Russlands Nachschub im Ukraine-Krieg: Zu viele Vaterlandshelden
So erfreulich die russische Mitniederlage in Syrien auch ist: An der verheerenden Situation an der ukrainischen Front wird sie kaum etwas ändern.
S yriens Schreckensherrscher Baschar al-Assad wurde gestürzt und ein Grund dafür ist, dass Russland in der Ukraine feststeckt. Allerdings dürfte der Sieg der Revolution in Damaskus für die Ukrainer die Verteidigung des Donbass nicht einfacher machen. Ja, mehr noch: Der Kreml wird wahrscheinlich einen Teil seiner Truppen in die Ukraine umleiten. Der Abzug wichtiger Kräfte hat in diesen Tagen bereits begonnen.
Zum Zeitpunkt des Angriffs der Rebellen dienten in Syrien nicht mehr als 10.000 russische Soldaten. Das ist um ein Vielfaches geringer als die Verluste des Aggressors in der Ukraine allein im November. Es ist paradox: In der Ukraine sterben mehr Russen als je zuvor, gleichzeitig ist die Bereitschaft, in die Armee zu gehen, größer denn je.
Anfang August dieses Jahres sagte der Chef des Hauptnachrichtendienstes der Ukraine, Kirill Budanow, dass die russische Offensive in eineinhalb bis zwei Monaten verpuffen werde. Im Oktober und November erzielte die russische Seite jedoch bedeutende taktische Erfolge. Währenddessen enthüllte der Chef des Nato-Militärausschusses, Rob Bauer: „Die Bodentruppen in der Russischen Föderation sind zahlenmäßig noch stärker als zu Beginn der groß angelegten Invasion im Februar 2022.“
Das Rinnsal Williger reißt nicht ab. Gleichzeitig gaben russische Regionen laut der Online-Zeitung Werstka 2024 bis Mitte November einen Rekordbetrag für die Identifizierung von Leichen mittels DNA-Analyse aus: umgerechnet 1,7 Millionen Euro. 2023 waren das 952.000 Euro, für 2022 werden 621.000 Euro ausgewiesen.
Dennoch begeben sich immer mehr Männer in die Mahlsteine der „militärischen Spezialoperation“ (SWO). Stirbt ein Soldat, erhält dessen Familie umgerechnet 47.000 Euro, Verwundete haben sofort Anspruch auf 28.000 Euro. In den vergangenen Monaten wurde die Hauptarbeit auf dem Schlachtfeld von Soldaten aus der „Krypto-Mobilisierung“ geleistet, die für den Eintritt in die Armee eine einmalige Zahlung von umgerechnet 9.400 Euro und zusätzlich ein monatliches Gehalt von 1.880 Euro erhalten.
Es geht jedoch nicht nur um Geld. Der Fortschritt an der Front, der seit dem Frühjahr 2024 zu verzeichnen ist, gibt einigen Männern im tiefen Russland, wo Armut und Langeweile an der Tagesordnung sind, die Illusion, das Leben habe einen Sinn und könne aufs Spiel gesetzt werden, um damit zum Sieg des „Vaterlands“ beizutragen. Nicht wenige Russen, jahrzehntelanger Propaganda ausgesetzt, betrachten eine Kalaschnikow auch als Werkzeug der Selbstermächtigung. Die Aussicht auf Sieg wird so zu etwas wie einem Perpetuum mobile des Krieges.
Darüber hinaus ist Stabilität wichtig. Das Regime hat sich standhaft gezeigt. Und diejenigen einfachen Leute, die zunächst gleichgültig abgewartet haben, glauben nun auch, dass die Staatsmacht es ernst meint und noch lange bleiben wird.
Angesichts des Anstiegs der Verluste in diesem Herbst ist eine populäre Hypothese infrage zu stellen: dass Putin bestrebt sei, vor der Amtseinführung von US-Präsident Donald Trump am 20. Januar so viel Land wie möglich zu erobern. Dieser Version zufolge plant der Kreml, diese Gebiete zu annektieren und einem Waffenstillstand nach dem Vorbild der beiden Koreas zuzustimmen.
Aber die derzeitigen Machthaber der Russischen Föderation sind, wie seinerzeit die Bolschewiki, sehr angetan von einem „Maximal-“ und einem „Minimalprogramm“. Und wenn Putin wirklich einen Waffenstillstand als mittelfristige Option zur Beendigung des Blutbads in Betracht zieht, dann handelt es sich eher um einen Plan B. Die Existenz eines freien ostslawischen Landes bleibt eine Bedrohung für die benachbarten Diktaturen Russland und Belarus. Die Behörden in Moskau wollen keinesfalls, dass Kyjiw und die russische Opposition sagen können: „Seht, der demokratische David hat dem autoritären Goliath die Stirn geboten!“
War die „SWO“ zu Beginn als Spaziergang zum Maidan konzipiert, besteht die Strategie des Kremls nun darin, die Streitkräfte der Ukraine im Blut russischer Soldaten zu ertränken. Und man kann nicht sagen, dass Putin die psychologische Konfrontation verliert.
Laut einer russischen Umfrage von Russian Field vom November 2024 waren 53 Prozent der Russen für Friedensverhandlungen und 36 Prozent für eine Fortsetzung der Militäraktionen. Aber für die Machthaber ist die chauvinistische Minderheit von entscheidender Bedeutung. Erstens kann diese nicht selten auch die Mehrheit nachdrücklich dazu auffordern, zu schweigen. Zweitens ist diese Minderheit bereit, eine Handvoll Kryptohelden in den Krieg zu schicken. Eine Diktatur kann eine unpopuläre Politik länger verfolgen als Institutionen, die von der Meinung der Wähler abhängig sind.
Um die Perspektiven dieses Konfliktes einzuschätzen, sollte man vor allem auf die interne Dynamik in den kriegführenden Ländern blicken. Eine fast mystische Übereinstimmung mit der russischen Einstellung zum aktuellen Todeskampf zeigt eine Gallup-Umfrage in der Ukraine ebenfalls vom November: 52 Prozent sind für die Aufnahme von Verhandlungen, 38 Prozent für einen Kampf bis zum Sieg.
Der Anteil derjenigen, die in der Ukraine des Blutvergießens und der Zerstörung müde sind, wächst. Unter diesen Umständen scheint es, dass Putin um jeden Preis ein Vorrücken an der Front anstrebt. Erstens versucht er, den Widerstandswillen der Ukrainer endgültig zu brechen. Zweitens plant er, diejenigen, die auf die Endphase des Krieges warten, aus dem russischen Hinterland in die Armee zu locken. Wer würde nicht bereit sein, anstatt im Zinksarg oder auf Krücken auf eigenen Beinen und sogar als Sieger mit einer Medaille nach Hause zurückzukehren?
Aus dem Russischen von Barbara Oertel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Umgang mit nervigen Bannern
Bundesrat billigt neue Regeln für Cookies
Klimakiller Landwirtschaft
Immer weniger Schweine und Rinder in Deutschland