SPD-Plan für Industriepolitik: „Europa fällt zurück“
Die EU muss im globalen Wettbewerb mit China und den USA aufholen, fordert SPD-Chef Lars Klingbeil. Er wirbt für eine europäische Industriepolitik.
Berlin taz | SPD-Parteichef Lars Klingbeil macht sich Sorgen. Ausnahmsweise mal nicht um den Zustand seiner Partei, die bei den Landtagwahlen in Bayern und Hessen noch schlechter abgeschnitten hat, als insgeheim befürchtet. Nein, zwei Tage nach den Landtagswahlen geht es ihm um die Europäische Union.
Die war 2008 im globalen Wettbewerb noch der wirtschaftsstärkste Raum. Doch in den vergangenen 15 Jahren habe sich das Bruttoinlandsprodukt der USA und Chinas verdoppelt beziehungsweise verdreifacht, rechnet Klingbeil vor, aber in der EU liege es immer noch auf auf dem gleichen Niveau „Europa fällt zurück“, konstatierte Klingbeil.
In einer europapolitischen Grundsatzrede acht Monate vor der Europawahl forderte der Sozialdemokrat mehr gemeinsame europäische Power. Heißt: mehr gemeinsame Investitionen und Kredite in erneuerbare Energien und Wasserstoff, aber auch in öffentliche Güter wie Sicherheit und eine gemeinsame Energieversorgung. „Es geht darum, dass wir die Kraft von 27 Staaten und 450 Millionen Bürgerinen und Bürgern viel stärker bündeln“, meint Klingbeil.
Klingbeil wirbt für eine europäische Antwort auf den Inflation Reduction Act. Die USA schafften mit Milliarden gerade Anreize für Investitionen in klimaneutrale Geschäfsmodelle und lockte damit private Investitionen aus aller Welt an. In Südkorea investiere Samsung gemeinsam mit dem Staat rund 230 Milliarden Dollar, um das Land zum größten Chiphersteller der Welt zu machen. Klingbeil fordert auch für die EU ein „neues Zusammenspiel zwischen Markt und Staat“. „Es braucht staatliche Strukturen, die die Kräfte des Marktes in Richtung Dekarbonisierung und Digitalisierung lenken“, so der SPD-Parteivorsitzende.
Unterstützung bekam er von der ehemaligen schwedischen Ministerpräsidentin Magdalena Andersson. „Wir brauchen Investitionen in großem Umfang“, sagte die Sozialdemokratin. Sie sieht einen „Backlash“ bei der grünen Transformation, der in ihrem Land bereits stattfinde und sich auch in Deutschland abzeichne. Um dem partiellen Kulturkampf der Rechten auf diesem Feld zu begegnen, sei es wichtig, eine glaubwürdige Politik zu machen, die bei allen Menschen ankomme.
Ukraine Zutritt zum Binnenmarkt gewähren
Doch bekanntlich ist die EU keine Konföderation, sondern ein Verbund von Nationalstaaten, die jeweils eigene Interessen verfolgen und über ihre jeweiligen nationalen Budgets wachen. Woher also das Geld nehmen? Klingbeil fordert Instrumente wie den europäischen Wiederaufbaufonds auf Dauer zu stellen. Der Fonds mit 800 Milliarden Euro wurde als europäisches Konjunkturpaket eingerichtet, um vor allem die Folgen der Corona-Pandemie abzufedern, aber auch um Europa grüner, digitaler und stärker zu machen.
Dabei will Klingbeil Beitrittskandidaten wie die Ukraine, Moldau und die Westbalkanstaaten schneller reinholen. „Ich könnte mir vorstellen, dass man den Beitrittskandidaten den vollen Zugang zum EU-Binnenmarkt in Aussicht stellt, noch bevor sie volle EU-Mitglieder werden.“ Aus seiner Sicht könnte der Erweiterungsprozess damit flexibler werden und Zwischenschritte ermöglichen. Ein Europa der zwei Geschwindigkeiten hatte auch der französische Präsident Emmanuel Macron einst gefordert, war damit bei Kanzler Olaf Scholz allerdings nicht auf Begeisterung gestoßen.
