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Sozialpolitik von Grünen und FDPMehr Zuverdienst bei Hartz IV

Bei den Sondierungen zwischen FDP und Grünen könnten Berührungspunkte in der Sozialpolitik helfen. Aber Fragen der Finanzierung sind unklar.

Therapiegespräch in einer Stuhlrunde Foto: Felix Kästle/dpa/picture alliance

Berlin taz | Zuerst gute Nachrichten: Kommen Grüne und FDP in die Bundesregierung, könnte es mehr kassenfinanzierte Psychotherapie geben und auch mehr Möglichkeiten ärztlicher Suizid­hilfe am Lebensende. Menschen, die Hartz IV beziehen, könnten mehr Geld aus einem Hinzuverdienst behalten dürfen.

Diese Gemeinsamkeiten ergeben sich, wenn man die Sozialpolitik in den Wahlprogrammen von FDP und Grünen vergleicht. Die Freidemokraten wollen generell „bessere Hinzuverdienstregeln beim Arbeitslosengeld“, die Grünen die „Anrechnung von Einkommen“ für Be­zie­he­r:in­nen von Grundsicherung „deutlich attraktiver gestalten“.

Eine Ausweitung der Hinzuverdienstmöglichkeiten würde bedeuten, den Kreis der Erwerbstätigen, die Anspruch auf ergänzende Hartz-IV-Leistungen hätten, erheblich auszuweiten, was auch von den Gewerkschaften nicht unkritisch gesehen wird.

Nicht unterschlagen sollte man, dass die FDP einst ein Gutachten in Auftrag gegeben hat, worin vorgeschlagen wurde, die Freibeträge nur bei höheren Hinzuverdiensten zu steigern, sie aber bei kleinen Nebenjobs bis 100 Euro zu vermindern. Dieser Vorschlag würde Hartz-IV-Empfänger:innen mit Kleinstjobs schlechterstellen. Leichter umsetzbar ist der Vorschlag von FDP und Grünen, für Jugendliche in Familien, die Hartz IV beziehen, einen Nebenverdienst bis zur Minijobgrenze zuzulassen.

Abgaben sollen sinken

Für die knallharten Finanzierungsprobleme in den Sozialkassen finden sich in den Parteiprogrammen von FDP und Grünen hingegen nur wenig Vorschläge, die auf Gemeinsamkeiten hindeuten – und das ist die schlechte Nachricht. Die FDP beharrt darauf, dass die „Abgabenquote“, also die Abgabenbelastung für die Ar­beit­neh­me­r:in­nen und Ar­beit­ge­be­r:in­nen, sinken müsse. Eine Wiederbelebung der Vermögensteuer lehnt sie ab, der Solidaritätszuschlag soll komplett abgeschafft werden.

Für eine Bürger­versicherung im Gesundheitssystem gibt es von der FDP keine Zustimmung

Die FDP möchte eine „gesetzliche Aktienrente“ einführen, wobei etwa 2 Prozent des Bruttoeinkommens in eine „langfristige, chancenorientierte, kapitalgedeckte Altersvorsorge“ fließen sollen. Die Grünen schlagen zur Altersvorsorge einen öffentlich verwalteten „Bürgerfonds“ vor, durch den die Menschen vom „Wertezuwachs der Wirtschaft“ profitieren sollen.

Man erinnert sich nicht ohne Unbehagen an die Zeiten von Rot-Grün in den nuller Jahren, als grüne Fi­nanz­po­li­ti­ke­r:in­nen erklärten, dass die Bür­ge­r:in­nen nur mehr in Aktien investieren müssten, um am Wohlstand teilzuhaben. Dann kam der Crash.

Keine „Bürgerversicherung“

Für die von den Grünen propagierte Idee der „Bürgerversicherung“, womit private und gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung zusammengelegt würden, gibt es von der FDP keine Zustimmung. Die Liberalen wollen weiterhin ein „duales Gesundheitssystem“. Allerdings mit mehr „Wahlfreiheit“, was Selbstständige freuen könnte, die im Alter liebend gern von der privaten in die gesetzliche Krankenversicherung wechseln würden.

