Russischer Anarchist verteidigt Ukraine: „Wir kämpfen gegen Putins Regime“
Er und seine Genossen wollen die freie Gesellschaft an der Front verteidigen: Gespräch mit einem russischen Anarchisten, der auf ukrainischer Seite kämpft.
taz: Herr Leschin, warum beteiligen sich Anarchisten in der Ukraine am Krieg?
Ilya Leschin: Dafür gibt es viele Gründe. Die Anarchisten in der Ukraine sind keine homogene Gruppe. Das liegt unter anderem daran, dass es neben lokalen Aktivisten auch ziemlich viele Menschen gibt, die in den vergangenen Jahren wegen politischer Repression aus Belarus und Russland in die Ukraine gekommen sind. Das bedeutet nicht notwendigerweise, dass es große politische Unterschiede zwischen ihnen gibt, aber ich denke, dass sich daraus ein Unterschied in den Perspektiven ergibt. Es gibt verschiedene Motive und Gründe, an dem aktuellen Konflikt teilzunehmen.
Ja, aber aus ideologischer Sicht ist es doch ziemlich absurd, dass Anarchisten so etwas wie die staatliche Souveränität in einem Krieg verteidigen, meinen Sie nicht?
Ich glaube wirklich nicht, dass wir das tun. Uns geht es nicht darum, die Souveränität des Staates zu verteidigen. Wir wollen die Existenz der Gesellschaft verteidigen. Die Invasion der russischen Diktatur droht, die gesamte Gesellschaft, den gesamten Lebensstil und alle Freiheiten zu zerstören. Am Beispiel der Städte, die bereits von russischen Kräften erobert wurden, können wir sehen, wie Millionen Menschen vertrieben wurden. Tausende von Menschen werden verhaftet, gefoltert. Wie das politische Regime in diesen, wie sie es nennen, „befreiten Gebieten“ handelt, kann man nicht anders als totalitäre Diktatur beschreiben. Für uns ist das ein natürlicher Grund, uns zu wehren. Für die Regime von Wladimir Putin und Alexander Lukaschenko steht in diesem Kampf ihr Schicksal auf dem Spiel. Wenn sie verlieren, werden sie besiegt. Dann gibt es für uns viele Möglichkeiten, dass sich in unseren Ländern etwas wesentlich ändert. Und wenn wir etwas Freieres sehen wollen, etwas, das unseren libertären, linken oder wie auch immer gearteten sozialistischen Idealen näher kommt, dann müssen wir zuallererst diesen Regimen entgegentreten. Im Kampf gegen diese Regime kann unsere politische Alternative dazu geboren werden, in Form von sozialer Gerechtigkeit, Freiheit und Selbstverwaltung und so weiter.
Der Mann
Ilya Leschin (Pseudonym) kämpft mit den ukrainischen Streitkräften im Donbass. Er gehört zu einem Widerstandskomitee, in dem kämpfende Anarchisten in der Ukraine organisiert sind. Das Gespräch fand am Telefon statt. Nicht alle Angaben lassen sich unabhängig überprüfen.
Die Bewegung
Berichten zufolge kämpfen mehrere Dutzend Anarchisten gegen die russische Invasion. Der zivile Zweig der Bewegung nennt sich Solidarity Collectives. Die Organisation sammelt Spenden und unterstützt kämpfende Anarchisten mit Ausrüstung.
Wie viele Menschen sind in der Ukraine denn aktuell in anarchistischen Gruppen aufgestellt?
Viele haben sich der Territorialverteidigung angeschlossen. Sie sind damit Teil jener ukrainischen Streitkräfte, die weniger als professionelle Armee aufgestellt sind, sondern eher im Stil einer Miliz. Auch die Territorialverteidigung wird vom Staat organisiert, das möchte ich klar sagen. Manchmal kursieren Mythen über selbst organisierten Guerilla-Widerstand oder so etwas. Wie viele Anarchisten kämpfen, weiß ich wirklich nicht. Ich erinnere mich an mehrere Dutzend. Es gab auch eine antiautoritäre Einheit in der Territorialverteidigung, die aber nicht nur wegen bürokratischer Hürden nur für vier oder fünf Monate zusammenhielt.
