Shirin Ebadi über die Proteste im Iran: „Sie wollen das Regime stürzen“
Ziel der Protestbewegung im Iran ist, das Regime der Mullahs zu stürzen. Das sagt die im Exil lebende iranische Nobelpreisträgerin Shirin Ebadi.
taz am wochenende: Frau Ebadi, die Proteste im Iran dauern nun seit sechs Wochen an. Was wissen wir über die aktuelle Situation?
Shirin Ebadi: Im Iran werden die Menschen von Tag zu Tag immer wütender. Sie wollen einen Regimewechsel. Die zentrale Parole überall im Land lautet: „Zan, Zendegi, Azadi.“ Frau, Leben, Freiheit. Die Parole zeigt deutlich, was für ein System die Menschen im Iran haben wollen: Demokratie und Säkularismus, denn nur in einem solchen System können Frauen die gleichen Rechte haben. Nur in solch einem politischen System kann die genderbasierte Diskriminierung beendet werden. Und nur in einem demokratischen System wird der Körper, das Leben an sich und die Würde des Menschen respektiert. Nur in einem säkularen und demokratischen System erhält der Begriff Freiheit eine Bedeutung. Die Menschen im Iran sind müde von der theokratischen Diktatur.
In Deutschland hört man in Politik und Medien immer wieder Stimmen, die sagen, dass nach einem Sturz des Regimes die Situation noch instabiler und schlechter werden könnte. Was sagen Sie dazu?
Das Schicksal und die Zukunft des Irans wird von der iranischen Bevölkerung bestimmt, nicht von der Politik im Westen. Die Bevölkerung im Iran ist gebildet und aufrecht genug, dass sie in der Lage sein werden, ihre eigenen Anführer*innen zu wählen. Wir brauchen auch keinen designierten Anführer, den die Welt schon kennt. Denn solche Führungsfiguren entwickeln sich ihrerseits oft zu Diktatoren. So wie Ruhollah Chomeini, der sich nach der Revolution als Diktator entpuppte.
Die Richterin wird von der iranischen Zivilgesellschaft, im Iran und außerhalb, hoch geachtet. Die Friedensnobelpreisträgerin und Juristin war die erste Richterin des Iran – bis 1979 die Islamische Revolution alles änderte. Das Recht, Richterin zu sein, wurde ihr entzogen, weil sie eine Frau ist.
Als Anwältin vertrat sie Angehörige von Todesopfern des iranischen Regimes.
Der Druck auf Ebadi, die sich für Menschen- und Frauenrechte einsetzte, wurde im Laufe der Zeit immer größer. Sie musste das Land verlassen. Seit 2009 lebt sie im Exil.
Wir haben jetzt schon einige Anführer*innen im Iran, die in unterschiedlichen Netzwerken aktiv sind. Man sieht, wie die Menschen gerade kämpfen und in was für einem Ausmaß sie es bisher schon geschafft haben, Widerstand zu leisten. Wir brauchen eine freie Wahl unter Aufsicht der Vereinten Nationen. Dann können freie Kandidat*innen aufgestellt werden und die Menschen können ihre Wahl treffen. Dann wird auch Europa verstehen, wer die echten Vertreter*innen der iranischen Bevölkerung sind.
Die EU und Deutschland verhandeln seit vielen Jahren mit der Islamischen Republik und ihren offiziellen Vertretern, etwa über das Atomabkommen. Das iranische Regime war immer der zentrale Ansprechpartner westlicher Staaten. Was denken Sie darüber?
Die Iraner*innen erwarten jetzt von den westlichen Staaten, dass sie aufhören, mit der Islamischen Republik zu verhandeln. Sie erwarten, dass die Regierungen im Westen dieses Regime nicht auch noch stabilisieren. Sie sollten sich den Menschen im Iran zuwenden und sie fragen, was sie denn wollen. In der Vergangenheit hatten die europäischen Regierungen inklusive der deutschen Regierung ein gutes Verhältnis mit dem iranischen Regime. Sie haben die systematischen Menschenrechtsverletzungen und die Ermordung der Menschen durch diesen Staat ignoriert. Jetzt müssen sie darauf hören, was die Iraner*innen sagen. Und die Menschen im Iran sagen: Hören Sie auf, die Mörder im Iran zu unterstützen. Stellen Sie sich auf die richtige Seite der Geschichte.
Warum haben sich westliche Regierungen so lange so verhalten?
Wegen wirtschaftlicher Interessen, die diese Regierungen im Iran haben. Die Realität ist, dass die Menschenrechte am Verhandlungstisch vergessen wurden. Der Geruch von Öl hat es nicht erlaubt, genau hinzuschauen.
Sie erzählen in Ihrem Buch „Mein Iran“, wie sich nach der Islamischen Revolution von einem Tag auf den anderen für Frauen alles verändert hat. Wie erinnern Sie sich an diese Zeit?