Vor gut einem Jahr hatte Klingbeil auf der sogenannten Tiergartenkonferenz der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung (die direkt neben dem Berliner Tiergarten liegt) noch über die neue Führungsrolle Deutschlands in Europas referiert und dabei glatt vergessen, Frankreich zu erwähnen. Ein Jahr später betonte er, es komme auf das deutsch-französische Tandem an, wenn es darum gehe Führung zu übernehmen – etwa in der gemeinsamen europäische Sicherheitspolitik. Ein Signal auch nach Hamburg, wo zeitgleich die deutsch-französischen Regierungskonsultationen stattfinden.
Die Spitzenkandidatin der SPD für die Europawahl, Katarina Barley, widersprach Klingbeil in einem Punkt: Mit Zahlen werde man die Menschen nicht für Europa begeistern. „Man verliebt sich nicht in einen Binnenmarkt“, zitierte sie den französischen Sozialdemokraten und ehemaligen Kommissionspräsidenten Jaques Delors, der diesen Binnenmarkt einst vorangetrieben hatte.
„Wir müssen Europa emotionalisieren“, so Barley. Sie warnte vor dem Rechtsruck in Europa, der im Grunde in Kommission und Rat bereits Fakt sei. Als Korrektiv gebe es nur noch das Parlament. Es klang ein wenig, als sei die SPD bereits wieder im Wahlkampf.
Leser*innenkommentare
ROTEGRÄTE
Sowieso, die Überschrift sagt doch nichts Neues!
Aufholjagd? Ab jetzt oder wie?
Ich lach mich kaputt, bei vielen haben doch schon längst die Ohren geklingelt!
Nur nicht in Deutschland und der EU …;-)
LeKikerikrit
"Europa fällt zurück"
Darunter ein schönes Bildchen mit sympathischen Menschen.
Wie wäre es denn, anstatt Protektionismus mit Protektionismus zu beantworten, moralisch aufzurüsten was die Migration angeht (anstelle weiterer Verwahrlosung), mit vielen Milliarden im Gepäck für unsere Partnerländer in Afrika und Südamerika. Glaubwürdig werden und bleiben.
Nicht nur auf den kurzfristigen Vorteil aus.
Karim Abidi
@LeKikerikrit Humanere Flüchtlingspolitik wäre toll, aber reicht net, es bräuchte auch ne gemeinsame pazifistische antimilitaristische Außenpolitik.
Was ist eigtl an Protektionismus falsch? Rein volkswirtschaftlich und sozial betrachtet wären das super für sie Arbeitsmarktökonomie und die Arbeitnehmer. Freihandelsabkommen sind ohnehin oft nichts weiter als Neokolonialismus
LeKikerikrit
@Karim Abidi " Freihandelsabkommen sind ohnehin oft nichts weiter als Neokolonialismus." Da haben Sie vermutlich recht.
Und was die Aussenpolitik angeht sowieso. Das Eine bedingt das Andere. Trotzdem beharre ich auf Fairnis. Wir können nicht einer landwirtschaftlich organisierten Gesellschaft mittels korrupter Politiker eine Wasserstoff-Technologie verkaufen und nutzen, ohne dass der ganz einfache Mensch davon provitiert, nachhaltig. Es geht um sein Land, es geht um alles.
So ungefähr meinte ich mit moralisch aufrüsten.
Wenn es um fairen Handel geht, sind private Aktionäre aussen vor.
Ach so, vergass, ohne private Investitionen geht es nicht. Na dann müssen wir diese unanständigen Riesenvermögen steuerlich abschöpfen.
Karim Abidi
An sich stimme ich zu, ABER:
1. "Mit Zahlen werde man die Menschen nicht für Europa begeistern. „Man verliebt sich nicht in einen Binnenmarkt“, zitierte sie den französischen Sozialdemokraten und ehemaligen Kommissionspräsidenten Jaques Delors, der diesen Binnenmarkt einst vorangetrieben hatte."
