SWR-Doku „Die Gewählten“: „Wie fühlst du dich?“
Der SWR trifft die neue Generation der Spitzenpolitik „hautnah“. Aber Politiker:innen offenbaren sich nicht mal eben so, weil man nett bittet.
„Wie geht es dir?“ „Kommst du irgendwie klar seitdem?“ „Du bist ein bisschen abgetaucht, oder?“ Solche Fragen würde man in einer einfühlsamen Dokumentation über Menschen erwarten, die kurz vor dem Zusammenbruch stehen, die prekäre Berufe haben oder sonst vom System alleingelassen werden.
Überraschen kann daher, dass diese Fragen nicht an Pflegepersonal gerichtet sind, sondern an Deutschlands Spitzenpolitiker:innen. Das Format heißt „Die Gewählten“. In der vierteiligen SWR-Dokumentation bewegen sich Reporter:innen auf einem äußerst schmalen Grad zwischen persönlichen Gesprächen und Ankumpelei. Begleitet werden (noch relativ) junge Politiker:innen der großen Parteien, durch die Koalitionsverhandlungen oder durch die Neuaufstellung ihrer Partei als Opposition. Dazu gehören zum Beispiel Ricarda Lang von den Grünen und Tilman Kuban von der CDU.
„Die Gewählten“, abrufbar in der ARD-Mediathek
Mit denen spazieren also die Moderator:innen Miriam Davoudvandi und Jan Kawelke durchs Regierungsviertel. Sie „blicken dabei hinter die Kulissen des Berliner Politik-Business“, so heißt es jedenfalls in der Beschreibung. Im Intro werfen sie Fragen auf: Wie die Politiker:innen denn persönlich seien, was sie antreibe, ob sie den Willen haben, etwas zu verändern. Man will ganz nah ran. Das klappt nur physisch.
Das Genre „junges Politikformat mit persönlichen Gesprächen“ ist immer riskant. Politiker:innen tun einen Teufel, sich als Privatperson mit Abgründen zu zeigen oder mit Geständnissen zu überraschen, egal wie oft man sie fragt, wie es ihnen denn wirklich gehe. Das aber scheint die ganze Herangehensweise der Sendung zu sein. Als Kawelke und Davoudvandi sich treffen, um ihre Eindrücke zu besprechen, fallen immer wieder Sätze wie: „Klingbeil war sehr fertig“, „er hatte auch noch nichts gegessen“. Jenseits solcher Eindrücke wird schnell ersichtlich: Die Politiker:innen geben nichts preis, was sie nicht auch bei anderen Terminen mit der Presse erzählen würden.
Kirchgang und Piercing-Geschichten
Damit verschenkt „Die Gewählten“ Gelegenheiten. Man hätte die Chance gehabt, nach Themen zu fragen, die junge Menschen wirklich interessieren – die für sie vielleicht sogar überlebenswichtig sind. Warum man in einer Zeit, in der es buchstäblich brennt, gutverdienende Politiker wie Tilman Kuban oder Lars Klingbeil fragt, ob sie mit ihrem stressigen Alltag klarkommen und wie viele Fangeschenke sie bekommen, bleibt für manch eine:n wohl ein Rätsel.
Auch kritische Nachfragen hört man kaum. Stattdessen wird die Kamera auf die diversen Selbstinszenierungsangebote der Politiker:innen draufgehalten. Kuban geht mit der Jungen Union in die Kirche, Klingbeil erzählt die alte Geschichte, dass er als Juso ein Piercing hatte, Lang zeigt sich auf Antidiskriminierungs-Sitzungen und Vogel von der FDP natürlich im Automobil. Politikjournalismus kann man das kaum nennen.
Dazwischen werden immer wieder pseudonachdenkliche Zwischenfazits gezogen: „Kuban versteckt sich hinter Floskeln“, „Deutschland, das Land der müden Politiker“. An einer Stelle erstaunt der Off-Kommentar besonders. Im Café fragt Davoudvandi die mittlerweile Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang, ob sie Angst habe, in Zukunft noch mehr Shitstorms abzubekommen.
Lang antwortet, sie mache sich vor allem Sorgen um Lokalpolitiker:innen und Freiwillige vor Ort. Dieser Hinweis darauf, dass es konkrete rechte Gewalt gegen Menschen in lokalen Ämtern gibt, wird einfach mit dem Kommentar abmoderiert: „Ob Ricarda Lang so abgebrüht ist, dass der ganze Hass im Internet ihr nichts mehr anhaben kann?“ Nichts dergleichen hat Ricarda Lang gesagt.
Als der Koalitionsvertrag im Berliner Futurium unterschrieben wird, fällt Kawelke die Symbolkraft auf, die der Ort, die Gesten, die Schwarz-Weiß-Bilder der Koalitionspartner:innen im Foyer haben sollen: „Man will wohl geschichtsschreibend wirken, bevor man überhaupt regiert“, sagt er in der Off-Stimme. Ein ähnliches Fazit könnte man für „Die Gewählten“ ziehen. Die Sendung ist eigentlich eine unspektakuläre Nacherzählung der Nachrichten und Schlagzeilen der letzten Monate. Obendrauf aber will man dringend tiefgründig wirken, ohne je in die Tiefe gegangen zu sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett
Housing First-Bilanz in Bremen
Auch wer spuckt, darf wohnen
Preiserhöhung bei der Deutschen Bahn
Kein Sparpreis, dafür schlechter Service
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht