, ist: Wieso das Erziehungsystem hier so teuer und im Vergleich mit anderen durchschnittlich ist.“ McGovern setzt den Vergleich mit Singapur an, wo Kinder in der Grundschule nicht wie hier um einen Tisch mit weiteren Hilfslehrer:innen sitzen würden, sondern auf eine einzige Lehrkraft fokussiert seien, was billiger und effektiver sei.
Vor der Fakultät für Urbanistik des University College London streiken zum ersten Mal seit sechs Jahren auch Angestellte der Universität, darunter Professor Claire Colombe, 44. Auch ihnen ginge es hier um Gehaltserhöhungen, die mit der Inflation mithalten könnten, sagt sie. Doch es ginge auch um befristete Arbeitsverträge ohne Stabilität und eine stetig steigende Anzahl von Student:innen, ohne dass sich das Personal erhöhe, da Universitäten sich größtenteils aus den Studiengebühren finanziere. Diese Gemengelage führe zu Arbeitswochen mit 60 bis 70 Stunden.
Dazu käme auch die Tatsache, dass Rentenfonds, in die viele Leute seit Jahrzehnten eingezahlt hätten, später einmal 30 bis 50 Prozent weniger wert sein werden. Colombe und die anderen geben dafür sowohl der Universität als auch der Regierung die Verantwortung. Ihre Kritik richtet sich aber nicht nur an die Konservativen. „Die Studiengebühren wurden zuallererst unter Labour-Premier Tony Blair eingeführt“, bemerkt sie.
Nicht weit von der Fakultät ist ein weiterer Streikauflauf. Vor dem Bahnhof Euston Station posieren Bahnfahrer mit Bannern, es sind alles Männer, von denen sich keiner von der taz interviewen lässt, sie verweisen auf ihren Generalsekretär Mick Whelan. „Es ist ganz einfach“, beginnt dieser, „wir haben seit vier Jahren keine Lohnerhöhung erhalten!“ Große Firmen wie Arriva Transavia, First Group, Stagecoach, aber auch die deutsche DB hätten einen korrupten und unmoralischen Deal mit der britischen Regierung geschmiedet, der den Zugfahrern die steigenden Lebenshaltungskosten nicht abdecke. Anders als in Deutschland gäbe es im Vereinigten Königreich in den Verhandlungen keinen sozialen Dialog.
Außerdem sei das Modell der Streckenfranchise gescheitert, bei dem die unterschiedlichsten Unternehmen für verschiedene Zugstrecken zuständig sind. „Die Unternehmen zahlen Dividenden an ihre Teilhaber, aber bei der Gehaltserhöhung für Angestellte wird gespart“, schimpft er. Nur die Regierung könne die Engpässe aus der Welt schaffen, damit die Unternehmen mit der Gewerkschaft richtig verhandeln.
Er schimpft auf die Tories und ihren wirtschaftlichen Analphabetismus der letzten 12 Jahre, ihren Glauben, dass die einzigen Leute, die mehr Geld verdienen sollen, Banker seien, während normale Arbeiter ruhig hungern könnten. Er kritisiert aber auch die oppositionelle Labour-Partei, deren Chef Keir Starmer beschlossen hat, dass keine Abgeordneten der Schattenregierung zu den Streiks dürften. Diese Entscheidung sei falsch, denn Labour sei die Partei der Gewerkschaften. Immerhin seien an die 120 Labourabgeordnete, die nicht Teil der Schattenregierung sind, zu Streiks gekommen. Whelan glaubt, die Tories seien eine Regierung im Zerfall.
Gegen neoliberales Modell
Viele der Stimmen bei den Streiks am Mittwoch, aber auch im letzten Jahr, vermitteln den Eindruck einer generellen Müdigkeit mit konservativ geführten Regierungen. Alle fordern neben höheren Löhnen grundlegende Veränderungen, die Abstand nehmen sollen vom neoliberalen Modell der letzten Jahrzehnte.
Bei der Bevölkerung stoßen die Streikenden auf viel Verständnis. Ein Vater, der mit seinem kranken Sohn heute nicht zu Opa und Oma an die südenglische Küste kann, sowie Fred Smith, 33, der Geschäftsinhaber eines Unternehmens, der heute nicht nach Bedford in seine Firma kann, glauben beide, dass der Steik vertretbar sei. Selbst die oft eher zynischen Black-Cab-Taxifahrer sind an Bord. „Nein, wenn die streiken und mehr Geld brauchen, ist das okay, selbst wenn es uns behindert“, sagen drei Taxifahrer der taz. Diese Einschätzung scheint von vielen geteilt zu werden. Laut Meinungsumfragen von Ipsos sind nur 31 Prozent der Befragten gegen die Streiks des Krankenpersonals und 33 Prozent gegen die Streiks der Lehrkräfte.
Die Regierung von Rishi Sunak gibt sich wenig kompromissbereit. So gab beispielsweise die Erziehungsministerin Gillian Keegan an, dass es nicht wahr sei, dass es Lehrer:innen so schlecht gehe oder dass sie regelmäßig auf Lebensmitteltafeln angewiesen seien, wie oft berichtet werde. Auf Twitter behauptete sie, dass sie auf Lehrkräfte höre und die Gewerkschaften getroffen hätte, sie sei zu Verhandlungen bereit und die Streiks wären zu diesem Zeitpunkt deswegen nicht gerechtfertigt.
Viele der Streikenden richten sich auch gegen geplante Änderungen im Streikrecht. Die britische Regierung versucht mit einem neuen Gesetz, das Recht auf Streiks einzuschränken und systemrelevante Dienste dazu zu zwingen, ein Mindestversorgungslevel zu gewährleisten. Zwar ging der Regierungsentwurf durch das Unterhaus, doch im Oberhaus wird es auf Widerstand stoßen. Smith, den gestrandeten Unternehmer, beeindruckte dieses Vorgehen ganz und gar nicht. „Ich glaube nicht, dass ich mich bei so einem Angebot in einen übervollen Zug drängeln möchte.“
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