Reporter*innen in der Ukraine: Mensch bleiben
Ukrainische Journalist*innen berichten – sind aber auch Bürger*innen ihres Landes. Vier von ihnen reflektieren über zwei Monate Krieg.
Z wei Monate dauert der russische Angriff auf die Ukraine nun schon an. Für viele Journalist*innen vor Ort ist die Situation lebensgefährlich, mindestens sechs von ihnen wurden bereits getötet. Sie berichten weiter – und sind zugleich als Bürger:innen ihres Landes emotional ins Geschehen involviert. Vier persönliche Blicke auf den Krieg
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„Ich stehe daneben, betrachte den Horror“
Was fühlt ein Mensch, der eine Leiche sieht? Ja, sogar viele Leichen auf einmal? Vor allem Angst. Und schauderndes Entsetzen.
In den vergangenen beiden Monaten habe ich Hunderte Leichen gesehen. Alle waren auf unterschiedliche Art zu Tode gekommen, aber ähnlich qualvoll. Jemand wurde ausgezogen und in einer Luke aufgehängt. Jemandem mit gefesselten Händen wurde in den Hinterkopf geschossen, der Körper in einen Keller geworfen.
Einem anderen schoss man ins Herz, seine Leiche hat man versucht zu verbrennen. Zwischendurch glaubte ich, permanent diesen Leichengeruch wahrzunehmen, der sich auf meiner Haut und in meinen Haaren festgesetzt hatte. Wenn ich die Körper der Getöteten betrachtete, ging mir nur eine einzige Frage durch den Kopf: Warum?
Nachdem Anna Politkowskaja grausam ermordet worden war, gab die Nowaja Gaseta, die Zeitung, für die sie gearbeitet hatte, einen Band mit ihren Reportagen über den Tschetschenienkrieg heraus. Der Titel lautete: „Warum?“ Die Frage schien die Antwort schon zu beinhalten: Weil sie die Wahrheit über den Krieg schrieb.
Wenn ich mir die Frage stelle, warum friedliche Zivilist*innen in Butscha, Irpin, Hostomel und anderen Städten so bestialisch getötet worden sind, kann ich weder als Mensch noch als Journalistin beantworten, warum der russische Staat ihnen das angetan hat.
Als Journalistin will ich allen Zeug*innen aufmerksam zuhören, die Geschichte jedes und jeder Toten erzählen, damit die Welt von den russischen Kriegsverbrechen erfährt. Wie schrieb die britische Journalistin Marie Colvin, die in Syrien zu Tode kam: Die Hauptaufgabe von Journalist*innen, die über den Krieg berichten, sei, Zeugnis abzulegen und diejenigen, die die leiseste Stimme haben, in ihren Texten sprechen zu lassen. Das versuche ich.
Als ich 2014 anfing über den Krieg im Donbass zu berichten, wollte ich beide Konfliktparteien zu Wort kommen lassen. Heute haben wir es mit einem ganz anderen Krieg zu tun, einem offenen Großangriff eines Staates auf einen anderen unabhängigen Staat. Unter diesen Bedingungen erscheint die goldene Regel des Journalismus, wonach verschiedene Meinungen ausgeglichen vorkommen müssen, absurd. Welche zweite Meinung brauche ich in einer Reportage über Kriegsverbrechen? Will ich die Motive eines russischen Soldaten herausfinden, der in Butscha eine Frau vor den Augen ihres Kindes vergewaltigt hat?
Ich habe nicht nur Leichen getöteter Zivilist*innen gesehen. Ein Dutzend verkohlter Körper von russischen Soldaten wurden von ihren Kameraden zurückgelassen. Wie schwarze Schaufensterpuppen sahen sie aus. Die Überreste ihrer Gesichter waren von Entsetzen und Schmerz gezeichnet, der eine oder andere muss noch gelebt haben, als er verbrannt wurde. Von einer Leiche war nur die Hälfte übrig geblieben, die andere hatten Hunde gefressen.
Ich stehe daneben, betrachte diesen Horror, fühle jedoch absolut nichts. Weder Mitleid noch Hass oder Ekel – nichts. Und wieder diese eine Frage: Warum? Warum sind sie so sinnlos gestorben? Auch ihren Kameraden waren sie so egal, dass diese nicht mal die Körper wegbrachten.
Viele meiner Kolleg*innen wollen den Journalismus nach dem Krieg verlassen. Ich weiß es noch nicht, aber eins weiß ich: Über einen Krieg im eigenen Land zu berichten – das ist eine Aufgabe, die selbst die Kräfte von noch so erfahrenen Journalist*innen übersteigt.
