Geflüchtete aus dem Gebiet Kursk registieren sich in der gleichnamigen Stadt, um humanitäre Hilfe zu bekommen Foto: Nanna Heitmann/The New York Times/laif

Russischer Angriffskrieg gegen Ukraine:Auf der anderen Seite

Im russischen Kursk heulen seit dem Vormarsch der ukrainischen Armee die Sirenen im Stundentakt. Über eine Stadt, die nicht weiß, wie ihr geschieht:

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Aus kursk, 16.8.2024, 19:43  Uhr

Hierher kommen sie jeden Abend, setzen sich auf die schwarzen Stühle vor den Eingang des hellen Klinkerbaus. Ljubow und Jelena lehnen sich zurück und lachen manchmal so laut, dass ihre Goldzähne aufblitzen. „Hier draußen muntern wir uns gegenseitig auf“, sagt die 69-jährige Jelena. „Sobald ich wieder im Zimmer bin, kommt die Trauer. Die Erinnerung an die Einschläge, an die Flucht, die zurückgelassenen Tiere.“ Ljubow blickt zu Boden. „Ich kann kaum schlafen, höre die Drohnen, zucke bei jeder Sirene zusammen“, sagt die 68-Jährige.

Ljubow und Jelena aus Sudscha, nur neun Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt, sind Flüchtlinge. Im eigenen Land. Im Studentenwohnheim der Agraruniversität in Kursk haben sie einen Platz bekommen. Es gibt dreimal täglich zu essen, sie haben ein Dach über dem Kopf. „Hier schenkt man uns genug Aufmerksamkeit. Aber zu Hause hat sich unser Staat einen Dreck um uns gekümmert. Wir wurden einfach tagelang unserem Schicksal überlassen“, klagt Ljubow und macht sich Sorgen: „Das neue Semester fängt bald an. Wo bringt man uns hin, wenn die Studenten ihre Zimmer beziehen? Das sagt uns keiner.“

Die Rentnerinnen sind – wie alle Geflüchteten und Getöteten – Opfer eines Kriegs, den Wladimir Putin mit der Ausrufung seiner „militärischen Spe­zial­operation“ am 24. Februar 2022 der Ukraine erklärt hat. Ihr Präsident, den sie loben, schätzen, nichts auf ihn kommen lassen. Seit zehn Tagen erobert die Ukraine nun russisches Territorium. Sie rückt mit der regulären Armee in der Region Kursk Ort um Ort vor, zerbombt Häuser, zerschießt Autos, tötet Menschen. Sie tut das, was die russische Armee seit zweieinhalb Jahren mit aller Härte dem Nachbarland zufügt und als „Befreiung“ bezeichnet.

Mehr als 140.000 Rus­s*in­nen aus dem Grenzgebiet sind auf der Flucht. Die meisten von ihnen finden in der Regionalhauptstadt Kursk – sieben Autostunden südöstlich von Moskau, etwa 430.000 Ein­woh­ne­r*in­nen – Unterschlupf. Täglich werden weitere russische Gebiete zur Evakuierung aufgefordert. „Standortwechsel an sicherere Orte“, nennt das der Kreml. Der Krieg ist längst auf russischem Gebiet.

Mehr Macht

Von „Krieg“ aber spricht in Kursk kaum einer. Der Staat nennt „die Lage“, wie auch in der benachbarten Grenzregion Belgorod, schlicht „eine Ausnahmesituation föderalen Charakters“ und hat auf dem gesamten Gebiet eine „Antiterroroperation“ ausgerufen. Dadurch erhalten die Geheimdienste mehr Macht. Jour­na­lis­t*in­nen brauchen eine Spezialgenehmigung, um in die Region zu reisen.

An den Zufahrten ins Gebiet und in die Stadt werden zuweilen Autos zur Kontrolle herausgewunken, in Kursk patrouillieren Polizisten und Nationalgardisten in voller Montur. Was die „Ausnahmesituation“ für die Menschen bedeutet, begreift selbst das lokale Regierungspersonal kaum. „Stündlich ändern sich hier die Regelungen. Wir nehmen es, wie es kommt“, sagt einer aus der Gebietsverwaltung.

