Schräge Forderungen im Wahlkampf: Märchen vom Fleiß
Das Kapital für sich arbeiten zu lassen, ist in der Regel lukrativer, als selbst einer Arbeit nachzugehen. Das sollte sich dringend ändern.
E in neues, altes Wort geht um in Deutschland: Fleiß. Die 50er Jahre haben schon angerufen und es zurückgefordert, bislang leider ohne Erfolg. Und so hat es das Wort auf ein aktuelles CDU-Wahlplakat geschafft, mit der Zeile „Fleiß muss man wieder im Geldbeutel spüren“. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder will „mehr Leistung, Fleiß und Pünktlichkeit“ (von anderen, na klar). FDP-Chef Christian Lindner forderte schon im vergangenen Jahr, „den Leuten Lust zu machen auf die Überstunde“.
Und auch die wiederholten Forderungen aus Unternehmen und Wirtschaftsverbänden nach Einschnitten von Arbeitnehmer:innenrechten – länger arbeiten, mehr Überstunden, kein Geld am ersten Krankheitstag – atmen den Fleiß-Geist.
Abgesehen davon, dass diese Forderungen den Arbeitnehmer:innen einfach mal substanzlos Faulheit unterstellen und sie für die kriselnde Wirtschaft verantwortlich machen – als gäbe es keinen Investitionsstau, kein Bremsen bei der grünen Transformation, keine unternehmerischen Fehlentscheidungen, etwa bei der Autoindustrie. Abgesehen davon also, ist der Ruf nach mehr Leistung eine arg realitätsvergessene Forderung. Denn sie blendet zwei Punkte komplett aus.
Es braucht mehr als platte Sprüche
Erstens: Wer eine gute Summe Kapital arbeiten lassen kann, hat viel mehr davon als bei Wind und Wetter Fassaden zu säubern oder Pakete auszufahren – da kann die Paketbotin noch so engagiert in den vierten Stock sprinten. Solange sich an der Ungleichbehandlung zwischen Einkünften aus Kapital und Arbeit nicht deutlich etwas ändert, klingen alle Fleiß-Forderungen hohl.
Zweitens ignorieren die Forderungen einen ganz großen Bereich: Care-Arbeit und ehrenamtliche Arbeit. Wer sich um Kinder kümmert, um Pflegebedürftige, wer für die ältere Nachbarin einkauft, am Wochenende den ehrenamtlichen Büchereidienst übernimmt oder Demos gegen Nazis organisiert – der:die kommt in der Welt der Fleiß-Fans nicht vor. Aber klar: Hier anzusetzen, würde heißen, unser Wirtschaftssystem neu denken zu müssen. Und dafür braucht es eben mehr als platte Sprüche.
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