piwik no script img

Russlands Defensive in der UkraineDie neuen Euphemismen

Russische Politiker*innen, Militärexperten und TV-Pro­pa­gan­dis­t*in­nen ringen um Erklärungen. Von Niederlage und Rückzug sprechen sie nicht.

Russland feiert weiterhin seine russischen Jungs, die sich für die Sicherheit des Landes opfern Foto: Dmitri Lovetsky/ap

Moskau taz | Plötzlich ist „Krieg“ im russischen Staatsfernsehen. Die „militärische Spezialoperation“, wie Russland seinen Überfall auf die Ukraine seit vergangenem Februar euphemistisch bezeichnet, hat sich fast unmerklich aus dem Wortgebrauch der Pro­pa­gan­dis­t*in­nen zurückgezogen. „Woina“, sagt ein Soldat von der Front im Donbass, den ein Reporter des Staatssenders Rossija 1 in seinem Beitrag zeigt. „Woina“, meint ein Fraktionsvorsitzender der Duma in einer Talkshow des staatsnahen Senders NTW. Krieg.

Ein Wort, das zu gebrauchen im Russland dieser Tage Strafermittlungen nach sich ziehen könnte. Doch seit der russischen Defensive in der Ukraine am vergangenen Wochenende ringt das Land samt seinen ultrapatriotischen Politiker*innen, nationalististischen Militärexperten und gehässigen Fern­seh­pro­pa­gan­dis­t*in­nen um Erklärungen. „Lebensbedrohlich“, „extrem gefährlich“, „Krieg ist eben Krieg“, heißt es in den Blogs und den TV-Sendungen.

Von Niederlage und Rückzug sprechen sie freilich nicht. Dafür hat das russische Verteidigungsministerium andere Euphemismen in die Welt gesetzt. Im Gebiet Charkiw finde eine „Operation zur Verringerung und organisierten Verlegung der Truppen“ statt, sagt der Ministeriumssprecher Igor Konaschenkow wie üblich roboterhaft. „Umgruppierung“ ist das neue Schlagwort, wenn es um die russische Strategie an der Front geht, die natürlich nicht „Front“ heißt. Diese sei nötig, um das „Ziel der „Spezialoperation“ zu erreichen: die „Befreiung des Donbass“.

Der Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sagte am Montag, die „Spezialoperation“ werde so lange fortgesetzt, bis die „erklärten Ziele“ erreicht seien. Das Verteidigungsministerium redet von „schweren Verlusten“ der Ukrainer, nennt Zahlen gefallener Soldaten und verlorener Technik des „Feindes“. Was der offenbar hastige Rückzug der russischen Armee aus dem Gebiet Charkiw für Russland bedeutet, sagt offiziell niemand.

„Business as usual“

Es herrscht „Business as usual“, die russische Führung gaukelt den Menschen Normalität vor. Seit Beginn seiner „Spezialoperation“ hat Russlands Präsident Wladimir Putin eine Art Trennung gemacht: Hier der gewohnte, ruhige Alltag der Menschen in Russland, dort die „Aufopferung“ russischer „Jungs“, um „die Sicherheit des Vaterlandes zu schützen“. So ist sein Schweigen zu den russischen Misserfolgen auch jetzt zu sehen – als sei nichts passiert. Als seien die Fehlschläge lediglich Ausreißer in einer nach Plan verlaufenden Operation. Zu vernachlässigen also.

Dafür reden andere. Und das fast schon hysterisch. Das Image des großen, mächtigen Russland sei in Stücke gerissen, schreibt etwa der nationalistische Journalist Jegor Cholmogorow in seinem Telegram-Kanal. Die ruhmreiche russische Armee sei gedemütigt, die Menschen im Donbass seien verraten worden. Ein Telegram-Nutzer namens „Spion, dem niemand schreibt“ nennt die „Ereignisse in Charkiw“ eine „Katastrophe“. Es sei eine „verbrecherische Verantwortungslosigkeit“ derer, die das befohlen hätten.