Statt die großen Finanzfragen anzugehen, könnten sich Grüne und Gelbe womöglich nur auf kleinere Verbesserungen einigen. Die FDP schlägt vor, dass Pflegehaushalte künftig mehr selbst darüber bestimmen können, wie sie das Geld aus der Pflegeversicherung einsetzen. Die Grünen wollen mehr gemeinnützige Wohnungsbauträger. Debatten darüber würden vom Waffenstillstand im Großen ablenken.

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31 Kommentare

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  • Was vor allem sofort geändert werden muss,ist die unterschiedliche Behandlung von Beziehern von Grundsicherung im Alter,und Hartz 4 Empfaengern.



    Wer aufstockend zur geringen Altersrente



    Sozialhilfe,also Grundsicherung im Alter erhält,darf bei zb.100€ zuverdienst fast nix behalten..krass oder.

    Am besten waere allerdings,Hartz 4 abzuschaffen und eine sanktionsfreie Grundsicherung einzuführen,etwa so wie es Die Linke vorsieht.50€ mehr monatlich ,wie Grüne versprechen waere natürlich auch hilfreich...

  • Was wir eigentlich brauchen, ist eine Heraufsetzung der Wochenarbeitszeit auf 40 Stunden. Wenn die Menschen mit Rücksicht auf den Planeten weniger reisend unterwegs sind, haben sie mehr Zeit, identitätsstiftenden und einkommensteigernden Tätigkeiten nachzugehen.

  • Ich bin sicher, dass die Gruenen noch andere Wortwahlen finden müssen::

    An Wertsteigerungen kann man nur durch die Veräusserung der "wertgesteigerten" Objekte "profitieren.

    Ich gratuliere den "40 Jahre Einzahlenden", wenn die, die nur 39 Jahre eingezahlt haben

    ALLES RAUSHOLEN:

    Zwangsläufig steht natürlich auch im Raum-Zeitgefüge,



    dass eine solche Krankheit einem

    "Thesaurierenden Fond" entsprechen sollte,



    (falls nicht von den "Rentenbeiträgen" die Staatsfinanzierung via Kapitalertragsteuer) erledigt werden soll.

    Ein solcher "ThesaurierendeR Fond" ist aber per se, da die in ihm verbuchten Gelder aus dem Markt -also dem Umsatz- gezogen werden,

    eine "Mehrwertsteuerverkürzung.

  • Ich wette, der Rentenfond hätte in Wirecard investiert.

    Vielleicht wären auch die Manager der ehemaligen WestLB oder dem Hamburger Pendant bereit die Verwaltung zu übernehmen.

    OK, bei Blackrock hätte man wenigstens die Chance an einer Mieterhöhung sogar für die eigene Wohnug zu "profitieren".

    Dann

    • @Karlos:

      Nach der allgemeinen Empfehlung, die Investitionen möglichst breit zu streuen, wäre der Verlust durch Wirecard bei rund 0,05 Prozent gelegen. Diesen Anteil besaß das Unternehmen am MSCI World.

  • Was die Verhandlungen bezüglich Hartz IV betrifft, so scheint die Diskussion der letzten Jahre hinsichtlich Menschenwürde keinen Einfluss auf Sozialdarwinisten zu haben. Hier hätte auch Merz mit am Tisch sitzen können.



    Hartz IV in seiner Grundstruktur als Zwangssystem wird offensichtlich nicht angetastet. Kein Wunder, dass FDP und GRÜNE die Empfänger der meisten Großspenden waren. Und der mediale Kampf gegen Die Linke scheint sich auch gelohnt zu haben.

  • Kann man das nicht wunderbar finanzieren, indem man auf die Steuerverschwendungen von CDU/CSU verzichtet? Warum werden in den Medien diese Verschwendungen eigentlich nicht in Harz-4-Sätze umgerechnet, nur falls mal wieder ein Politiker fragt, wie wir uns solidarische Leistungen eigentlich finanzieren sollen?

  • @HOLZKOHLE:

    Das ist ja noch eine sehr freundliche Interpretation.

    Ich lese in @WOMBAT nur Menschenverachtung.

  • Der Zuverdienst ist eigentlich heute schon zu hoch.



    Die Kombi Hartz IV + legaler Zuverdienst + Schwarzarbeit ist für „Betroffene“ unschlagbar attraktiv. Da hilft auch 16€ Mindestlohn nicht….

    Besser wäre die ersten 450€ komplett auf Hartz IV anzurechnen und danach Zuverdienst zu staffeln, so dass es sich nicht lohnt nur ein paar h zu arbeiten….

