Soziale Bewegungen in Berlin: Lahmer Protest

Anlässe für Demonstrationen hätte es zuletzt genug gegeben, aber auf den Straßen tut sich wenig bis nichts. Woran liegt das?

Leerer Liegestuhl der DGB Jufend auf der Demonstration am 1. Mai

Wenn schon bei Demos der Liegestuhl bereitgestellt wird: DGB-Protest am 1. Mai in diesem Jahr Foto: Stefan Boness

BERLIN taz | Es hätte das Bewegungshighlight des Sommers werden können: Mitte Juli rief das Bündnis „Rückschrittskoalition stoppen“ zum Protest gegen den neuen schwarz-roten Senat. Die ersten vier Monate der CDU-geführten Regierung hatten zahlreiche Aufregerthemen produziert: drohende Haushaltskürzungen, abgewürgte Verkehrswende, ignorierter Enteignungs-Volksentscheid. Empörungspotenzial, wohin man auch schaute.

Prominent war auch die Liste der Redner:innen: von der Bildungsgewerkschaft GEW über die Initiativen 100% Tempelhofer Feld und Deutsche Wohnen & Co Enteignen bis zur Kampagne für die Opfer rassistischer Polizeigewalt. Nur: Es kam fast niemand. Zum Start der Kundgebung vor dem Roten Rathaus war der Platz fast leer.

Doch das ist nur ein Flop von vielen: Bei der „Großdemonstration“ von Klimaneustart Berlin im März vor dem Brandenburger Tor zeichnete sich angesichts der übersichtlichen Menge der am nächsten Tag verlorene Volksentscheid schon ab. Von einer Krisen-Demo von Verdi und weiteren Großorganisationen am selben Wochenende haben nur Eingeweihte Notiz genommen. Und der 1. Mai wenige Tage nach der Wahl Kai Wegners (CDU) zum Regierenden Bürgermeister? Business as usual.

Die Protestszene der Stadt ist wie gelähmt. Die gesellschaftliche außerparlamentarische Linke ist – ebenso wie die Partei Die Linke – in der Krise, womöglich der größten seit Jahrzehnten. Doch woran liegt das?

Kollektive Hoffnungslosigkeit

Der Soziologe Simon Teune vom Institut für Protest- und Bewegungsforschung spricht von einem „Moment kollektiver Hoffnungslosigkeit“. In der Linken herrsche derzeit das Gefühl, „nirgendwo richtig Oberwasser zu kriegen“. Von Migration bis Klimapolitik sei die Gegenseite in der Offensive. Hinzu komme ein Ansteckungseffekt: „Wenn Proteste in einem Feld nicht durch die Decke gehen, schränkt das bei anderen Akteuren die Motivation ein, selbst viel Energie in die Mobilisierung zu stecken.“

Sucht man einen Ausgangspunkt für diese Krise, landet man im Herbst des vergangenen Jahres und einem bundespolitischen Thema, das kaum Aussicht auf reale Wirksamkeit bot: der Preiskrise. Ein halbes Dutzend verschiedener linker Akteure hatte sich in Berlin auf den Weg gemacht, Sozialproteste zu initiieren – es aber nicht geschafft, dabei gemeinsam vorzugehen. Der „heiße Herbst“ war vorab herbeigeschrieben worden – und an den Erwartungen krachend gescheitert.

Von einem „ausgebliebenen Protestereignis“ spricht Mara Hauser, Mitglied der AG Soziale Kämpfe des linksradikalen Bündnisses Interventionistische Linke (IL).

Klassische Demonstrationen seien „nicht das richtige Format gewesen, um jene zu erreichen, die von der Preiskrise am stärksten betroffen sind“, sagt sie. Aber auch die ebenfalls mit IL-Beteiligung initiierte Kampagne „Wir zahlen nicht“ – ein Aufruf, kollektiv die Stromrechnung zu boykottieren – ging völlig unter.

Linke kann mit sozialer Gerechtigkeit nicht mobilisieren

Die Linke ist in ihrem ureigenen Thema, der sozialen Gerechtigkeit, wirkungslos geblieben

Die Linke war in ihrem ureigenen Thema, der sozialen Gerechtigkeit, wirkungslos geblieben. Ein Grund neben der selbst gemachten Spaltung: Das heraufbeschworene Katastrophenszenario von kalt bleibenden Wohnungen war ausgeblieben. Das zumindest sagt Jonas Schelling, seit vielen Jahren aktiv in Berlins Mietenbewegung sowie der IL.

