Soldaten tragen einen Sarg übers Feld, gefolgt von Menschen mit ukrainischen Flaggen

Wolodimir Losew, der sich freiwillig zur Armee gemeldet hat, trat auf eine Mine Foto: Francisco Seco/ap

Russischer Angriff auf die Ukraine:100 Tage Krieg

Zerrissene Familien, Künst­le­r*in­nen an der Front. Und zwei Länder, die nicht mehr wiederzuerkennen sind. Vier persönliche Bilanzen.

4.6.2022, 09:52  Uhr

Winter bis in den Sommer

Einhundert Tage – ist das für einen Krieg viel oder wenig? Wahrscheinlich ist das relativ, so wie die Theorie von Albert Einstein. In dieser Zeit passt sich der menschliche Körper an ein ständiges Gefühl der Angst an, aber es ist immer noch schwierig, an die Realität dessen zu glauben, was passiert.

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Das geht nicht nur mir so, sondern auch der Mehrheit der Ukrainer. Sie sagen: „Obwohl es laut Kalender schon Juni ist, wirkt im Bewusstsein alles noch wie Februar“. Oder: „Auch wenn der Sommer schon naht, ist der Winter für uns noch nicht zu Ende.“

Am 24. Februar ist für die Ukrainer die Zeit stehen geblieben, alle alltäglichen Schwierigkeiten und Sorgen gehören der Vergangenheit an und jeder neue Tag gleicht dem vorherigen. Schon 100 Tage haben wir morgens mit dem Scrollen durch den Newsfeed begonnen – wie sind die Nachrichten von der Front? Gab es neuen Angriffe auf Städte? Sind alle Lieben sicher?

Schon 100 Nächte hat das übliche „Gute Nacht“ nur eine Bedeutung – dass es keine Sirenen und keinen Beschuss geben möge. 100 Tage voller Emotionen – doch Angst und Aufregung werden durch Stolz und Dankbarkeit gegenüber der Armee ersetzt, das Gefühl der Ohnmacht ist dem Zutrauen gewichen, doch noch den Sieg zu erringen.

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Das alles kostet viel Kraft und Energie. Dennoch halten die Ukrainer durch, trotz moralischer und physischer Ermüdung. Manchmal erinnert mich das alles an einen alten kaputten Karren ohne Räder. Es scheint, dass selbst wenn man quadratische Räder montierte und die Ukrainer den Platz der Pferde einnehmen würden – sie könnten ihn trotzdem ziehen.

So ist es in diesem Krieg. Präsident Wolodimir Selenski hat in einer Rede gesagt, dass die russische Armee der ukrainischen um das 20-fache überlegen sei. Und dennoch: Seit 100 Tagen hält die ukrainische Armee den russischen Truppen stand und startete in einigen Gebieten sogar eine erfolgreiche Gegenoffensive.

Jetzt versucht jeder im In- und Ausland alles daran zu setzen, die Tage anders zu zählen. Nicht 100 Tage Krieg, sondern dem Sieg wieder einen Tag näher. Das liegt daran, dass Russlands umfassende Invasion in der Ukraine den Wunsch der Ukrainer verstärkt hat, in einem freien, unabhängigen und wohlhabenden europäischen Land zu leben. Eine solche Einheit hat es vielleicht noch nie gegeben, seit dieses Land existiert. Keiner aus meinem ziemlich großen Bekanntenkreis stand abseits – alle waren irgendwie an der Front, jeder wie er konnte.

Oleh Senzow, ein ehemaliger russischer politischer Gefangener von der Krim, hat seine Tätigkeit als Regisseur an den Nagel gehängt und kämpft nun im Donbass. Die Kyjiwer Anwältin Jewgenia Sakrewskaja und die Journalistin Lesja Ganscha haben sich als Freiwillige der Armee angeschlossen. Der Literaturkritiker und Journalist aus dem Gebiet Winniza, Andri Owtscharuk, hat ebenfalls eine Waffe in die Hand genommen, um die Ukraine zu verteidigen.

Die Theater-Regisseure Antonina Romanowa und Oleksandr Schugan, ein queeres Paar, sind als Freiwillige aktiv und verteidigen jetzt Mykolajiw. Wie sagt meine Bekannte Inna Ermakowa, die sich von einer Universitätsdozentin in eine Näherin verwandelt hat? Man kann eine Armee besiegen, aber man kann den Krieg nicht gewinnen, wenn das ganze Land zu einer Armee geworden ist.

Hinter uns liegen 100 Tage Krieg, der bereits vor acht Jahren begonnen hat. Niemand kann mit Sicherheit sagen, wie viele solcher Tage noch kommen werden. Vielleicht noch 100, vielleicht 1000 und mehr. Nur eines ist klar: Der Geist der Ukrainer ist nicht zu brechen, selbst wenn Russland das ganze Land besetzt.