Tja, die EU ist ein Wirtschaftsbündnis und kein Bündnis der Sozialpolitik oder der Arbeitnehmer. Des Weiteren kann man mit einem starken Programm, das verspricht, dass die europäischen Arbeitnehmer von der Wirtschaft endlich mal gscheit profitieren ordentlich viele Leute für sich gewinnen, denn sei ma mal ehrlich, wer profitiert bisher von wirtschaftlichem Wachstum? Die Arbeitnehmer werden in der EU von einem Niedriglohn Sektor in den nächsten geschoben, wir missbrauchen die EU um billige Osteuropäer auszubeuten und als Druckmittel gegen unsere Arbeitnehmer zu nutzen. Mit Zahlen und aussageschwachen Slogans schafft man NATÜRLICH net Leute für die EU zu begeistern, aber mit einem echten sozialdemokratischen Programm könnte man durchaus mit ökonomischen Positionen für sich werben.
2. "„Wir müssen Europa emotionalisieren“, so Barley. Sie warnte vor dem Rechtsruck in Europa, der im Grunde in Kommission und Rat bereits Fakt sei. Als Korrektiv gebe es nur noch das Parlament."
Was genau meint sie mit "emotionalisieren"? Und ein Problem der EU, das den Rechten in die Hände spielt, ist wie zuvor erklärt, dass die Arbeitnehmer nicht profitieren und die EU lediglich dem Niedriglohn Sektor dient. Hinzu kommen noch die Probleme mit der fehlenden Demokratie, der Kommunikation, den ständig blockenden Oststaaten usw
LeKikerikrit
@Karim Abidi Was genau meint sie mit "emotionalisieren"?
Ich will es mal pathetisch formulieren: Dass einem das Herz aufgeht, wenn man über die EU spricht. Man die Vorteile sieht, man mit Begeisterung pro EU argumentiert.
Aber: ich bin gegen jede Ost-Erweiterung der EU, jedenfalls auf absehbare Zeit. Solange wir weder einen Orban noch einen Kaczinsky, den Typen aus Slowakei, Anwärter Serbien eingehegt haben, schon gar nicht.
Tja, und die Ukraine? In die NATO/EU, nur damit wir einerseits einen größeren Puffer zu Russland haben und andererseits näher am Feind sind?
Diese Versprechen und Hoffnungen an die Ukraine zu machen, sind aus Absurdistan. Weder in die EU noch in die NATO kommt man, wenn es aktive Grenzprobleme gibt bzw. sich im Krieg befindet (auch Verteidigung).
Also: wie soll die Ukraine da raus kommen, wenn es keine abschließenden Verhandlungen gibt? Auf ein Wunder warten, dass Russland zusammenbricht wie die Sovietunion?
Vorsicht: Wiederholung: Keines der Länder wird die bei ihnen stationierten Atomwaffen freiwillig vernichten. Wie es seinerzeit die Ukraine tat.
Bischen abgeschweift, ja, aber irgendwie gehört*s doch zusammen gedacht.
justus*
@Karim Abidi #KARIM ABIDI
Mit Zahlen und aussageschwachen Slogans schafft man NATÜRLICH net Leute für die EU zu begeistern, aber mit einem echten sozialdemokratischen Programm könnte man durchaus mit ökonomischen Positionen für sich werben.
Es ehrt sie, dass sie im 21. Jh. immer noch an irgendwelche vermeintlichen Tugenden der Sozialdemokratie "glauben". Kurt Tucholski beschrieb diese Tugenden schon vor mehr als 70 Jahren mit folgenden Worten: "Die Taktik der Sozialdemokratie - 1 Schritt vor - 2 Schritt zurück!"
Karim Abidi
@justus* Tja, ich bin nun mal ein Optimist. Andernfalls wäre ich schon längst zum Menschenfeind mutiert der nicht mehr wählen geht und erst recht nie wieder ne Beziehung eingeht^^
In anderen Ländern gibts ja auch noch glaubhafte Sozialdemokraten, sogar die ultrakapitalistischen und ideologisch verstrahlten Amis haben mit Sanders und Cortez 2 prominente Persönlichkeiten die man hierzulande als lupenreine Sozialdemokraten bezeichnen würde.
Bei der letzten Bundestagswahl hatten die Sozen ja auch ein tatsächlich gutes Programm, nur schade, dass Scholz die Partei unwählbar machte. Ein Typ, der lediglich innerhalb der Christdemokraten und der FDP als gemäßigt links betitelt werden kann passt nun mal nicht zu einem sozialen Wahlprogramm