Folgt man Teunes Theorie der Ansteckung, fehlt es den Linken seit dem wieder einmal gescheiterten Versuch, das Proletariat zu organisieren, an der Energie, sich selbst zu mobilisieren. Es ist auffällig, dass man die Leute „nicht mehr massenhaft vom Sofa holen kann“, sagt Rosa Winter von der linksradikalen Gruppe Theorie Organisation Praxis (TOP.) Das gilt für lokale, aber auch größere Themen.

Was derzeit völlig fehlt, sind spontane Momente, wie es sie zuletzt 2020/21 gab: Als sich der FDPler Thomas Kemmerich mit Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten Thüringens wählen ließ, der Mietendeckel gekippt wurde oder in Griechenland das Flüchtlingslager Moria brannte, trieb es Tausende auf die Straße.

Als diesen Sommer die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) beschlossen wurde, passierte nichts dergleichen. Noch vor wenigen Jahren schaffte es die Kampagne Seebrücke dagegen, antirassistische Forderungen weit über das linksradikale Milieu hinauszutragen.

Apathie angesichts der Erfolge der Rechten

Womöglich sind die Erfolge der Rechten einfach zu groß und wuchtig, um noch mit Hoffnung darauf zu reagieren. Die Folge: Die Apathie zieht sich durch fast alle politischen Bereiche.

Eine Antifa, die Akzente setzt angesichts einer AfD im Allzeithoch, die demnächst Landtagswahlen gewinnen könnte? Fehlanzeige – auch weil der Ermittlungsdruck im Zuge des Verfahrens gegen die Gruppe Lina E. die Handlungsspielräume einschränkt. Mietenproteste für die Verteidigung des Volksentscheids und gegen die immer schneller steigenden Mieten? Gibt es nicht.

Dabei war die Mietenbewegung fast über ein Jahrzehnt der verlässliche Treiber für Proteste in der Hauptstadt. Nun sagt Schelling: „Es fehlt nicht die Wut, es fehlt die Hoffnung.“ Der Mietendeckel wurde gerichtlich gekippt, das Ende des Vorkaufsrechts verhindert, dass sich organisierende Hausgemeinschaften wie Pilze aus dem Boden sprießen, und das Ignorieren des erfolgreichen Enteignungs-Volksentscheids hat viele nachhaltig deprimiert.

Jonas Schelling, Mietenaktivist

„Es fehlt nicht die Wut, es fehlt die Hoffnung.“

Ergo: „Es gibt kein politisches Projekt mit einer Durchsetzungsperspektive.“ Viele würden sich deshalb nun mehr auf Stadtteilarbeit und Organizing konzentrieren. Arbeit am Aufbau einer Mieter-Gewerkschaft statt öffentlichkeitswirksamer Aktionen.

Von Corona nicht erholt

Auch die Nachwirkungen von Corona sind weiter zu spüren. Manche Häusergruppen und Kiez-Initiativen seien, so Schelling, nach der Pandemiepause nie wieder erwacht. Hauser sagt: „Corona hat reingehauen und Strukturen zerschlagen.

Auch in der IL haben diese Jahre deutliche Spuren hinterlassen.“ Zu den wichtigsten Akteuren, die in den vergangenen Jahren von der Bildfläche verschwanden, gehört das Bündnis Unteilbar – das letzte Großbündnis, das dem gesellschaftlichen Rechtsruck noch Massen entgegenzustellen vermochte und sich vor einem Jahr auflöste.

Doch das Problem geht noch weiter, wie Hauser sagt: „Corona und auch der Krieg haben heftige Debatten in der gesellschaftlichen Linken ausgelöst.“ Bei beiden Themen wirke nach, dass es „keine klaren Positionen gab, auf die sich alle einigen konnten“. Und nach außen konnten Linke nicht in zwei Sätzen erklären, wie ihre Positionen zu diesen Themen sind.

Immer weniger linke Freiräume

Rosa Winter, deren Gruppe an einigen der vergangenen Bewegunsgserfolge in der Stadt beteiligt war – wie den Protesten gegen den Google-Campus 2018 oder der Blockade des Aufmarsches des 3. Wegs in Hohenschönhausen 2020 – nennt einen weiteren Punkt: „Das Verschwinden linker Orte und Freiräume“ durch eine regelrechte Räumungswelle in den vergangenen Jahren.

