Russen fliehen nach Georgien: Sie sind nicht erwünscht
Seitdem Wladimir Putin eine Teilmobilmachung verkündet hat, fliehen Tausende Männer nach Georgien. Ein Bericht von der Grenze.
Es ist eine Invasion der besonderen Art an diesem Mittwoch in Werchnij Lars, dem einzigen Grenzübergang zwischen Russland und der Südkaukasusrepublik Georgien – sie ist friedlich und wird mit letzter Kraft angegangen. Nur wenige hundert Meter hinter den georgischen Kontrollposten quälen sich Menschen in kleinen Gruppen mit Rucksäcken, Taschen und Rollkoffern die steile Straße hinauf.
Sie können sich kaum auf den Beinen halten, viele haben Fahrräder dabei. An einem Betonquader in Sichtweite, der etwas unterhalb der Straße am Fuße des Hochgebirges steht, hat jemand mit roter Farbe „Tiflis“ geschrieben, ein Pfeil zeigt nach links. Ein georgischer Polizist verliert die Nerven. „Aus dem Weg, machen Sie die Fahrbahn frei“, brüllt er, als ein paar Autos passieren wollen, und fuchtelt mit den Armen.
Normalerweise überqueren hier täglich 5.000 bis 6.000 Russ*innen die Grenze zwischen der russischen Teilrepublik Nordossetien und Georgien. Doch seitdem Russlands Präsident Wladimir Putin am 21. September eine Teilmobilmachung verkündet hat, sind es laut dem georgischen Innenminister Vakhtang Gomelauri doppelt so viele. Knapp 6.000 Trucks und Pkws stauen sich auf einer Länge von über 20 Kilometern in Nordossetien und warten auf Einlass.
Filip Morosow hat es geschafft. Er lehnt, sichtlich erschöpft, an einer Leitplanke, neben sich ein Fahrrad mit zwei Taschen. Der 32-jährige Physikingenieur aus Moskau hat, wie die meisten hier, eine Odyssee hinter sich. Flug von Moskau nach Sotschi, von dort aus 18 Stunden mit dem Zug nach Wladikawkas, Hauptstadt von Nordossetien. Schließlich zwei Tage warten an der Grenze.
Durchs Niemandsland
Damit liegt Morosow noch gut im Rennen. Denn wer wie lange dort ausharren muss, ist eine Frage des Portemonnaies. Für den Escortservice an der Schlange vorbei bis zu den nordossetischen Grenzposten verlangen umtriebige Nordosseten für einen Platz im Minibus pro Kopf bis zu 50.000 Rubel (umgerechnet knapp 900 Euro). Danach steigen viele auf Fahrräder und Roller um, der Handel mit dieser Art Fortbewegungsmittel floriert. Oder sie gehen durch das Niemandsland bis zu den georgischen Checkpoints einfach zu Fuß weiter.
Eigentlich habe er Russland schon viel früher verlassen wollen, erzählt Morosow, doch er habe erst genügend Geld auftreiben müssen. Kurz vor seiner Flucht sei ihm mehrmals der Strom abgestellt worden. „Das machen sie, um die Leute dazu zu bringen, ihre Wohnung zu verlassen und ihnen dann den Einberufungsbescheid übergeben zu können. Dieser Krieg ist grundlegend falsch.
Der Kreml behauptet, die Ukraine habe Russland angegriffen. Dabei sind es doch wir, die Truppen in die Ukraine geschickt haben. Das alles ist der schiere Wahnsinn.“ Wie es jetzt weitergeht, weiß Morosow nicht. Vielleicht bleibt er in Georgien. „Aber ich habe auch Freunde in Holland“, sagt er.
Wenige Meter weiter steht ein junger, hochgewachsener Mann vor einem niedrigen Holztisch und verteilt Wasserflaschen sowie Lebensmittel an die Ankömmlinge. Er warte schon fünf Tage hier, da könne er sich auch nützlich machen, erzählt Maxim. Der 22-Jährige, der seinen Nachnamen lieber nicht nennen möchte, ist mit einem armenischen Bus aus Moskau gekommen, doch der hängt jetzt an der Grenze fest. Wann es weiter nach Jerewan geht, ist unklar.
„Als die Mobilmachung angekündigt wurde, wusste ich, dass ich jetzt meine Tasche packen muss“, sagt er. Sein Einberufungsbescheid müsse schon da sein, doch habe er derzeit weder Internet noch eine SIM-Karte. In Nordossetien seien die Busse immer wieder von der Verkehrspolizei angehalten worden und die Mitfahrenden hätten zahlen müssen.
„Die Männer wurden aufgefordert auszusteigen und ihre Pässe wurden kontrolliert. Immer wieder haben sie uns gefragt: Wo wollt ihr hin? Und dann wurde gesagt, dass die Grenze geschlossen sei. Doch das waren Falschinformationen“, sagt Maxim. Für die Fahrt bis Werchnij Lars sei fast sein gesamtes Geld draufgegangen. „Jetzt habe ich noch 5.000 Rubel und das war’s. Aber ich hoffe auf Hilfe von Bekannten in Jerewan“, sagt er.
Julie, 67, jobbt nahe der Grenze
So weit wie Maxim dürften viele Russ*innen schon bald gar nicht mehr kommen. Mehrere Länder haben die Einreise für Russ*innen erschwert, seit Freitagfrüh auch Finnland. Auch der Gouverneur von Nordossetien, Sergej Menjailo, verkündet am Mittwoch, dass die öffentliche Ordnung ob des Ansturms nicht mehr gewährleistet werden könne. Private Pkws aus anderen Teilen der Russischen Föderation dürfen jetzt nicht mehr nach Nordossetien einreisen.