Ist die Zwangsrekrutierung für Männer noch ein Thema für Sie? Innerhalb von anarchistischen oder insgesamt bei jungen Menschen wird es doch daran Kritik gegeben haben, oder?
Ja, sicher. Und ich persönlich bin auch kritisch gegen die Zwangsrekrutierung, aber ich würde sagen, ich habe eine Kompromissposition, weil ich die Notwendigkeit sehe, das Übel mit den Werkzeugen, die wir haben, zu konfrontieren. Es gibt viele Menschen, die gegen diese Verpflichtung sind, und ich habe viele männliche Genossen, die sich stattdessen in zivilen Strukturen engagieren und die nicht gezwungen werden, zur Armee gehen. Ich weiß nicht, wie genau dieser Prozess organisiert wird, ich bin selbst an der Front etwas isoliert davon.
In Deutschland gibt es eine andauernde Debatte über die Lieferung von Waffen in die Ukraine. Nach längeren Diskussionen hatte die Bundesregierung zuletzt entschieden, Leopard-2-Panzer in die Ukraine zu liefern. Macht Sie das glücklich?
Glück ist ein großes Wort. Meine Genossen und ich sind sehr kritisch gegenüber dem westlichen Imperialismus, den westlichen Interventionen in unserem Leben und in verschiedenen Teilen der Welt. Aber unter den derzeitigen besonderen Bedingungen halte ich diesen Schritt für sinnvoll und fortschrittlich.
Was meinen Sie mit den westlichen imperialistischen Mächten? Warum sehen Sie diese im ukrainischen Kontext kritisch?
Nein, im ukrainischen Kontext ist es meiner Meinung nach viel richtiger, von russischem Imperialismus zu sprechen. Die westliche Intervention ist hier in Form der internationalen Währungsinstitutionen zwar offensichtlich, die eine neoliberale Politik im ukrainischen Staat vorantreiben. Aber wenn wir die Zerstörung und den ultimativen Autoritarismus sehen, der im Moment von den putinistischen Invasoren betrieben wird, dann scheint es sehr schräg, den westlichen Imperialismus zu kritisieren. Wenn einige Leute dich mit irgendwelchen Geldreformen ausbeuten wollen und die anderen gekommen sind, um dich zu töten und zu versklaven, dann musst du natürlich die Waffen von allen Leuten nehmen, die sie dir anbieten. Ich denke, dass es für das westliche progressive und linke Publikum wichtig ist zu erkennen, dass es mehr als eine imperialistische Kraft in dieser Welt gibt. Nicht nur die USA oder der sogenannte kollektive Westen, sondern auch der russische Staat, der türkische Staat oder was auch immer sind Imperialisten und sollten für eine korrekte Analyse als solche anerkannt werden.
Linke Menschen in Deutschland sagen auch, dass die territoriale Integrität Russlands und seine Grenzen durch die Aktivitäten der EU und der Nato in der Ukraine bedroht waren. Glauben Sie, dass die EU und die Nato den Einmarsch Russlands vor einem Jahr in die Ukraine provoziert haben?
Nein, nein. Für mich klingt das nach einer absoluten Verschwörungstheorie. Zunächst einmal glaube ich nicht, dass territoriale Integrität ein relevanter Wert für progressive Linke sein sollte, aber lassen wir diese Frage mal beiseite. Die Antwort ist Nein. Seit 2014 ist es der russische Staat, der die ukrainische territoriale Integrität angreift. Das ist ziemlich klar. Sie haben seit 2014 viele Gebiete annektiert, und jetzt haben sie versucht, das ganze Land zu erobern. Das ist Goebbels-Mentalität, wenn man einen aggressiven Krieg führt und sich selbst als Opfer stilisiert. Das ist wirklich lächerlich.
Manche Deutsche halten sich auch wegen der deutschen Geschichte zurück, im Krieg politisch Stellung zu beziehen. Sowjetische Streitkräfte spielten eine zentrale Rolle darin, Nazideutschland zu besiegen. Heute sagen vor allem ältere Linke, dass Deutschland vorsichtig sein sollte, sich in der Ukraine zu engagieren, weil Deutschland für viele Gräueltaten in der Region verantwortlich ist. Was halten Sie von dieser Position?
