So­zio­lo­g*in über Geschlechtervielfalt: „Die Regel ist diskriminierend“

Karolin Heckemeyer unterstützt die Läuferin Caster Semenya: Der Sport müsse sich von tradierten Vorstellungen lösen, fordert die Sportsoziolog*in.

Caster Semenya aus Südafrika 2017 bei einem 600-Meter-Lauf in Berlin.

„Sie ist eine Kämpferin“: Caster Semenya aus Südafrika 2017 bei einem 600-Meter-Lauf in Berlin Foto: Hendrik Schmidt/dpa

taz: Karolin Heckemeyer, wie beurteilen Sie die Entscheidung von Caster Semenya, vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu ziehen, um dort gegen den Ausschluss von Athletinnen mit natürlich hohen Testosteronwerten von Wettkämpfen zu klagen?


Karolin Heckemeyer: Es ist ein konsequenter Schritt, denn die einzige Alternative wäre, dass Caster Semenya das Urteil des Sportgerichtshofs CAS einfach hinnimmt. Aber sie ist eine Kämpferin, die im Sport weiter aktiv sein will. Außerdem ist es aus meiner Perspektive wichtig, zu signalisieren, dass der Sport kein von anderen gesellschaftlichen Kontexten losgelöstes System ist. Auch Sportorganisationen sind den Menschenrechten verpflichtet.

Warum hat der Sport viel größere Probleme, geschlechtliche Vielfalt zu akzeptieren als andere gesellschaftliche Bereiche?

Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt stellt die Grundstruktur des Sports, also die als selbstverständlich geltende Geschlechtertrennung und die damit verbundenen Männlichkeits- und Weiblichkeitsvorstellungen, in Frage. Interessant ist auch, dass Sportorganisa­tionen die strikte Trennung in Männer- und Frauenwettbewerbe damit be­gründen, dass nur so faire Wettkämpfe – insbesondere für Frauen – möglich seien.

Allerdings ist Chancengleichheit im Sport grundsätzlich eine Illusion, und das Festhalten an der Leistungsklasse Geschlecht reproduziert die Vorstellung von zwei natürlichen Geschlechtern sowie die Vorstellung, dass Männer Frauen per se im Sport überlegen sind.

Die Testosteron-Regel will Chancengleichheit wahren, schließt aber Frauen aus. Das ist doch gerade benachteiligend.

Genau. Die Testosteron-Regel ist diskriminierend. Punkt. Schon allein die Annahme, dass Testosteron ein „männliches“ Hormon ist, ist falsch – Testosteron kommt bei beiden Geschlechtern vor. Durch diese Setzung entsteht aber überhaupt erst die Möglichkeit der Diskriminierung gegen Frauen mit natürlich erhöhtem Testosteron.

Sie haben die Machtdimension angesprochen. Es fällt auf, dass ­besonders schwarze Frauen aus dem globalen Süden von dieser Regel betroffen sind. Woran liegt das?

Grundsätzlich müssen wir verstehen, dass unsere Vorstellungen von Geschlecht nicht jenseits von „race“ und nicht jenseits kolonialer Geschichte zu denken sind. Die Kategorie Geschlecht ist unmittelbar mit einem weißen, bürgerlichen Weiblichkeits- und Männlichkeitsideal verknüpft. Schwarze Körper gelten diesem kolonialen Ver­ständnis zufolge als geschlechtlos und als nicht-menschlich.

Im Kontext des Sports zeigt sich das zum Beispiel in Bildern von hyperathletischen Schwarzen Körpern. Zugleich wird Schwarzen Athletinnen immer wieder ihr Frausein abgesprochen, ihr Geschlecht wird in Frage gestellt. Eben dieses koloniale Muster zeigt sich auch in der Praxis der Geschlechterverifika­tionsverfahren. Dort argumentiert World Athletics zudem, dass Sportverbände in Ländern des globalen Südens nicht in der Lage wären, mit „Geschlechterproblematiken“ umzugehen.

Wie muss der Sport vorgehen?

Zum einen ist es die Aufgabe der Sportorganisationen, sich mit dem Thema geschlechtliche und sexuelle Vielfalt aktiv auseinanderzusetzen. Der DOSB (Deutscher Olympischer Sport-Bund; d. Red.) macht da erste wichtige Schritte. Es geht darum, die eigenen Strukturen kritisch zu hinterfragen – mit Blick auf Geschlechtervorstellungen, aber auch mit Blick auf die Verwobenheit von rassistischen und geschlechterexkludierenden Strukturen.

Zum anderen sind alle Personen angesprochen, die mit Sport in Berührung kommen – nicht nur im Leistungssport, sondern auch im Breitensport. Es ist wichtig, nicht erst zu handeln, wenn eine Person, die sich als non-binär oder als trans* oder inter* versteht, sagt: „Hallo, ich würde gerne mitspielen“, sondern darum, zuvor für Akzeptanz zu sorgen.

Was wünschen Sie sich konkret in Bezug auf die Testosteron-Regel?

Mein Wunsch wäre, dass Sportverbände und Vereine sich dafür einsetzen, dass diese Testosteron-Regel abgeschafft wird, und sie sich dagegen wehren, diese Regel anzuwenden. Wir müssen Verständnis schaffen, und wir müssen dafür sorgen, dass sich Menschen zum und im Sport eingeladen fühlen, die in die binäre Geschlechterkonstruktion, wie wir sie kennen, nicht so ganz passen.

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