Anastasia Magasowa wurde 1989 auf der Krim geboren. Sie hat Ukrainische Philologie und Journalismus in Simferopol (Ukraine) studiert. Seit 2013 ist sie Autorin der taz, seit Beginn des Krieges berichtet sie fast täglich aus Kiew und den umliegenden Städten. Sie war Teilnehmerin eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.
Aus dem Russischen Barbara Oertel
„Das Gehirn leugnet die Realität“
Fotograf*innen sollten in jeder kritischen Situation versuchen, das beste Bild zu machen. Aber wenn man über einen Krieg im eigenen Land berichtet, muss man sich entscheiden, wer man ist: Fotograf*in oder Bürger*in dieses Landes.
Eindrücke während der Evakuierung aus der Stadt Irpin, an einer gesprengten Brücke, die einmal über einen Fluss führte: Kälte, Wind und Granaten am Himmel. Menschen werden an einen sicheren Ort gebracht. Man sieht Betonblöcke, Stahl, Bretter, verlassene Kinderwägen, Koffer, ein Auto, das von der Brücke gefallen ist. All dies müssen die Zivilist*innen überwinden, um der vom Krieg verheerten Stadt zu entfliehen.
Und hier bin ich, mit einer Kamera in der Hand. Ich treffe auf diese Getriebenen, die unter Beschuss über die Bretter hasten – alle Ukrainer*innen, so wie ich einer bin.
Mein Haus befindet sich 15 Kilometer von hier. Ich sehe und höre, dass das russische Militär gezielt Mörser auf diese Evakuierungsroute abfeuert, wo es, außer der zerstörten Brücke, keinen einzigen Unterstand gibt. Ich höre das Pfeifen eines Geschosses über meinem Kopf.
Ich schaue durch das Objektiv auf verängstigte Kinder, Frauen, alte Menschen, warte auf den passenden Moment für genau dieses eine Bild – und mir wird klar, dass heute nicht der Tag ist, um das zu tun. Die Menschlichkeit obsiegt über die Chronistenpflicht des Fotografen.
Angesichts dieser hilflosen alten Menschen auf Krücken und mit Stöcken, angesichts der Frauen mit Kindern, die sich langsam über die dünnen Bretter bewegen, um den Fluss zu überqueren, kapiere ich, dass es jetzt nicht darum geht, diesen Albtraum zu fixieren. Ich packe die Kamera ein und versuche zu helfen.
Einige Tage später fahre ich in die Stadt Hostomel, wo es eine Schlacht auf der Brücke gegeben hat, die nach Kiew führt. Ich fotografiere viel, auch Momente, die ich nicht einfangen muss. Auf der Brücke liegen viele Leichen russischer Soldaten. Durch das Prisma der Linse betrachtet, rufen sie weder Mitleid noch Mitgefühl hervor. Wenn ich sie ohne Fotoapparat betrachte, auch nicht.
Denn ich denke an diese unbewaffneten und hilflosen Menschen, die diese Unmenschen erschossen haben. In den vergangenen zwei Monaten bin ich viel in ukrainischen Dörfern und Städten herumgefahren. Überall, wo der russische „Befreier“ gewesen ist, gibt es Spuren von Gewalt, Plünderungen, Tod und Verwüstung.
Da ich das alles durch die Linse einer Kamera betrachte, könnte man meinen, dass mich das vor der Wahrnehmung der Realität schützt. Aber so ist es nicht. Abends, wenn ich meine Fotos bearbeite, kann ich nicht aufhören darüber nachzudenken, was ich gesehen habe. Diese Bilder lassen mich nicht schlafen.
Geschichten über Gewalt, Bestrafungen und Hinrichtungen, die barbarische Haltung gegenüber allem Ukrainischen, all das lässt mich nicht los. Das Gehirn leugnet die Realität dessen, was auf den Fotos festgehalten ist. Aber was passiert ist und was passiert, sind leider Tatsachen.
Mit meinen Fotos möchte ich der ganzen Welt zeigen, was die russische Armee meinem Land antut. Alle Kriegsverbrechen müssen festgehalten werden. Nur so wird die Weltgemeinschaft in der Lage sein, das Ausmaß des hier begangenen Bösen wirklich zu erkennen.
Ein Foto ist ein eingefangener Moment, der ohne Worte alles erzählen, Schmerz und Leid vermitteln kann. Manchmal aber lege ich die Kamera beiseite und reiche jemandem in Not die Hand. Denn in jedem Krieg muss man zuallererst ein Mensch bleiben.