Manche fordern die Verhaftung von Generälen wegen Hochverrats, andere schreiben von „taktischen Nuklearschlägen auf westliche Gebiete der Ukraine“. Für eine Kapitulation würden „vier bis fünf davon“ reichen, meint der Blogger Roman Romanow. Nach dem ersten würde die ukrainische Führung „laut aufheulen“, nach dem zweiten „nachdenklich werden“. „Zudem würden wir damit eine Sperrzone mit Nato-Staaten erschaffen.“

Die Pro­pa­gan­dis­t*in­nen hätten ein „blutrünstiges Monster“ erschaffen, da sie erst mit Begeisterung die Vernichtung der Ukraine forderten und nun die Erhängung russischer Generäle, sagt der russische Blogger Ilja Warlamow.

Liberale Politologen sprechen plötzlich von einem Kolonialkrieg, den Russland führe

Der Ton in den russischen TV-Sendungen hat sich geändert. Plötzlich sind längst vergessene liberal eingestellte Politologen zu Gast in den Talkshows, die den Zu­schaue­r*in­nen erklären, dass Russland einen „Kolonialkrieg“ führe und damit sich selbst kaputtmache. Selbst Scharfmacher wie Dmitri Kisseljow, Leiter der staatsnahen Medienholding Rossija Segodnja, klingen fast erschöpft. „Eine unfassbar harte Woche war das“, sagt er im sonntäglichen Wochenrückblick „Westi Nedeli“. „Wir kämpfen“, wird dazu eingeblendet, was im Russischen gleichbedeutend ist mit „Wir rackern uns ab“.

Bei „60 Minuten“ im Staatssender Rossija 1 versucht die Moderatorin Olga Skabejewa die Lage schönzureden. „Nichts Übernatürliches“ sei bei Charkiw passiert. „Es ist nur sehr ernst, und wir machen uns Sorgen.“ Wladimir Solowjow erinnert derweil an die „schwierige männliche Arbeit einer Spezialoperation“ und meint: „Alle Panikmacher gehören erschossen. Wie bei Stalin.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

30 Kommentare

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Es ist ein Erfolg gegen die Invasoren, der hoffen läßt. Ob es das Zeichen einer Wende ist, wird die Zukunft zeigen. ERs gibt gute Argumente, die dafür sprechen.

    Jedenfalls warte ich mit Freuden auf den offenen Brief, den Habermas, Flaßpöhler, Schwarzer, Precht, Nuhr, Zeh und Konsorten an Putin schreiben und ihn zur Kapitulation auffordern, um unnötige weitere Opfer zu vermeiden.

  • "„Umgruppierung“ ist das neue Schlagwort . . . "



    Das nenne ich innovative Begriffsfindung! Allerdings kann das auch nur die Überzeugten überzeugen. Ähnlich, wie vor knapp 8 Jahrzehnten, als die deutsche Wehrmacht gezwungen war, "planmäßige Frontbegradigungen" an der damaligen Ostfront vorzunehmen!



    Die im Beitrag genannten wenigen Kritiker müssen Putin nicht weiter stören; die Justiz weiß, was zu tun ist. Eher schon die russischen Oligarchen, denen Putin für ihre Unterstützung wer weiß was versprochen hat und die wohl schon konkrete Pläne mit und in der Ukraine haben. Wenn die von Putin abrücken, ist die Ära Putin beendet!

  • Die Twitter-Meldung der Komomolskaya Prawda über Medwedjews "die Ukraine muss bedingungslos kapitulieren" wurde von ukrainischen Leuten kommentiert (man kann sich denken, wie) sowie von russischen. Die Kommentare der letzteren gingen fast alle in eine Richtung:

    "War der Kerl sich schon wieder am Mittag bereits völlig besoffen?"

    Zwei oder drei Russ*innen, die den Expräsidenten nicht als halluzinierenden Alkoholiker beschimpften, zogen ihn damit auf, dass sein Sohn durch die Sanktionen seine (mit vom russischen Volk gestohlenem Geld gekaufte) Villa in den USA verloren hat.

    In China kann man schreiben, dass die Mandschurei nicht russisch ist, oder sich über Putin lustigmachen, ohne dass das weggefiltert wird.

    Auch in Deutschland ist etwas passiert. Leute trauen sich, den Putin-Apologeten und den CDU/CSU-Fossilisten, die uns dem Regime auslieferten, ihre unverblümte Meinung zu sagen. Vor 2 Tagen war das alles noch sehr zahm und gesittet wie in den unseligen Merkel-Jahren.