    • @Wombat:

      "Die Kombi Hartz IV + legaler Zuverdienst + Schwarzarbeit ist für „Betroffene“ unschlagbar attraktiv."

      Also alles Strauchdiebe, diese "Hartz IV "Schmarotzer", die sich Sozialleistungen erschleichen und dann auch noch nebenbei Schwarzarbeit machen, um sich mit dem Geld den neuesten BMW zu kaufen.

      Die Wahrheit sieht aber wohl eher so aus. Hartz IV = FORDERN UND Gewinne der Wirtschaft FÖRDERN. Das ist der wahre Grund, weshalb man die Hartz-Reformen damals unter Schröder (SPD) eingeführt hat. "Gefördert" wurde mit Hartz IV aber nur die prekäre Beschäftigung samt Leiharbeit und Werkverträgen in Deutschland. Gefördert wurden Hungerlöhne, Armut und Elend. Dieser neoliberalen SPD-Politik haben wir unzählige Zeitarbeitsfirmen zu "verdanken", die sich an der Armut in Deutschland auch noch frech bereichert haben und sich nach Corona auch weiterhin bereichern wollen. Die Hartz Reform gibt es seit 2003 und die Ausweitung des Niedriglohnsektors wird immer noch betrieben, damit die deutsche Wirtschaft innerhalb Europas ihre Stellung als Exportweltmeister halten kann; was die übrigen europäischen Länder natürlich wirtschaftlich extrem unter Druck setzt.

      Mit Hartz IV konnte man - und kann man trotz BVerfG vom 05.11.2019 leider immer noch - Millionen arbeitslose Bürger zu "Arbeitssklaven" machen weil sie mit § 10 SGB II von den Jobcentern in jeden "Job" gezwungen werden können. Und die anderen Bürger (die momentan noch einen Job haben), kann man mit Hartz IV klar machen, dass "wenn ihr nicht spurt und für einen Hungerlohn ackert, ihr dann auch in Hartz IV landet". Die Arbeitgeber wollen das Hartz-IV-Sanktionssystem auf jeden Fall behalten, weil Hartz IV sich nämlich seit Jahren als gutes Zwangsmittel bewährt hat, um Betroffene in den Billiglohn zu treiben.

    • @Wombat:

      Fest steht das der Harz4-Satz zu niedrig bemessen ist. Sie setzen noch einen drauf. Alle Arbeitslosen unter den Generalverdacht der Schwarzarbeit zu stellen und dies als Argument zu nehmen Hinzuverdienst bis 450 Euro komplett zu streichen ist einfach nur Egozentrisch und weltfremd.

    • @Wombat:

      Schwarzarbeit - oder legal erscheinende Formen davon wie Probearbeiten, kostenlose Praktika oder Bezahlung in lokaler Währung, sind durch die hohen Bußgelder ab 1000 EUR aufwärts im MiLoG, die nun gnadenlos vom Zoll eingetrieben werden, aus meiner Sicht unattraktiv geworden. Viele Restaurantbetreiber und Kleingewerbetreibende haben dies bereits zu spüren bekommen.

      • @hedele:

        Es ist leider nahezu unmöglich Schwarzarbeit in Hartz IV nachzuweisen. Einfach mit dem legalen Zuverdienst verbinden, dann hat der Zoll kaum eine Chance nachzuweisen dass du nicht gerade dem legalen Teil nachgehst.

    • @Wombat:

      Ich bin derzeit Hartz 4 Bezieher. Leider bin ich chronisch krank. Bei sehr guten Krankheitsverlauf ist es mir möglich in einem halben Jahr vielleicht für ein paar Stunden die Woche zu arbeiten. Bei ihrem Vorschlag würde sich das für mich aber überhaupt nicht lohnen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich mehr arbeiten kann, ist nicht so hoch. Da mehr Druck zu machen nützt überhaupt nichts. Ich wäre froh einfach ein bisschen Lebensqualität zu bekommen und nicht in so unwürdigen Verhältnissen leben zu müssen.

      • @Holzkohle:

        Ja. Ihre Situation und die, die mit ähnlichen kämpfen müssen darf nicht übersehen werden. Kenne die Situation chronisch Erkrankter als Kollleginnen, Kollegen in 1-Euro-Jobs. Ein dauerndes hin und her zwischen der Erfüllung einer täglichen Mindestarbeitszeit und einer langwierigen Beantragung einer EU-Rente.