Anastasia Magasowa, Kyjiw

Sie schweigen und sie leugnen

Krieg? Welcher Krieg denn?“ Es war der 24. Februar, als Sergei, der Wachmann in unserem Bürohaus, müde hochblickte und mich fast genauso irritiert anschaute wie ich ihn. In den Morgenstunden an jenem nassen Donnerstag hatte Wladimir Putin seinen Marschbefehl zum Überfall der Ukraine gegeben. „Ach das, in der Ukraine. Dort gibt es doch eine militärische Spezialoperation“, sagte Sergei mit den Worten seines Präsidenten. Stille.

Mehr als drei Monate später sagt Sergei dasselbe: „Krieg? Welcher Krieg denn?“ Es klingt ähnlich nonchalant, gleichgültig, beiläufig wie im Februar. Sergei ist nicht allein damit, das macht die Sache für ihn einfacher. Er ist in der Mehrheit. Einer russischen Mehrheit, die sich vom Krieg im Nachbarland desinteressiert abwendet, die ihn rechtfertigt, ihn gut findet. Manche furios, die meisten still. Die Minderheit leidet. Sie leidet an ihrem Land, an ihren Mitmenschen, an zerstörter Zukunft, an zerstörten Plänen. Sie leidet in Einsamkeit und Verzweiflung. Manche leiden auch in einer Zelle, weil sie nicht still sein wollten. In einer Diktatur.

Russland ist vermint. Russische Familien sind vermint. Ohne dass Bomben fallen, zerstört sich das Land selbst. Und feiert sich dafür mit Feuerwerken. Selbst auf Geburtstagen von Sechsjährigen erhellen bunte Lichter den dunklen Himmel, die so klingen wie der Beschuss in der Ukraine. Dem Nachbarland, von dem die Menschen in Russland sagen, es lebten dort ihre „Brüder und Schwestern“, und gleichzeitig betonen, dass es die Ukraine nicht gebe. Es ist der Widerspruch, den sie leben, den sie gutheißen, den sie hinnehmen. Denn „von mir hängt ohnehin nichts ab“, sagen sie dann.

Sie haben es jahrzehntelang gelernt. Haben verinnerlicht, dass sie nichts zählen. Dass sie Verfügungsmasse sind. „Nichttechnische Ressource“, wie es im aktuellen russischen Kriegssprech heißt. Sie sind genauso wenig Mensch wie die Menschen in der Ukraine, die jahrelang zu Feinden gemacht wurden. Die entmenschlicht wurden. „Unmenschen“ lassen sich einfacher töten.

Diese Tragik wird nicht hinterfragt. Es wird ohnehin wenig hinterfragt in diesen Tagen in Russland. Und die, die es stets und laut gemacht haben, sind weg aus dem Land. So manche Exi­lan­t*in­nen trennen sich mittlerweile von ihrer russischen Staatsbürgerschaft. Die Gebliebenen zermartern sich das Hirn darüber, wann, wohin und wie sie ebenfalls gehen könnten. „Aber das ist mein Zuhause. Meine Heimat, die Schreckliche.“ Viele Rus­s*in­nen emigrieren innerlich. Oder sie pflegen den Stumpfsinn, samt geradezu mantraartiger Wiederholung der Propagandasprüche aus dem Staatsfernsehen.

„Es ist alles nicht so eindeutig“, sagt Diana, die Ökonomin mit eigener Firma, die nun zunichte ist. „Ich kann nicht mehr in Israel investieren und so an eine Aufenthaltsgenehmigung dort kommen“, sagt Schenja, die Schauspielerin. „Ich habe eine in Deutschland beantragt“, entgegnet ihr Kollegin Rita. „Es muss doch alles einen Sinn ergeben“, sagt Julia, die Krebskranke mit einem 25-jährigen Reservisten-Sohn zu Hause.

Was für einen Sinn ergibt ein Krieg? Julia ist still. Schenja, Rita, Diana. Auch Sergei. Sie schweigen. Sie leugnen. Manchmal weinen sie. Still. Sie schützen sich. Und draußen, vor den Türen der Büro- und Wohnhäuser, scheint die Maisonne.

Inna Hartwich, Moskau

Kriegsmüdigkeit können wir uns nicht leisten

Es gab Zeiten, da war ich häufiger in Berlin als in Kiew. Ich liebe die Stadt. Als dann über Luzk zum dritten Mal russische Raketen hinwegflogen und sich im Norden die Truppen des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko mit der russischen Armee auf einen Einmarsch in der Ukraine vorbereiteten, gingen meine Frau und unser jüngster Sohn nach Berlin.

Für sie ging es gut, es traf sie besser als viele meiner Landsleute, die wegen des Krieges in die Europäische Union geflohen sind. Doch so angenehm es in Berlin auch sein mag und so herzlich sie dort aufgenommen wurden – die Familie sollte zusammen sein. Mein Sohn zum Beispiel kann es gar nicht erwarten, sein Land wieder aufzubauen.

Jetzt denken wir darüber nach, in welche Ukraine meine Familie zurückkehren wird. Die Ukraine ist nicht mehr, was sie vor dem 24. Februar war. Sie ist ein anderes Land als das, das meine Familie verlassen hat.