Auch das finde ich nicht richtig. Das ist einfach nicht die Geschichte von vor mehr als 80 Jahren, die sich hier gerade abspielt. Und wenn wir uns die Geschichte des Zweiten Weltkriegs anschauen, dann hat die Ukraine einen hohen Blutzoll gezahlt und wurde von den Nazis sehr, sehr stark zerstört. Es war die Sowjetunion, die sich Nazideutschland entgegenstellte. Und die Ukrainer spielten dabei keine geringere Rolle als die Russen. Das ist auch eine imperialistische, kolonialistische Logik, wenn wir sagen, oh, es gab eine Sowjetunion, und das ist ein Synonym für Russland. Aber ich bin kein Fan davon, mit dieser Geschichte zu spielen, denn der Sowjetstaat war auch sehr problematisch in Bezug auf die Freiheiten des Volkes und die soziale Gerechtigkeit und so weiter. Es ist also ein völlig falsches Argument, dass die Geschichte die deutsche Gesellschaft davon abhalten sollte, der ukrainischen Gesellschaft zu helfen, sich auf ihrem Gebiet gegen die aggressive Invasion der Imperialisten zu verteidigen. Vielmehr würde ich sagen, das ist eine Verpflichtung. Wenn die deutsche Gesellschaft sich für diesen Teil der Welt verantwortlich fühlt, dann sollte sie natürlich den Menschen die Möglichkeit geben, sich gegen diese Invasion zu schützen.
Sie sind selbst Russe, leben in der Ukraine und kämpfen mit den ukrainischen Streitkräften. Warum?
Ich musste mein eigenes Land verlassen wegen politischer Repression, wegen der direkten Bedrohung durch Folter und Inhaftierung, wegen meiner revolutionären Aktivitäten. Und für mich, sowohl persönlich als auch politisch, war es einfacher, eine neue Basis in der Ukraine zu finden, wo meine Sprache verstanden wird, wo viele meiner Genossen bereits leben. Und wo ich nicht so von meiner Heimat abgeschnitten bin. Mit dem Krieg finde ich mich wieder an der Spitze des Kampfes gegen Putins Regime, den ich auch viele Jahre in Russland geführt habe.
Sie sind sicherlich noch in Kontakt mit aktivistischen Gruppen in Russland. Zu Beginn des Krieges konnten wir Bilder von Demonstrationen dort sehen. Heute scheinen diese Proteste zum Erliegen gekommen zu sein. Sehen Sie Chancen, dass die russische Zivilgesellschaft dem Krieg von innen heraus entgegenwirken kann?
Ja, ich sehe solche Chancen. Der friedliche Protest wurde wirklich gebrochen. Aber wir sehen einige, ich würde sagen: Guerilla-Aktionen, Sabotage. Und wir sehen auch, dass Anarchisten und Revolutionäre daran beteiligt sind. Anarchokommunistische Kampforganisationen verüben zivile Sabotageaktionen gegen militärische Objekte in Russland. Es ist sehr gut, dass unter dieser Masse anonymer Guerillas Anarchisten eine entscheidende Rolle spielen. Auch wenn Druck von den staatlichen Parteien sehr, sehr hart ist.
Sollten nicht Anarchisten aktiv Friedensgespräche mit Russland vorantreiben?
Ich denke, dass die russische Invasion zurückgeschlagen werden sollte. Es ist absolut legitim, wenn sich Menschen auch mit Waffengewalt verteidigen. Ich glaube auch, dass dies eine Perspektive für soziale Veränderungen innerhalb Russlands eröffnen wird. Nachdem die Besatzer besiegt sind, denke ich, dass Friedensgespräche oder was auch immer möglich sein können. Im Moment glaube ich nicht, dass ein Kompromissabkommen mit einem autoritären Regime wirklich fruchtbar sein kann. Die Diktatur sollte hier besiegt werden. Das ist der fortschrittliche Schritt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Absagen vor Kunstsymposium
Logiken der Vermeidung