Volodymyr Kutsenko lebt als Fotograf in Berlin und Kiew. Er ist mit der Journalistin Anastasia Magazova (s. oben) verheiratet, die beiden arbeiten oft gemeinsam. Die Fotos auf dieser Seite sind von ihm.
Aus dem Russischen Barbara Oertel
„Jeder Fetzen Information ist Gold wert“
Der Krieg war ein Topthema der Medien in Mariupol, lange bevor er begann. Nach der Veröffentlichung von US-amerikanischen und britischen Geheimdienstdaten über Russlands geplanten Angriff auf die Ukraine wurde Mariupol zum Mekka für ausländische Journalisten. Sie fuhren an den östlichen Außenposten der Ukraine, in der Hoffnung hier, nur 20 Kilometer von der Frontlinie entfernt, die Bedrohung durch den großen Krieg am eigenen Leib zu spüren.
Aber nichts dergleichen erlebten sie in Mariupol. Die Stadt ist an Krieg gewöhnt, seit acht Jahren ist der Krieg ihr Nachbar. Regelmäßig hörte man hier das ferne Donnern der Artillerie. Manchmal erfuhr man von Granaten, die in irgendeinen Hof eines kleines Dorfes in der Region geflogen waren. Manchmal gab es Nachrichten über verwundete oder getötete Soldaten. Aber all das blieb das Hintergrundrauschen eines friedlichen und prosperierenden Lebens. Mariupol konnte sich trotzdem entwickeln und erneuern. Und wenn die ausländischen Journalisten den Menschen vor Ort Fragen zu Krieg und Bedrohung stellten, zuckten diese bloß mit den Schultern.
Als wir, die einheimischen Journalisten, begannen, über die bevorstehende militärische Bedrohung zu schreiben, führte das zu einer offen ablehnenden Haltung bei unseren Lesern. Die Menschen bewerteten die mögliche Gefahr anhand ihrer Erfahrungen aus den Jahren 2014/ 2015. „Eskaliert nicht die Situation“, hieß es von Seiten mancher Leser. Weder sie noch die Mehrheit der Mariupoler Journalisten waren vorbereitet auf den russischen Großangriff. Die meisten von ihnen hatten keinerlei Schutzausrüstung, keine besonderen Kommunikationsgeräte und waren nicht geschult für die Arbeit bei Kriegshandlungen und Straßenkämpfen.
Bis zum 1. März konnten Mariupoler Journalisten ihrer Arbeit noch nachgehen, danach wurde es völlig unmöglich. In Mariupol gab es weder Strom noch Internet oder Telefonverbindungen. Unter diesen Bedingungen Informationen nach draußen zu geben, Themen vorzubereiten und Zeitungen herauszubringen, war allein technisch nicht mehr machbar.
Die Lokalzeitung Priasowski Rabotschi erschien bis zum 28. Februar, danach nicht mehr. Aktuell gibt es keine Journalisten mehr in Mariupol. Die einzige Informationsquelle für jene, die die Stadt verlassen haben, sind die Mariupoler selber, die noch dort sind und jetzt Informationen aus der eingeschlossenen Stadt schicken. Unter den Bedingungen der anhaltenden Blockade und der fehlenden Mobilfunkverbindungen können Gespräche mit Bewohnern der Stadt nur stückchenweise und mit Unterbrechungen stattfinden. Die Überprüfung der Angaben ist fast unmöglich. Aber jedes kleine Fitzelchen Information, das es aus Mariupul heraus schafft, ist Gold wert.
Die schwierigsten Bedingungen für Journalisten herrschen an der Frontlinie. Derzeit sind aber sogar in den Städten fern der Frontlinie Aufnahmen von Infrastrukturobjekten verboten. Eine notwendige Maßnahme, denn in den Städten sind nicht wenige Sabotagetrupps unterwegs, die Angaben zu Objekten der kritischen Infrastruktur sammeln. Als meine Kollegin in Ternopil anfing, Bilder von einem gestürzten Puschkin-Denkmal zu machen, kamen sofort Polizisten und baten sie, die Fotos zu löschen.
Man mag solche Maßnahmen für übertrieben halten. Auch in Mariupol zeigt sich, dass im Krieg jedes unbedacht geäußerte Wort Dutzende, vielleicht sogar Hunderte Menschenleben kosten kann.
Anna Murlykina ist eine ukrainische Journalistin. Sie lebte bis vor Kurzem in Mariupol. Nun berichtet sie aus Dnipro.