    Das plötzliche Einschlagen der Erkenntnis, dass der Kaiser die ganze Zeit nackt war, ist einfach nur zu schön anzuschauen. Menschen wächst plötzlich ein Rückgrat, und sie fangen an, aufrecht zu gehen statt zu kriechen.

    • @Ajuga:

      Alle Parteien, die inVerantwortung waren, haben die Misere verursacht. Schwesig, Gabriel, Scholz etc. Nicht nur die CDU. Wer hat LNG Terminals verhindert? Vor allen Dingen die Grünen mit dem Märchen " die Erneuerbaren" reichen aus. Überstürtzter Ausstieg aus der Kernenergie, stilllegen der Kohlekraftwerke ohne Grundlastersatz war mainstream.

  • Im Zweiten Weltkrieg sprach man auf deutscher Seite gern von "Frontbegradigung". Mal sehen, was die Russen sich noch einfallen lassen...

    • @Volker Scheunert:

      Mein Vorschlag:



      "Dynamische Offensive in den rückwärtigen Raum" für panische Flucht 😁

    • @Volker Scheunert:

      Mein Vorschlag:



      Dynamische Rückwärtsoffensive für panische Flucht 😁

  • Zumindest kann man nicht mehr alles totschweigen, auch wenn dahinter wohl eine Strategie des Regimes steckt.



    twitter.com/i/stat...569070513909022720

  • Wenn selbst die Kommandeure der Konfrontation mit der ukrainischen Zivilbevölkerung nicht gewachsen sind, fragen sich Putins Soldaten, was sie in dem Land sollen. Wiederaufbauen, was Raketen und Bomben aus dem Hinterhalt zerstört haben, Zivilbevölkerung als Geiseln nehmen? Auch die russische Soldateska zweifelt an dieser Spezial-Operation. Und es sei den 'Friedensfreunden', die mit Putin lieber verhandeln wollen ins Lehrbuch geschrieben: Auch auf der anderen (unserer?) Seite ist die Kampfbereitschaft, insbesondere der amerikanischen Bevölkerung, nur bedingt vorhanden, die USA lassen zur Sicherung ihres ökonomischen Einflussbereiches lieber andere kämpfen. Für Kapitalisten sind Kriege eigentlich zu teuer.

  • Wie die FAZ berichtet fordern mehrere Kommunalpolitiker aus st. Petersburg und Moskau den Rücktritt Putins. Sehr mutig, da sie allesamt mit Gefängnis bedroht werden. - Die vielen tausend toten und verletzten russischen Soldaten klagen an.

    • @Konfusius:

      Das bedeutet noch gar nichts. Falls hardliner übernehmen, kann es nur schlimmer werden.

      • @resto:

        ... krasser Gedanke !

    • @Konfusius:

      Die Frage ist, ob die dem Krieg für prinzipiell falsch halten oder nur, wie er geführt wird.

      Überhaupt ist doch auffällig, dass erste Kritik jetzt laut wird - jetzt, wo Russland von der Ukraine ordentlich was auf die Fresse und das Selbstbild der unbesiegbaren, eurasischen Supermacht Risse bekommt.

      • @Suryo:

        Das ist doch immer so, Stauffenberg wäre auch niemals zum Attentäter geworden wenn die deutsche Wehrmacht nicht überall auf dem Rückzug gewesen wäre. Der "Widerstand" um Stauffenberg hat sogar noch von einem Reich in den Grenzen von 1914 mit Absprache der Westmächte fantasiert oder davon geträumt mit den Westmächten gegen die Sowjetunion zu kämpfen.

    • @Konfusius:

      Die vielen tausend Toten und Verletzten der Wehrmacht klagen an.

      Klingt irgendwie komisch.

      • @BluesBrothers:

        Endlich sind wir Deutschen nicht mehr allein - russische Armee = Wehrmacht, Putin = Hitler und Butcha = Auschwitz!

    • @Konfusius:

      Im Spiegel kann man von ähnlichen Aktionen in Moskau lesen. Natürlich wird auch das zunächst nicht viel bringen - aber die Zahl derer, die etwas besser informiert sind, nimmt kontinuierlich zu.

  • „Natürlich hat die Ukraine ein Recht auf Selbstverteidigung, aber auch die Pflicht zur Klugheit, einzusehen, wann man sich ergeben muss.“

    Richard Precht am 11. März 2022

    • @BluesBrothers:

      Danke für das Zitat. Angesichts der Wortmeldungen hier und der Lage der Menschen in der Ukraine wird die ganze Hybris dieses Sofaphilosophen mehr als deutlich.