        Alles Gute für Sie.

    • @Wombat:

      Ihr Kommentar zeugt von gewisser Ahnungslosigkeit.

  • Ich fasse zusammen:



    FDP und Grüne wollen Suizidhilfe am Lebensende verbessern und Grundsicherung attraktiver gestalten.

  • Christine Lagarde empfiehlt seit 2017 Vermögenssteuern. weltweit. Die ist Direktorin des IWF. Schon mal gehört?

    • @nzuli sana:

      Das tut sie nicht. Sie fordert vermögensbezogene Steuern wie Grundsteuer und Erbschaftssteuer. Da bin ich ganz bei ihr. Die Linke Vermögenssteuer ist aber Schwachsinn hoch 35 und die fordert wirklich Niemande. Fast alle Ländern der Welt haben diese abgeschafft mit Ausnahme von CH, aber die Schweiz sollte für alle Linke doch das absolute Hassobjekt sein (keine Betriebsräte, keinerlei Kündigungssschutz, extreme Niederigsteuern auf hohe Einkommen, Kopfpauschale in der KV, sehe geringe Unternehmenssteuern, Arbeitspflicht für Arbeitslose, Rückzahlungspflicht für Sozialleistungen, Schonvermögen nur 4k,…)…..

  • taz: "Mehr Zuverdienst bei Hartz IV"

    Anstatt das Hartz-"System" endlich einmal in den Müll zu werfen, will man also nur "bessere Hinzuverdienstregeln beim Arbeitslosengeld" schaffen. Das unwürdige Spiel (Ausbeutung von arbeitslosen Menschen) soll also weitergehen; aber etwas anderes war von der FDP auch nicht zu erwarten. Was wir eigentlich brauchen, ist zunächst einmal eine Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden die Woche, wie sie seit Jahren der Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Bontrup fordert und danach das 'Bedingungslose Grundeinkommen', wie Götz Werner, R.D. Precht u.a. es fordern, denn Jobs für Menschen wird immer weniger geben.

    "Die Politiker glauben immer noch an den Mythos der Vollbeschäftigung. Sie sind ganz benebelt davon. Aber Vollbeschäftigung ist eine Lüge. Die alten politischen Parolen haben mit der Welt, in der die Menschen leben, nichts mehr zu tun. Trotz temporärer Erfolgsmeldungen wächst die Arbeitslosigkeit, das ungebremste Wachstum schädigt unsere Ressourcen." [Götz Werner, Interview in der taz, 27.11.2006]

    Das hatte Götz Werner - Milliardär und BGE-Befürworter - schon vor 15 Jahren gesagt, aber die alten Parolen werden trotzdem immer noch gebracht, und das obwohl der Klimawandel uns gerade klar macht, dass es mit dem ausufernden Wirtschaftswachstum so nicht weitergehen kann und ein Umdenken stattfinden muss. Ein Umdenken muss aber auch beim BGE stattfinden, denn die Halbleitertechnologie, die Robotik und demnächst auch die KI machen immer mehr Menschen arbeitslos. Menschen für die es auch keine neuen Jobs geben wird, auch wenn man uns weismachen möchte, dass das alles nicht so schlimm wird. Die Wirtschaft steht an der Schwelle zur vierten industriellen Revolution und ein BGE wäre also der nächste logische Schritt damit es nicht irgendwann zu sozialen Unruhen kommt.

    So lange wir unsere "Volksvertreter" aber mit dicken Diäten und Ministergehältern durch ihr Leben schleppen, wird sich nichts ändern, denn die sind ja finanziell gut versorgt.

    • @Ricky-13:

      Danke, volle Zustimmung! Wird wirklich Zeit für ein Grundeinkommen/die Garantiesicherung.

      Die völlig beknackten "Wachstum Wachstum" Parolen, Vollbeschäftigungs-Heilsversprechen und das perverse Schuldgeldsystem (ich muß meine (angebliche) Schuld vor Gott abarbeiten) gehören auf den Müllhaufen der Geschichte.

      Eine intelligente, menschliche Evolution ist möglich! :-)

    • @Ricky-13:

      Arbeitszeitverkürzung muss wieder in den Focus der Politik genommen werden. Sie sagen es.

