Sechs Monate Krieg in der Ukraine: Die Welt ist eine andere
Erst Blitz-, dann Stellungs-, nun Psychokrieg: Der gewaltsame Konflikt in der Ukraine hat bislang drei Phasen durchlaufen. Der Ausgang? Völlig offen.
Kaum jemand, außer der Ukraine selbst, glaubte da an erfolgreichen Widerstand. In Moskau wurde davon ausgegangen, dass Kiew innerhalb von 72 Stunden fällt und ein Marionettenregime die Ukraine zurück in die „russische Welt“ führt. Der Einmarsch war aus Moskauer Sicht kein Krieg gegen einen souveränen Staat, sondern eine Polizeiaktion im eigenen Hinterhof. Entsprechend waren die russischen Streitkräfte auf reguläre Kampfhandlungen mit einer feindlichen Armee unvorbereitet. Die Ukraine nutzte dies.
So endete diese erste Phase des Kriegs mit einer russischen Niederlage: dem kompletten Rückzug von den Fronten um Kiew und aus dem gesamten Norden der Ukraine Ende März und Anfang April. Lediglich der Süden fiel weitgehend kampflos an Russland – mit Ausnahme von Mariupol, um das sich die blutigste Schlacht des Kriegs entwickelte, und Mykolajiw, vor dessen Toren Russlands Offensive zur Eroberung der ukrainischen Schwarzmeerküste zum Stillstand gebracht wurde.
Der Horror von Mariupol, das um den Preis seiner fast kompletten Zerstörung erobert wurde, bot einen Vorgeschmack auf die zweite Phase des Kriegs. Mitte April startete Russland seine Großoffensive zur kompletten Eroberung des Donbass – also jener Teile, die sich 2014/15 den russisch geführten Separatisten entzogen hatten. Jetzt wurde hier ganz regulär Krieg geführt, nach sowjetischer Militärdoktrin: massiver Artillerieeinsatz, um Feindesland frei zu bomben und dann zu besetzen.
Mehrere Hundert Tote am Tag
Während der intensivsten Kämpfe im Juni fielen mehrere Hundert Soldaten auf beiden Seiten täglich. In zähem Ringen kämpfte sich Russland meterweise vor und machte aus Industriestädten wie Sjewerodonezk Ruinenfelder. Der Widerstand der Ukraine war und blieb hartnäckig.
Dem festgefahrenen Stellungskrieg entsprach eine globale Lagerbildung. „Der Westen“ schloss die Reihen mit dem Beginn der Nato-Norderweiterung um Schweden und Finnland und mit dem EU-Beitrittskandidatenstatus für die Ukraine und Moldau. Auf der Gegenseite umwarb Russland den Globalen Süden von Indien über China und Iran bis Südafrika mit seinem Narrativ eines Kampfs der Kulturen und Traditionen gegen westliche liberale Hegemonie. Die ökonomische Entkoppelung von Ost und West ist seit dem Versiegen der russischen Öl- und Gaslieferungen nach Europa vorangeschritten.
Diese Blockbildung fand statt unter dem Eindruck der grauenhaften Leichenfunde in Kiewer Vorstädten wie Butscha Anfang April nach Russlands Abzug. Für die Ukraine bestätigte dies das Ausmaß des russischen Vernichtungswillens. Für Russland war das alles Fake. Verhandlungen, die es noch in den ersten Kriegswochen gegeben hatte, brach Russland ab, sie wurden nicht wieder aufgenommen.
Inzwischen tritt der Krieg schleichend in eine dritte Phase ein, die die zweite ergänzt. An den Fronten bewegt sich seit Juli wenig: Die russische Großoffensive im Donbass ist erlahmt, die angekündigte ukrainische Gegenoffensive im Süden beschränkt sich auf Nadelstiche. Der Fokus liegt auf gegenseitiger Destabilisierung, aus dem Stellungskrieg erwächst ein beweglicher Psychokrieg mit dem Ziel der Verunsicherung. Die Ukraine, jetzt mit Artillerie größerer Reichweite, zerstört russische Militärinfrastruktur weit hinter den Frontlinien, sogar auf der Krim. Russland zerbombt ukrainische Städte – wenn man sie schon nicht einnehmen kann, dann wenigstens plattmachen.
Das Spiel mit den Ängsten
Dieser Tage erreicht der Psychokrieg seinen bisherigen Höhepunkt. Die Ukraine vermittelt den Eindruck, als stünde die russische Besatzung im Süden kurz vor dem Zusammenbruch; den Russen auf der Krim wird zur Evakuierung geraten, solange die Kertschbrücke auf das russische Staatsgebiet noch steht. Russland spielt mit Ängsten um die Sicherheit des besetzten Atomkraftwerks Saporischschja.
Der Psychokrieg geht über die Kriegsgebiete hinaus. Die Ukraine jagt russische Agenten im Sicherheitsapparat. Russland erlebt eine Serie mysteriöser Sabotageakte und Todesfälle. Die Ukraine spekuliert, dass Russlands Machtapparat unter dem Gewicht seines militärischen Debakels zusammenfällt. Russland vertraut darauf, dass die Ukraine nur durch künstliche Beatmung aus dem Westen kampffähig gehalten und das westliche Interesse unter dem Eindruck von Gasknappheit und sozialer Unzufriedenheit erlahmen wird. Aus Moskauer Perspektive sind die Rücktritte von Boris Johnson in Großbritannien und Mario Draghi in Italien erste Erfolge; man hofft nun auf rechte Siege bei den Wahlen in Italien und denen zum US-Kongress.
Der Rest der Welt begegnet dem Krieg mittlerweile mit einer ähnlichen Gleichgültigkeit, wie sie auch Europa bei Kriegen in Afrika oder Asien an den Tag legt. Es ist nur auf den ersten Blick verwunderlich, dass genau in dieser Situation die Stunde der Diplomatie wieder schlägt. Aber die Vereinbarungen, die Russland und die Ukraine im Juli mit der Türkei und der UNO zur Wiederaufnahme ukrainischer Getreideexporte über das russisch kontrollierte Schwarze Meer trafen, dämmen lediglich einige globale Folgen des Kriegs ein. Frieden bringen sie nicht.
Russlands Regierung fällt in der Weltdiplomatie nach wie vor als Partner aus, die globale Politik verharrt im Ausnahmezustand. Solange Russland diesen Krieg führt, bleibt die Neuordnung der Welt, die dieser Krieg erzwungen hat, unvollendet.
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