Kursk gibt sich entspannt. Die Menschen sitzen in der Sonne, beim fast schon stündlichen Sirenengeheul halten lediglich Busse an, die Passagiere gehen weiter ihrer Wege. „Warum sollte ich mir Sorgen machen? Die Kämpfe finden ja nicht hier statt. Und die Sirenen, nun ja, die hören wir schon lange“, sagt eine Apothekerin im Zentrum.

Unweit davon stehen Männer, Frauen und Kinder Schlange. Die Regionalstelle des russischen Roten Kreuzes hat hier einen Ausgabepunkt für humanitäre Hilfe eingerichtet. „Die Ersten, die kamen, hatten nichts. Sie fragten einfach nach Socken und Unterhosen“, erzählt Anastasia Ostalzewa, die stellvertretende Leiterin. Die Bedürftigen müssen sich online registrieren und bekommen später Konserven, Zucker, Buchweizen, Reis, Tee, Kekse, Klopapier, Shampoo, Zahnpasta ausgehändigt. An der Bushaltestelle direkt davor ist kein Durchkommen.

Flucht im Schiguli

„Oma, schau, ich habe was für dich, das wird dir stehen“, ruft ein Mädchen und zeigt seiner Großmutter eine rötliche Bluse, die an einer Stange hängt. Die Großmutter reagiert schroff: „Ich brauche das alles nicht. Ich will einfach nur nach Hause.“ Alle hier wollen das. Wollen in ihre Häuser zurück, zu ihren Hunden, Schweinen, Kühen. Wollen auf ihre Höfe. „So schnell kommen wir aber nicht mehr dorthin“, sagt Alexander.

Am Tag fünf des ukrainischen Vorstoßes war er in seinem Schiguli – „über die Felder von den Drohnen davon“ – aus Sudscha geflüchtet. „Ich wäre geblieben, aber die Kinder …“ Nun sitzen der Neunjährige und die 13-Jährige in einer Kursker Wohnung und sind genauso ratlos wie die eigenen Eltern. „Ich habe kaum Hoffnung. Das hier ist für lange“, sagt Alexander, vier Essenspakete und die Medikamententüte für die Schwiegermutter in der Hand. Auf seinem roten T-Shirt steht „SSSR“, die russische Abkürzung für die Sowjetunion.

Viele in der Stadt helfen. Lebensmittelläden geben Essenspakete heraus, Mitglieder von Boxklubs und Kunstschulen packen etwas für die Erstversorgung zusammen. Schnell bilden sich Schlangen vor den Ausgabestellen. Vor dem „Häuschen der Wohltaten“ in der zentrumsnahen Belinski-Straße dürften sie am längsten sein. Die Ersten stellen sich hier bereits um 5 Uhr morgens an. Die Letzten stehen auch weit nach Anbruch der Dunkelheit noch dort.

„Für ein Kind, vier Jahre alt, schnell ein Paket her. Das habe ich doch schon vor 20 Minuten weitergegeben, Mann ey!“, schreit eine Freiwillige und übergibt einer Frau und einem Mann eine Matratze und zwei Kissen. „Ich warte auf das Kinderpaket!“, drängt sie ihren Mithelfer.

Gurken und Babywindeln

Der Hof ist voller Tüten und Kartons, draußen an den Tischen sitzen die Freiwilligen in leuchtenden Westen und schreiben Passdaten ab. Jemand schubst, ein anderer schreit. Die Hel­fe­r*in­nen reichen Suppe, verteilen Wasser. Immer wieder halten Autos vor dem „Häuschen“ an, machen die Kofferräume auf und holen einmal Gurken, einmal Klopapier, einmal Babywindeln heraus. „Swetlana, wohin damit?“

„Putin wird uns retten“, sagt Ljudmila in ihrem Zimmer für Geflüchtete Foto: Inna Hartwich

Swetlana Kosina kann ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Die Überforderung. „Ich schlafe höchstens zwei Stunden, habe angefangen zu rauchen, mein Zweijähriger musste vor ein paar Tagen seinen Geburtstag ohne mich feiern“, sagt die Leiterin des „Häuschens“ in einer kurzen Pause auf einer Bank weiter weg von den Massen.

