Sicherheitsexperte über Energiepolitik: „Russland mangelt es nicht an Geld“
Der estländische Verteidigungsexperte Kalev Stoicescu erklärt, wie und warum Europa sich von russischem Gas unabhängig machen sollte.
taz: Herr Stoicescu, Estland will Waffen aus DDR-Beständen an die Ukraine liefern, um Kiew angesichts einer drohenden Aggression aus Russland zu unterstützen. Dafür braucht die Regierung eine Erlaubnis aus Berlin. Doch Deutschland lehnt das bisher ab. Wie schätzen Sie diese Entscheidung ein?
Kalev Stoicescu: Ich sehe das kritisch. Deutschland verfolgt seit Jahrzehnten eine Politik des Verzichts auf Waffenlieferungen in Kriegsgebiete. Das ist die offizielle Begründung. Im Fall Israels sind wir Zeugen einer anderen deutschen Politik, wenn es um Waffenexporte geht.
Im Fall der Ukraine argumentiert die Bundesregierung mit ihrer besonderen historischen Verantwortung …
Diese hat Deutschland zweifellos gegenüber Russland. Wenn Berlin jedoch von dieser Schuld redet, ist für uns in den baltischen Staaten unklar, warum diese Schuld sich ausschließlich auf Russland bezieht. Tatsächlich wurden die schrecklichsten Gräueltaten während des Zweiten Weltkriegs auf dem Territorium der Ukraine begangen. Dort waren die meisten Opfer zu beklagen. Wo bleibt da die deutsche Verantwortung gegenüber der Ukraine?
Der 56-Jährige ist Experte im Internationalen Zentrum für Verteidigung und Sicherheit (ICDS) in Tallinn. Davor war er unter anderem estnischer Botschafter in den USA. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Sicherheitspolitik sowie die Beziehungen zwischen der NATO und Russland.
Welche Rolle spielt die Energiepolitik in der Ukrainekrise?
Die deutsche Wirtschaft hängt maßgeblich von russischen Energielieferungen ab. In diese Abhängigkeit hat sich die Bundesregierung selbst begeben. Die Regierungen unter Angela Merkel haben immer wieder betont, dass die Pipeline Nord Stream 2 ein reines Wirtschaftsprojekt und nicht mit Geopolitik verbunden sei. Doch aktuell sehen wir glasklar, dass Nord Stream 2 als eine wichtige Waffe in den Händen Russlands gegen Europa dient. Um dem entgegenzuwirken, müssen wir über andere Möglichkeiten nachdenken. Zum Beispiel Flüssiggas nach Europa bringen. Eine andere Quelle könnte Atomkraft sein, dem steht jedoch Deutschlands Entscheidung entgegen, aus der Atomkraft auszusteigen. Das halte ich übrigens nicht für eine angemessene Politik. Die aktuelle Konfrontation mit Russland ist ein Beweis dafür.
Was meinen Sie damit konkret?
Wenn Russland tatsächlich in der Ukraine einmarschiert und zu dem achtjährigen Krieg in der Ostukraine eine weitere Katastrophe hinzukommt, könnte eines der Hauptszenarien sein, dass Russland sich weigert, Gas nach Europa, einschließlich Deutschland, zu liefern. Wir in der EU sind es doch, die den Kreml füttern. Russland verdient an uns, indem wir Gas kaufen. Wenn die EU dann Sanktionen verhängt, laufen die ins Leere. In Russland mangelt es nicht an Geld.
Was könnten Alternativen zu russischen Energielieferungen sein?
Die baltischen Staaten Lettland, Litauen und Estland sind mit Russland und Belarus durch das Brell-Abkommen verbunden und dabei, aus dieser alten Strominfrastruktur auszusteigen. Das heißt: Stromlieferungen aus Russland und Belarus aufzugeben und sich an das Stromsystem der EU anschließen. Außerdem gehört Estland weltweit zu den Ländern, die reich an Ölschiefer sind. Wir haben früher sogar Strom, der aus Ölschiefer gewonnen wurde, exportiert. Heute kann Ölschiefer das Baltikum unabhängiger von ausländischen Energielieferungen machen. Jedoch fängt die estnische Regierung gerade damit an, auf die Verbrennung von Ölschiefer in ihren Kraftwerken zu verzichten – aus klimapolitischen Gründen. Auf Wind- und Sonnenenergie kann Estland nicht alleine setzen. Mini-Atomkraftwerke können eine langfristige Lösung sein, da sie sicherer als herkömmliche Atomkraftwerke sind. Doch von der Idee, ein Mini-Atomkraftwerk zu bauen, ist die estnische Regierung leider weit entfernt.
Und wenn die Russen das Gas abdrehen?
Wir werden uns nicht in die Knie zwingen lassen. Jedoch werden viele estnische Unternehmen Schwierigkeiten bekommen. Vor allem werden die Menschen betroffen sein, unter anderem Zehntausende Russ:innen in Narva im Nordosten Estlands, direkt an der russischen Grenze. Ich bin gespannt, was mit diesen Leuten passiert, wenn Moskau das Gas abdreht. Müssen sie frieren und hungern?
Wollen Sie damit sagen, dass Tallinn die russisch-stämmigen Menschen, die etwa 25 Prozent der Gesamtbevölkerung stellen, als politisches Druckmittel gegen die Moskauer Gaspolitik einsetzen könnte?
Nein. Ich will nur darauf hinweisen, dass diese Menschen an der Grenze zuallererst betroffen sein werden, und sie sind nun mal ethnische Russ:innen. Moskau hatte das bereits 1990 versucht und die Gaslieferungen gestoppt. Doch nach ein paar Tagen wurden die Lieferungen wieder aufgenommen.
Fühlen sich die baltischen Staaten von Russland bedroht?
Eine weitere militärische Auseinandersetzung in der Ukraine könnte auch zu einer Destabilisierung im Baltikum führen. Russland ist ein Provokateur. Die Unterstützung der baltischen Staaten für die Ukraine könnte Moskau als Vorwand dienen, auch im Baltikum einzugreifen, in welcher Form auch immer. Es ist nichts Neues, dass es zu Russlands langfristigen Zielen gehört, die Nato im Baltikum zu schwächen.
Droht Ihrer Meinung nach ein militärischer Angriff Russlands auf die Ukraine?
Nehmen wir an, Russland besetzt Charkow oder andere Regionen, die im Vergleich zur Krim keine strategische Bedeutung haben. Was bringt das? Dann muss Russland die ganze Ukraine besetzen, und das halte ich doch für sehr unwahrscheinlich. Ich bezweifle sehr, dass es einen solchen Krieg geben wird. Falls doch, wäre es Putins letzte Option – so, als ob er seine Rolexuhr als finalen Einsatz in diesem Pokerspiel auf den Tisch legen würde.
Wie erklären Sie dann Russlands Verhalten?
Selbst in seinen schlimmsten Träumen kann sich niemand im Westen einen Krieg gegen die Atommacht Russland vorstellen. Und das will auch keiner. Russland sagt, ein Beitritt der Ukraine zur Nato bereite ihm Sorge. Doch das ist ein Scheinargument. In Wahrheit hat Russland Angst vor der Demokratie. Russland möchte sich, wie im Kalten Krieg, mit nichtdemokratischen Ländern oder Ländern umgeben, die es unter Kontrolle hat. Damit würde der Kreml dann auch vor den sogenannten Farbrevolutionen sicher sein.
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