    • @Ricky-13:

      "Anstatt das Hartz-"System" endlich einmal in den Müll zu werfen..." - die einzige Partei, die das möchte, hat bei der Wahl nicht einmal 5% bekommen. Die Menschen wollen die Parteien, die das "Hartz-System" eingeführt haben an der Regierung sehen - sicher auch weil dahinter eben keine starre Ideologie steht, sondern das System immer wieder angepasst wurde und wird, und zwar eigentlich immer im Sinne der Empfänger. "System abschaffen" ist dagegen kein pragmatischer und konstruktiver Vorschlag, das Ziel zu erreichen, dass am Ende möglichst jeder eine Arbeit hat, von der er leben kann.



      Da hilft eine 15 Jahre alte Analyse wenig. Wahrscheinlich war es schon damals wenig weitsichtig, davon auszugehen, dass es keine Vollbeschäftigung mehr geben kann, das war vielleicht in den 90er Jahren aktuell. Heute haben die meisten Industriestaaten trotz oder wegen enormer technischer Entwicklungen, vor allem aber wegen der demografischen Entwicklung, eher das Problem, dass es an allen Ecken an Arbeitskräften mangelt und die Wirtschaft überhaupt nur noch durch massive Zuwanderung in den Arbeitsmarkt funktioniert. Eine Sozialpolitik, die auf 15 Jahre alten Theorien basiert, ist sicher nicht fortschrittlich und pragmatisch.

      • @Ruediger:

        Das Märchen vom demografischen Wandel wird also mal wieder erzählt.

        Die arbeitgebernahe "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" gehörte übrigens zu den ersten treibenden Kräften, die die Demografie hof- und panikfähig gemacht haben. Jetzt fehlt eigentlich nur noch der unsoziale Spruch von Hans-Werner Sinn (ehemaliger ifo-Präsident und Berater bei den Hartz-Reformen): "Jeder will arbeiten, es gibt aber nicht genug Arbeit. Und warum gibt es nicht genug Arbeit? Weil der Lohn zu hoch ist."

        • @Ricky-13:

          Wann hat dieser komische Sinn das denn gesagt? 2005? Es ist doch gar nicht so, dass es nicht genug Arbeit gibt. In vielen Bereichen (z. B. Pflege, Bildung, Logistik, IT) werden händeringend Leute gesucht. Natürlich hat das auch was mit den Gehältern zu tun, aber insgesamt sind einfach nicht genug Leute da.

          Wir sind nicht mehr in den frühen Nullerjahren. Und der demographische Wandel ist keine Ideologie, sondern eine Tatsache, es ist unbestreitbar, dass ohne Zuwanderung mehr Menschen in den Ruhestand gehen, als in den Arbeitsmarkt einsteigen.

  • Ergänzung zu meinem eingestellten ersten Kommentar:

    Wie verhält sich eine zu erwartende Erhöhung des Mindestlohnes auf Euro 12,- zum Vorschlag der FDP „Hinzuverdienstgrenzen H4“?

    Eine alte Sache eigentlich. Mit der Agenda 2010 und ihren Angeboten an aufstockenden Leistungen für „Jobber“ im Niedriglohnsektor, sollten Arbeitgeberseitig auch weniger Ertrag versprechende Geschäftsmodelle geschaffen/unterstützt werden, die bezahlte Arbeit (wie auch immer gemeint) schaffen.



    Ich meine nicht, dass die genannte Erhöhung des Mindestlohns auch nur die Geschäftsmodelle des Niedriglohnsektors „zusammenbrechen“ lassen. Aber für die Arbeitgeber erhöhen sich nun mal die Lohnkosten. Kann es zu einer Entwicklung kommen, dass solche Arbeitgeber ihre Arbeitstätigkeiten und Arbeitsplatzbeschreibungen bei einer Erhöhung des Mindestlohns so „zuschneiden“, dass diese Tätigkeiten mit geringerer Stundenzahl für den Arbeitnehmer angeboten werden? Der erhöhte Mindestlohn wird beim einzelnen Arbeitsplatz durch dessen geringere Stundenzahl kompensiert. Gleichzeitig verspricht die FDP durch aufstockende „Subvention beim Arbeitnehmer“ eine Nachfrage nach solchen Arbeitsplätzen weiterhin. Dürfte, wenn hier richtig gedacht, eine „alte Sache“ sein.