Vor neun Jahren hatte die 34-Jährige eine Art Suppenküche für Obdachlose in Kursk gegründet. Als die Kämpfe um Sudscha begannen, fuhr sie hin, brachte Leute heraus. „Sie hatten nichts, und wir hier hatten ein paar Kleider, etwas zu essen.“ Das sprach sich schnell herum. Nun stehen täglich bis zu 3.000 Familien in der Belinski-Straße an. „Niemand hat uns gehört, als wir sagten, dass so etwas passieren kann. Nun ist es passiert. Aber unsere Jungs, sie werden uns retten.“

„Unsere Jungs“, das ist die russische Armee, auf die setzt in Russland nicht nur in Kursk nahezu jeder. „Wird schon, müssen nur ein bisschen warten“, sagt Nikolai vor der Ausgabestelle des Roten Kreuzes und klingt sogleich wie eine Abendsendung im russischen Staats-TV. Die „Biolabore der Nato“, „Selenskyj, der Clown“, „wir haben alles unter Kontrolle“, aus Nikolai stürzt es nur so heraus.

Voller Trotz

„Diese Nazis, diese ukrainischen Banditen sollte man alle niedermetzeln. Haben wir sie etwa besetzt? Nein! Uns geht es um Menschen. Aber ihnen geht es um die Vernichtung unseres Volks, unseres Russlands. Wir haben allerdings einen klugen, verständnisvollen Präsidenten. Er wird das alles in Ordnung bringen“, ereifert sich der Rentner. „Wir werden siegen!“ Es ist ein Satz, den viele Geflüchtete in Kursk wiederholen. Sie klingen dabei wie voller Trotz, als bräuchten sie diese Worte, um sich selbst zu beruhigen.

„Wir leben im freiesten Land der Welt mit dem besten Präsidenten der Welt. Wir werden darauf warten, dass er uns rettet, er wird uns nie im Stich lassen“, sagt Ljudmila im Übergangswohnheim an der Agraruniversität. Zwei Betten stehen in ihrem Zimmer, Insulin liegt auf dem Nachttischchen. Als die 66-Jährige mit ihrem kranken Sohn vor den Raketen über Sudscha aus dem Keller ihres Hauses floh, blieb keine Zeit mehr, etwas mitzunehmen.

„Wir waren ganz auf uns gestellt.“ Wo war der rettende Staat? Ljudmila bleibt stumm. „Schauen Sie doch, wie friedfertig unser Präsident ist! Nun sehen Sie doch!“ Den Gedanken, dass sie ohne die „Spezialoperation“ nicht hier säße, will sie gar nicht erst zulassen. Ihr Leid habe „die Welt zu verantworten, die sich gegen Russland bewaffnet“ habe.

„Wir stehen voll hinter unseren Jungs, sie tun eine gerechte Sache“, sagt auch Larissa am „Häuschen der Wohltaten“. Eine Matratze brauche sie, auf dem Fußboden der Verwandten in Kursk sei es zu hart. „Warum müssen wir jetzt in diesem Albtraum leben? Es sind Bestien, die da über uns hergefallen sind.“

Ihr Mann, das Käppi mit einem Z in russischer Trikolore tief ins Gesicht gezogen, brüllt vom „Genozid am russischen Volk“. – „Sei still, Wolodja“, zischt Larissa ihn an. – „Wir werden siegen, wir werden in wenigen Tagen zu Hause sein“, ruft er. Larissa schüttelt den Kopf. „Unser Zuhause haben wir wohl für immer verloren.“ Über Kursk heulen die Sirenen wieder auf.

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