Als es 1979 zur Revolution kam, war ich Richterin. Das neue Regime stufte uns herab zu einfachen Justizangestellten. Sie behaupteten, dass Frauen keine Richterinnen sein könnten. Wir wurden darüber hinaus vollständig entrechtet. Ich möchte Ihnen ein paar Beispiele dieser diskriminierenden und frauenverachtenden Gesetze nennen, die damals beschlossen wurden: Das Gesetz erlaubt Männern im Iran, ganz offiziell vier Ehefrauen zu haben. Während der Mann sich jederzeit scheiden lassen kann, hat die Frau dieses Recht nicht. Der Mann muss es der Frau auch erlauben, wenn sie reisen möchte.
Das Leben einer Frau ist außerdem nur die Hälfte des Lebens eines Mannes wert. Das heißt, wenn mein Bruder und ich bei einem Unfall zu Schaden kommen würden, bekäme mein Bruder doppelt so viel an Entschädigung wie ich. Vor Gericht ist die Aussage eines Mannes so viel wert wie die Aussage von zwei Frauen. Das sind Gesetze, die nach der Revolution beschlossen und durchgesetzt wurden. Aber Frauen haben sich von Anfang an gegen diese Vorschriften gewehrt, wo immer sie konnten, sei es auf der Straße, in der Kunst oder durch Schriften. Sie kämpfen seit Jahren an der vordersten Front gegen diesen Staat.
Wie fühlt man sich als Frau in so einer Situation, in der einem alle Rechte genommen werden?
Wütend und verbittert. Nicht nur ich habe mich so gefühlt. So ging es auch den anderen Frauen im Iran.
Überall im Land wird heute protestiert. Glauben Sie, dass diese Proteste anders sind als etwa die Proteste im Jahr 2019?
Ja. Der Unterschied liegt darin, dass die Forderungen während der letzten Proteste eher begrenzt waren, etwa im Jahr 2009. Damals bezogen sie sich in erster Linie auf die Wahlergebnisse: Hört auf mit dem Putsch! Bei den landesweiten Protesten im November 2019 ging es um die Wirtschaft: die Erhöhung der Preise durch das Regime. Den Anstoß dazu gaben die steigenden Benzinpreise. Jetzt sind die Proteste viel politischer. Heute wollen die Menschen den Staat stürzen.
Begonnen haben die Proteste damit, dass Frauen ihre Kopftücher abnehmen. Warum ist es bedeutsam, dass diese Proteste feministisch sind?
Weil es die Frauen sind, die am stärksten von der Diskriminierung in diesem Staat betroffen sind. Auch schon bei früheren Protesten waren Frauen dabei – aber sie wurden von der Mehrheitsgesellschaft, von politischen Gruppen und von den Männern nicht unterstützt. Die politischen Organisationen haben etwa während des Iran-Irak-Krieges in den 80er Jahren zum Teil gesagt: Wartet, bis der Krieg mit dem Irak vorbei ist, danach kümmern wir uns um eure Rechte.
Das war fatal, weil später auch andere soziale und politische Gruppen entrechtet und verfolgt wurden. Jetzt haben viele Menschen, darunter viele Männer, verstanden, dass das ein Fehler war. Jetzt sprechen sie anders. Um es klar zu sagen: Wir werden nur durch das Ermächtigen der Frauen zu einer Demokratie im Iran gelangen.
Welche Rolle spielen Menschenrechtsanwältinnen in den gegenwärtigen Diskussionen um Gleichberechtigung und Gerechtigkeit?
Ich schätze die Rolle der Anwältinnen und auch der Anwälte als sehr hoch ein. Allgemein tragen Anwält*innen, egal welchen Geschlechts, enorm viel dazu bei, dass der Diskurs um Gerechtigkeit in der iranischen Gesellschaft angekommen ist. Für ihre Arbeit werden sie inhaftiert und müssen einen hohen Preis bezahlen. Ich schätze ihre Arbeit sehr.
Müssen die Iraner*innen jetzt eine Art Opposition bilden oder wird der Protest wie bisher organisch weitergehen?
Als Erstes muss das Regime gestürzt werden. Die iranische Bevölkerung ist am Ende ihrer Geduld mit diesem Staat. Alle Versuche, das System zu reformieren, sind gescheitert. Die Menschen sind fertig mit dem System. Wie es weitergeht, hängt vom Sturz des Regimes ab. Es gibt Stimmen, die sagen: Diese Proteste haben keine Anführer*innen. Das stimmt nicht.
Es gibt viele Anführer*innen in der Bevölkerung. Und sie haben auch klare Vorstellungen. Schauen Sie sich doch an, wie lange diese Proteste anhalten. Das wäre ohne Anführer*innen nicht möglich. Was wir wirklich brauchen, ist eine Chance, frei unter Aufsicht der Vereinten Nationen eine Wahl durchzuführen. Wir müssen uns jetzt vereint auf die Proteste und auf den Sturz des Systems konzentrieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
Kürzungen im Berliner Haushalt
Kultur vor dem Aus
Bundestag bewilligt Rüstungsprojekte
Fürs Militär ist Kohle da
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Elon Musk torpediert Haushaltseinigung
Schützt die Demokratien vor den Superreichen!
BSW-Chefin im ZDF
Wagenknecht räumt Irrtum vor russischem Angriff ein