    • @BluesBrothers:

      Vielleicht wäre es klug von Russland, jetzt einfach sein Ränzlei zu packen und die Panzer nach Hause rollen zu lassen, die Krim wieder an die Ukraine zu geben.



      Und nicht vergessen: Eine Namensliste der Ukraine in Den Haag abarbeiten lassen.

    • @BluesBrothers:

      Natürlich hat die Ukraine ein Recht auf Selbstverteidigung bis an die Grenzen ihres Staatsterritoriums.



      Damit das zügiger gelingt sofortige Lieferung von schweren Waffen Marder, Leopard 2, M1 Abrams.



      Abhandlungen von Richard Precht....Natürlich hat die Ukraine ein Recht auf Selbstverteidigung... bis an die Grenzen ihres Staatsterritoriums.



      Damit das zügiger, gelingt, sofortige Lieferung von schweren Waffen Marder, Leopard 2, M1 Abrams.



      Abhandlungen von Richard Precht ...Klugheit, einzusehen, wann man sich ergeben muss..



      beigelegt.

      • @Ringelnatz1:

        Ich wollte mir Prechts Zitat nicht zu eigen machen, sondern daraufhinweisen, wie absurd die Vorschläge von Precht, Zeh und Schwarzer waren. Ich dachte, dies würde aus dem Zusammenspiel von Zitat und Artikelinhalt (= Ukraine fährt einen Erfolg nach dem anderen ein) deutlich, hätte dies aber offensichtlich doch einordnen müssen. Auch ich bin führ mehr Waffenlieferungen und zusätzlich eine Verschärfung der Sanktionen.

        • @BluesBrothers:

          @JIM HAWKINS



          Kann ick gleich übernehmen!;-)



          Mein Fehler......

    • @BluesBrothers:

      Und das wäre wann?

      Fragen wir Herrn Precht, war es schon von Anfang an so weit.

      Ich freue mich aus Schweigen dieses Talkshow-Philosophen, wenn die Sache für die Ukraine gut ausgeht.

      • @Jim Hawkins:

        Diesen Leuten zu verzeihen und sie davonkommen zu lassen, wäre derselbe schwere Fehler, den die Deutschen (und die USA) nach 1945 begingen, und dessen bittere Früchte wir noch in unserer Zeit - in Form von NPD, AfD Werteunion und NSU (und der MAGA/Trump-GOP) - zu fressen gezwungen sind.

        §140(1) und/oder (2) ivM Artikel 18 GG. Und zwar mit aller Härte des Gesetzes.

        Denn wer seine Meinungsfreiheit missbraucht, um öffentlich einen genozidalen Angriffskrieg schönzureden und Appeasement gegenüber dem übelsten Faschisten unserer Zeit zu fordern, hat seinen Platz in einer zivilisierten Gesellschaft verwirkt. Ohne Wenn und Aber.

        • @Ajuga:

          Die Moderation: Bitte halten Sie sich an die Netiquette und bleiben sachlich ohne Beleidigungen.

      • @Jim Hawkins:

        Ich wollte nur zeigen wie fatal es gewesen wäre, auf Personen wie Precht, Schwarzer und Zeh zu hören, welche die Ukraine sofort für die eigene Bequemlichkeit opfern wollten.



        Ich dachte, das würde sich aus der, sagen wir mal Diskrepanz zwischen Artikel und Zitat ergeben, aber offenbar war ich da zu sehr in meiner eigenen Vorstellung gefangen und hätte eine kurze Einordnung mitliefern sollen.

        • @BluesBrothers:

          Also, ich hab's verstanden und bedanke mich für das schöne Precht-Zitat!

        • @BluesBrothers:

          Mein Fehler.

          Ich lese manchmal einen Satz, rege mich auf und lege los, ohne die Einordnung im nächsten Satz bemerkt zu haben.

          Manchmal weiß ich auch erst, was ich denke, wenn ich höre, was ich sage.

          Nichts für ungut.

          • @Jim Hawkins:

            "Manchmal weiß ich auch erst, was ich denke, wenn ich höre, was ich sage."



            Hahaha, sehr schön! Kennich.