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Davon ausgenommen sind Fahrzeuge, die in Nordossetien, Südossetien (einer abtrünnigen Region in Georgien, die unter russischer Kontrolle steht) und Georgien zugelassen sind oder von nordossetischen Haltern gefahren werden. Zudem sollen in Nordossetien sogenannte mobile operationelle Gruppen unterwegs sein, die mit entsprechenden Namenslisten des russischen Verteidigungsministeriums ausgestattet Personen darauf überprüfen, ob diese der Wehrpflicht unterliegen. In der Nacht zu Donnerstag wird auch der Grenzübertritt zu Fuß, mit dem Fahrrad oder Roller in Werchnij Lars untersagt.
Derweil kommen immer neue Menschen an, der Strom reißt nicht ab. Sofort sind Fahrer zur Stelle, die ihre Dienste anbieten. „Tiflis, Jerewan“, rufen sie. Der Shuttle ins 140 Kilometer entfernte Tiflis ist für umgerechnet 90 Euro zu haben, für Jerewan werden 200 Euro fällig.
Am Straßenrand stehen drei Männer. Sie seien aus Tschetschenien, sagen sie und beäugen misstrauisch ein Handy, das ein georgischer Journalist in der Hand hält. Erst als das wieder in dessen Tasche verschwindet, sind sie zu einem Interview bereit. Sie hätten in der sogenannten neutralen Zone auf dem Boden geschlafen und seien von den Georgiern wie Hunde behandelt worden. „Wir wollen euch hier nicht, haben die Georgier gesagt“, erzählt einer. „Wir haben nichts bekommen, kein Wasser, kein Essen.“ Als sie ihre leeren Plastikflaschen mit Wasser aus einem Hahn in der Toilette gefüllt hätten, hätten die georgischen Polizisten ihnen diese mit den Worten aus der Hand gerissen: „Ihr habt das Wasser gestohlen.“
Auch Julie ist auf die Neuankömmlinge nicht gut zu sprechen. Die 67-Jährige, die kaum noch Zähne hat, trägt einen groben Strickpullover, Rock und Schlappen. Sie versucht, mehrere Toiletten hinter einem kleinen Supermarkt begehbar zu halten. Sie wohne in dem nahe gelegenen Ort Stepanzminda. Auch von dort seien Georgier in den Krieg gezogen, um an der Seite der Ukrainer*innen zu kämpfen, sagt sie.
Dann redet sie sich in Rage. „So wie sie jetzt hier entlanglaufen, sind die Georgierinnen in den 90er Jahren vor den Russen geflohen, während des Krieges in Abchasien. Mein Bruder ist dort umgekommen.“ Damals hätten die Russen auch kein Mitleid mit ihnen gehabt. „Sollen sie doch alle verrecken“, faucht sie. Und fügt hinzu. „Wir haben Angst vor Russland und jetzt wird alles noch schlimmer.“
Dieses Unbehagen ist derzeit in Georgien überall zu spüren genauso wie die Auswirkungen der wachsenden Zahl einreisender Russ*innen. So sind beispielsweise die Preise für Wohnungsmieten in astronomische Höhen gestiegen. Zudem fürchten viele, dass Russland in Georgien weiter an Einfluss gewinnen könnte. Derzeit stehen mit Abchasien und Südossetien 20 Prozent des Territoriums unter der Kontrolle Moskaus.
Auf dem Bordstein in der Nähe des Supermarkts kauern ein junger Mann und eine junge Frau, neben ihnen steht eine Kamera. Faina Musyka und Fjodor sind aus Moskau, Dokumentarfilmer*innen und jetzt in Werchnij Lars, um Material zu sammeln. Russland haben sie bereits kurz nach dem Beginn des Ukrainekrieges verlassen. „Wir drehen seit drei Tagen, an Schlaf war nicht zu denken“, sagt Musyka, die ganz gerötete Augen hat. Die 21-Jährige betreibt einen YouTube-Kanal namens „Good-bye Imperija“, auf dem sie vor allem über Antikriegsaktionen in Russland berichtet. „Die Russ*innen flüchten, um diesen Krieg nicht zu unterstützen. Aber ich verstehe auch, dass das für Georgien eine Katastrophe ist“, sagt sie.
Sie habe unter den Flüchtenden ganz verschiedene Leute gesehen. Einige versuchten, jetzt mit der russischen Vorwahl 007 zu telefonieren, weil sie nicht verstünden, dass sie in einem anderen Land seien. „Ungebildetheit und Panik“, sagt Musyka und es klingt verächtlich. „Aber wenn sie hier sind und etwas anderes sehen, führt das bei ihnen vielleicht zu einem Umdenken.“
Dass zwischen den Menschen aus Russland und den Georgier*innen vielleicht sogar das Verständnis füreinander wachsen könne, wünscht sich auch Fjodor. „Das ist nicht unser Krieg, sondern Putins Krieg. Die Flucht ist ein Akt des Protests“, sagt er. Auf die Frage, warum Putin diesen Krieg führe, habe er bis jetzt keine logische Antwort gefunden. „Putin gewinnt nichts, verliert dafür aber viel, nicht zuletzt die Menschen.“
Faina Musyka lässt ihren müden Blick über die kleinen Grüppchen schweifen, die gerade angekommen sind und sich langsam in Richtung des Straßenrands bewegen, um kurz zu verschnaufen. „Vielleicht verliert er sogar alles, das ist meine große Hoffnung“, sagt sie. „Dass das alles hier zu einem schnellen Zusammenbruch des Regimes führt.“
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