Russische Oppositionelle: Kein Deutschlandbezug, kein Visum
Für geflüchtete Russ:innen werden zu wenig Aufenthaltsgenehmigungen ausgestellt. Ein Grund: fehlende Beziehungen zu Deutschland.
Das sind Visa, die nach Einzelfallprüfung „zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland“ vergeben werden. In 136 Fällen erklärte die Bundesregierung die Aufnahme weiterer russischer Staatsangehöriger. Dabei handelt es sich um 86 individuell gefährdete Personen und 50 Familienangehörige. Bevor das Verfahren für die Beantragung eben dieses Visums am 18. Mai beschleunigt wurde, vergab das Innenministerium seit Kriegsausbruch acht solcher Visa an russische Staatsbürger:innen.
Clara Bünger, fluchtpolitische Sprecherin der Linksfraktion sagt, sie freue sich über die Aufnahmezusagen. Es seien aber zu wenige, denn: „Es scheint zugleich viele Ablehnungen zu geben. Das habe ich zumindest von betroffenen Aktivist:innen gehört, mit denen ich in Kontakt stehe. Von einem großzügigen Schutzangebot, das dringend erforderlich wäre, kann daher aus meiner Sicht keine Rede sein.“ Menschen, die sich in Russland offen gegen den Krieg in der Ukraine äußern, drohen bis zu 15 Jahre Haft.
Visa-Voraussetzung: Kontakte nach Deutschland
Was die russischen Antragstellenden irritiert: Einige Betroffenen berichten, sie müssten für ein Visum Verbindungen nach Deutschland nachweisen. Viele können das nicht und erhalten deshalb eine Ablehnung. Für Clara Bünger ist das nicht nachvollziehbar: „Wo sollen denn Menschen hin, die in Russland beispielsweise gegen den Krieg in der Ukraine protestiert haben, denen es aber an Kontakten in europäische Länder fehlt?“
Zwei Geflüchtete, die sich in ihrer Not an die Bundestagsabgeordnete gewendet haben, sind Timofei Andronow (25 Jahre alt) und seine Mutter Marina Perechoschenzewa (60 Jahre). Seit drei Monaten sind sie in Georgien. Sie leben in einem Hostel in der Hauptstadt Tiflis. „Als wir eine Wohnung mieten wollten, sagten sie uns, sie vermieten nichts an Russen“, erzählt Marina im Video-Telefonat. Sie und ihr Sohn organisierten seit Jahren Proteste in ihrer Heimatstadt Wolgograd. Sie waren Teil einer Regionalgruppe der Verbündeten von Alexej Nawalny, dem inhaftierten russischen Oppositionellen. Im Juni 2021 stufte das Moskauer Stadtgericht diese Gruppierungen der öffentlichen Bewegung Nawalnys als extremistisch ein. Schon seit 2018 wurde Timofei Andronow von der Polizei verfolgt, berichtet er.
Keine Lösung für ablaufende Tourist:innen-Visa
In Georgien fühlen sich die beiden nicht willkommen. „Wir sind überall Verstoßene“, sagt Marina und muss weinen. Die Ansage von Nancy Faeser macht ihr neue Hoffnung. Am Mittwoch können sie ihren Fall in der Botschaft vorstellen. Denn am Montag kam endlich nach zwei Monaten die erste Rückmeldung: Eine Einladung zu einem halbstündigen Gespräch. Alexej Schwarz, russischer Oppositioneller und seit einem Jahr politischer Geflüchteter, erklärt, dass das der normale Ablauf ist: „Erst schreibt man der Botschaft, dann soll man den eigenen Fall genauestens in einem Gespräch erklären.“ Das Innenministerium bestätigt dieses Verfahren. Sobald es keine weiteren Nachfragen zu den Einzelfällen gibt und die Visa bewilligt wurden, werden sie innerhalb weniger Arbeitstage ausgestellt.
Doch die Berichte über Visa-Absagen anderer Geflüchtete aufgrund fehlender Verbindungen zu Deutschland verunsichern auch Marina Perechoschenzewa und Timofei Andronow. Sie können keine Kontakte nachweisen. Alexej Schwarz, der selbst seit Januar in Deutschland lebt, versteht das auch nicht: „Was hat eine Verbindung zu Deutschland damit zu tun, dass sie politische Geflüchtete sind?“ Er berichtet, dass er einiger solcher Absagen mitbekommen hat. Das Innenministerium erklärt dies mit der Formulierung des Gesetzes.
Seit dem 24. Februar 2022 hat das Auswärtige Amt 510 Schengenvisa an besonders gefährdete russische Staatsangehörige vergeben. Mit diesem konnten sich Russ:innen drei Monate in Deutschland aufhalten. Diese Aufenthaltstitel laufen demnächst ab. Die geflüchteten Russ:innen könnten mit Ablauf des Visums ihre Arbeitserlaubnis verlieren. Clara Bünger sagt dazu: „Hunderte Betroffene, deren Tourist:innen-Visa bald ablaufen, werden so absehbar ins Asylverfahren gedrängt. Das möchten sie aber nicht, weil sie dann vorerst nicht arbeiten können – oder sie müssen wieder ausreisen.“ Viele der Betroffenen sind Journalist:innen und andere Medienschaffende. Bei einem Asylverfahren müsste die Aufenthaltsgenehmigung neu geklärt werden, aber die Betroffenen wollen weiterarbeiten. Denn gerade jetzt wollen sie für russische oppositionelle Medien Berichte erstatten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Absagen vor Kunstsymposium
Logiken der Vermeidung