Aus dem Russischen Gaby Coldewey
„Ich habe einen Schuldkomplex“
Tatsächlich haben die meisten von uns damit gerechnet, dass es genau an diesem Tag losgeht. Ich persönlich habe am 23. Februar bis um Mitternacht dagesessen und auf die Invasion gewartet. Dann bin ich mit schwerem Kopf eingeschlafen. Um 5.07 Uhr, in den ersten Minuten der Bombardements, war mir klar, dass Putin jetzt den Angriff befohlen hat.
Den Rucksack mit Papieren und Medikamenten hatte ich schon zehn Tage vorher gepackt. Eine Viertelstunde später waren auch meine Frau und mein fünfjähriger Sohn fertig angezogen. Ich setzte sie in das erste Auto, das ich erwischen konnte, um sie bloß wegzuschaffen aus Charkiw.
Ich selbst blieb in unserer Wohnung, die unter den Detonationen der Raketen erzitterte. Sie flogen vor allem auf die Fabriken in der Nähe. Dann rasierte ich mich und sagte laut: „Vielleicht zum letzten Mal.“ Anschließend lief ich zum Wehrkreiskommando, um mich zum Dienst an der Waffe zu melden. Aber ich wurde abgelehnt. „Gehen Sie lieber weg, hier wird es jetzt sehr gefährlich“, sagte der Jugendoffizier, der das sicher gar nicht entscheiden, sondern mich einfach schützen wollte.
Gegen 9 Uhr hörte ich schon keine Raketen oder Artillerie mehr, sondern Schusswechsel. Der Feind war also nur noch wenige Kilometer entfernt. Schnell wurde mir klar, dass ich nicht unter Okkupation geraten wollte. Sicher hatten die Russen eine Liste, auf der auch proukrainische Journalisten verzeichnet waren. Denn der Leitspruch des Nachrichtenportals, dessen Chefredakteur ich bin, heißt „Nur die Ukraine“.
Wird Marine Le Pen die nächste französische Präsidentin? In der taz am wochenende vom 23./24. April 2022 schauen wir auf Frankreich vor der Stichwahl, auf die Wähler:innen von Le Pen und auf die, die ihren Wahlsieg am meisten fürchten. Außerdem: Die Linkspartei in der Krise. Und: Wie das „Missoir“ für Geschlechtergerechtigkeit beim Pinkeln sorgt. Ab Samstag am Kiosk, im eKiosk, im praktischen Wochenendabo und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Ich schaffte es, zu Fuß durch den Wald zu entkommen. Vielleicht bin ich deshalb noch am Leben. Seitdem habe ich auch einen Schuldkomplex. Es heißt, daran litten quasi alle, die nicht aktiv kämpften.
Meine Familie fand ich in einem Dorf zwischen Smijiw und Balaklija wieder. Die folgende Woche verbrachten wir komplett mit Nachrichtenhören und -lesen auf ausländischen Websites. Aber in meinem Kopf kreiste der Gedanke: „Du tust sehr wenig für den Sieg.“
In der Umgebung des Dorfes begannen heftige Luftangriffe, Wohnhäuser samt darin befindlichen Menschen flogen in die Luft. Das war vermutlich emotional die schwerste Woche, fast ohne Schlaf, ständig im Luftschutzraum.
Mein Sohn hatte schreckliche Angst. Wir entschieden, das Dorf zu verlassen. Doch in der Umgebung waren schon alle Brücken gesprengt. Es war ein gefährlicher und schwieriger Weg mit vielen Checkpoints.
Das Haus, in dem wir jetzt leben, wurde gleich zu Kriegsbeginn heftig beschossen. Blindgänger stecken in den Wänden und im Dach klafft ein großes Loch, Fensterscheiben fehlen schon lange. Heizung, Gas und andere zivilisatorische Errungenschaften gibt es schon seit Anfang März nicht mehr, teilweise fehlt auch der Strom.
An Sirenen und Raketen haben wir uns gewöhnt, wir sind dickhäutig und gleichgültig geworden. Manchmal dauert der Luftalarm 10 bis 15 Stunden am Stück. Neulich gingen auf einen Schlag sieben Marschflugkörper auf unsere Stadt nieder. Ich bin erst vom vierten aufgewacht.
Am Schwierigsten bleibt für mich ein Gedanke: „Du tust sehr wenig für den Sieg.“ In die Armee kann ich mangels Erfahrung nicht. Mich beruhigen nur meine Arbeit und die Worte: „Wir sind wieder einen Tag näher an unserem Sieg.“
Juri Larin, 34, ist ein ukrainischer Journalist. Er lebte und arbeitete bis vor Kurzem in Charkiw. Larin war Teilnehmer eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.
Aus dem Russischen Gaby Coldewey
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