Und jene, die sich noch halten, brauchen dafür oft „alle Energie“. Von offensiven Forderungen wie jener der Besetzen-Kampagne nach einem sozialen Zentrum sei nichts geblieben, stattdessen baue die CDU nun einen Zaun um den Görli, so Winter.

Als wäre das alles nicht genug, färbt auch die Stimmung der Partei Die Linke, zumindest auf Bundesebene, auf die Bewegung ab. Ihre „Spaltungslinien sind ebenso für die Bewegungslandschaft relevant“, sagt Protestforscher Teune. Lange Zeit sei Die Linke ein Akteur gewesen, der „mit Ressourcen und bei Mobilisierungen unterstützend präsent war“. Das falle nun überwiegend aus, so Teune.

Hinzu kommt für Mara Hauser (Interventionistische Linke) das Problem, dass die gesellschaftliche Wahrnehmung der Linken „massiv durch die Partei geprägt ist“. Mietenaktivist Schelling, der mit Deutsche Wohnen & Co Enteignen immer wieder Bezugspunkte zur Partei hat, sagt: „Ihr peinliches Zerfleischen schadet der Bewegungslinken.“

Anders, aber nicht besser ist es mit den Grünen. „Die Beteiligung der Grünen an der Bundesregierung fällt der Klimabewegung und der Antifabewegung auf die Füße“, sagt Hauser. Das Ergebnis sei eine große Frustration bei vielen, die sich in den Bereichen engagieren. Auch Rosa Winter sagt: „Menschen in linksliberalen Kreisen, die Hoffnungen auf die Grünen hatten, sind mit Lützerath oder GEAS komplett ernüchtert.“

Bewegung bei Klimaprotesten

Dabei ist der Bereich Klimapolitik und Verkehr momentan der einzige, in der die Bewegung noch mobilisierungsfähig ist. 20.000 Menschen waren zuletzt gegen die Stadtautobahn A100 auf der Straße, ebenso viele bei Fridays for Future. Währenddessen sorgt die Letzte Generation mir ihren Aktionen dafür, dass Klimaproteste dauerhaft wahrnehmbar sind. Erfolge aber sucht man auch hier vergebens.

Kann sich die Linke aus dieser Situation befreien? Jonas Schelling sagt: „Angesichts der gesellschaftlichen Großwetterlage fällt es mir schwer, nicht in den totalen Pessimismus zu verfallen.“ Die quasi verfehlte Aufgabe, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, oder die Landtagswahlen im Osten im kommenden Jahr machten „große Angst“. Auch Hauser ist konsterniert: „Die Handlungsunfähigkeit im Zuge der Preiskrise hat mich ratlos zurückgelassen.“ Gleichzeitig gelte: „Die Bedingungen machen es immer notwendiger, dass wir aus diesem Tal herauskommen müssen.“

Als möglicher Kristallisationspunkt für Proteste fällt immer wieder geplante Ausbau der A100. Ein Erfolgskonzept aus der Vergangenheit sei es oft gewesen, sich ein „konkretes lokales Projekt zu suchen, wo man im begrenzten Rahmen etwas Großes erzählen kann“, sagt Winter. Derzeit sei es schwierig, dem „konservativen Konsens“ die große Antwort entgegenzuhalten. Stattdessen müsse man diesen mit „vielen offensiven Projekten zerlöchern“. Notwendig bleibe zudem, Antifaarbeit sichtbarer zu machen und etwa mit Klimaaktivismus zu verbinden. „Antifa ist nicht alles. Aber ohne Antifa schwindet der Raum für alle emanzipativen Forderungen“, so Winter.

Sicher ist, die Probleme werden nicht kleiner, an objektiven Bedingungen für Proteste fehlt es nicht. „Das Konfliktpotenzial wird wieder zunehmen“, sagt Schelling. Protestforscher Teune konstatiert: „Es brennt überall.“ Für Berlin komme hinzu: Eine CDU-Regierung mache es „in der Regel leichter, Proteste zu organisieren“.

Teunes Beobachtung: Soziale Bewegungen verlaufen in Wellenformen: „Ich halte es für ausgemacht, dass irgendwann wieder mehr Leute auf die Straße gehen, weil wieder die Stimmung da ist, dass man damit einen Unterschied macht.“ Nur sei es schwer, dies willentlich herbeizuführen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.