    Sie bekommt dann aber einen irgendwie doch irrationalen Zug. Der Mindestlohn soll existenzsichernde Arbeit schaffen. Täte er für einen Arbeitnehmer auch, nur eben wieder mit Aufstockung verbunden. Kann man Zweifel haben, ob man das mit dem Mindestlohn eigentlich erreichen will. Und was die eigentlich als subventionsunfreundliche FDP dazu denkt und sagt.

  • "Menschen, die Hartz IV beziehen, könnten mehr Geld aus einem Hinzuverdienst behalten dürfen." Dabei wäre es schön, den H4-Satz so anzuheben, dass Nebenverdienste nicht unbedingt erforderlich sind, um ein würdevolles Leben zu führen.

    • @C.O.Zwei:

      Dumm nur, dass weder FDP noch SPD das wollen, von der CDU mal ganz zu schweigen.......



      Und damit die Mehrheit der Wählenden offensichtlich auch nicht so dringend, dass sie entsprechend abgestimmt haben.

  • Die Grünen Vorschläge zur Sozialpolitik in diesem Artikel wirken bereits so dermaßen schwach das ich - obwohl ich quasi keine diesbezüglichen Erwartungen hatte - gerade einen sanften Realitätsschock erlitten habe.

    • @Medardus:

      Kein Wunder, denn Frau Dribbusch führt hier ja nur einen Vorschlag auf.



      Das grüne Programm sieht auch eine Anhebung des Mindestlohns und eine nicht unerhebliche Anhebung des ALG II-Satzes vor. Außerdem eine Bürgerversicherung. Die werden hier einfach unterschlagen.



      Wenigstens die Anhebung des Mindestlohnes steht auch im Programm der SPD. Wenn das im Koalitionsvertrag am Ende der worstcase festgelegt wird, liegt das wohl eher nicht an den Grünen sondern an einer SPD, die sich verzweifelt an die FDP heranwanzt.......

  • Ist alles gut, was Arbeit schafft? Die FDP u. ihr Vorschlag: Freibeträge bei Hinzuverdienst in H4 "klein" senken, bei "höher" anheben.

    Schreibe hier als Unkundiger. Der Kreis der Leistungsberechtigen würde größer. Weil bei Anhebung der Hinzuverdienstgrenze sich der Kreis der Aufstocker erweitern würde. Derjenigen, die H4 wg. nicht zum Lebensunterhalt ausreichenden Einkommen Grundsicherung zusätzlich in Anspruch nehmen können. Richtig? Wenn, dann kostet das nun mal mehr Haushaltsmittel.



    Meine Überlegung dazu: Die FDP nimmt das in Kauf, weil sie dabei die Überlegung hat, den Niedriglohnsektor zu festigen, auszubauen. Das soll erreicht werden, in dem die Kleinstjobs mit Zuverdienst bis Eu. 100,-- weniger bis gar nicht für die H4-Beziehenden attraktiv bleiben. Dagegen werden solche Arbeitsverhältnisse gefördert, die vom Verdienst her graduell eher "richtigen" Jobs ähneln. Arbeitgeber können im Niedriglohnsektor solche Jobs anbieten, weil die für sie letztlich bezahlbar blieben, durch zu erwartend höhere Subvention.



    Natürlich ist zu berücksichtigen, dass AL durchaus gern solche Angebote annehmen könnten, weil sie bei ihrer Qualifikation, vielleicht wg. eingeschränkter Arbeitsfähigkeit u. ä. attraktiv sind.



    Doch welche Effekte wären noch zu erwarten? Das Sanktionsregime in H4 ist durch das letzte Urteil des BV nur gemildert. Nach wie vor gilt die Pflicht zur Aufnahme jeglicher Arbeit. Zielt die FDP vor diesem Hintergrund darauf ab, die im Strukturwandel zu erwartenden Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt auch auf diese Weise "abzufangen? Ganz holzschnittartig: Ein Stück nochmal Agenda 2010 (1.1. bis...) durch die Hintertür? Mit propagandistischer Werbung: Arbeitsplätze durch Liberale Politik? Aber ja. Dafür soll es auch mehr Geld „für die AL“ geben dürfen, sagt die Öffentlichkeit. Ist da ein Einwand der Gewerkschaften zu suchen?



    Denn im Hintergrund stellt sich die Frage auch: Wie hält man es mit dem Niedriglohnsektor? Mehr oder weniger davon?