Vor dem Hintergrund der blutigen Kämpfe sehe ich in der Ukraine viele seltsame und zugleich schmerzhafte Dinge geschehen, denn die Politik steht wieder auf der Tagesordnung. In den ersten Wochen des Krieges hatte es sie praktisch nicht gegeben. Doch nun fangen sie im Umfeld von Präsident Wolodimir Selenski an darüber nachzudenken, was nach dem Sieg sein wird. Auch die Opposition sendet Signale an die Gesellschaft, dass es sie noch gibt und dass sie bereit dazu ist, mit Selenski und seiner Partei zu streiten.

Der Glaube an einen raschen Sieg machte nach zwei, drei Wochen einer gewissen Ernüchterung Platz. Bei einigen Ukrai­ne­r*in­nen hatte es überzogene Erwartungen gegeben, die enttäuscht wurden, nachdem man sie zuvor davon zu überzeugen versucht hatte, dass „die Russen schwach kämpfen“, „Putin und seine Generäle Dummköpfe sind“ und ukrainische Panzer kurz davor seien, „über den Roten Platz zu fahren“.

Wenn wir nun beobachten, wie die Russen die besetzten Städte und Dörfer zerstören, plündern und russifizieren, fragen wir uns immer öfter, warum die Ukraine die schnelle Eroberung des Südens zugelassen hat.

Auf den Straßen von Luzk ist immer häufiger laute und fröhliche Musik zu hören, die sich auf surreale Weise mit den täglichen Beerdigungen von ­Soldaten vermischt, die in der Stadt stattfinden. Viele versuchen die Gedanken an den Krieg zu vertreiben, indem sie daran denken, dass sie eigentlich kriegsmüde sind: „Wie viele von diesen traurigen Nachrichten müssen wir denn noch ertragen?“

All das zerstört unsere Einheit. Gut möglich, dass sich auch in Bezug auf die Angst um die eigene Sicherheit eine gewisse Ermüdung eingestellt hat – bei Leuten, denen nicht jeden Tag Bomben und Granaten auf den Kopf fallen, löst sich nach dem ersten Kriegsschock langsam die Anspannung. So ist sie, die Natur des Menschen: es fällt leichter, an das Bessere zu glauben, selbst wenn es bis dahin noch ein ­weiter Weg ist, weil es schwieriger ist, den Krieg angemessen wahrzunehmen. Ich muss allerdings auch zugeben, dass die Demoralisierung der Gesellschaft von innen das Ergebnis psychologischer Operationen Moskaus ist.

Wie dem auch sei, ich weiß genau, dass dieser Krieg noch lange dauern wird. Deshalb habe ich meine Familie darauf vorbereitet. Darauf, dass sie in ein Land zurückkehren werden, das immer noch im Krieg versinkt. Auch nach einem möglichen Waffenstillstand kann niemand Russland von den Grenzen vertreiben, die Gefahr eines Krieges wird ewig währen.

Das bedeutet: Die Ukrainer, die zurückkehren werden, um ihr Land wieder aufzubauen und die Reformen fortzu­setzen, müssen die besten Erfahrungen des Westens mitbringen. Wir dürfen keine Luftschlösser bauen, stattdessen müssen wir realistisch sein. Und wir dürfen auf keinen Fall kriegsmüde ­werden – genauso wenig, wie diejenigen, die in diesen Tagen nicht bombardiert werden, sich in falscher Sicherheit wiegen dürfen.

Juri Konkewitsch, Luzk

Krieg auf allen Frequenzen

Eines ist klar geworden im Laufe von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine: Journalisten und die Infrastruktur zur Verbreitung von Informationen sind für die Russische Föderation genauso Ziele wie Einheiten der ukrainischen Armee.

In allen Grenzregionen, in die die russischen Invasoren einmarschiert sind, haben sie versucht, Fernsehsender und -türme zu zerstören. Dadurch sollte den Ukrainern die Möglichkeit genommen werden, objektive Informationen über die Ereignisse in ihrem Land zu erhalten. Dort, wo diese Zerstörungen gelangen, versuchen die Russen auf allen Frequenzen ihre Propagandasendungen zu verbreiten, um den Widerstandswillen der Ukrainer zu unterdrücken und ihre Moral zu brechen.

So war es auch in Mariupol, glaubt man denjenigen, die von dort geflüchtet sind. Bereits Mitte März verbreiteten die Russen Falschinformationen über die Einnahme von Charkiw, Tschernihiw und Sumi. Auf dem gesamten Territorium der Ukraine, vor allem aber in den temporär besetzten Gebieten laufen sogenannte informationsmäßig-psychologische Operationen. Sie verfolgen das Ziel, die rechtmäßig gewählten Machthaber sowie die Armee der Ukraine zu diskreditieren und so Uneinigkeit sowie Unsicherheit zu säen.

Auch Journalisten gerieten ins Visier. Sie wurden nicht nur entführt, sondern auch getötet, Angaben des ukrainischen Medieninstituts IMI zufolge bislang 29 Personen.

Bemerkenswert ist, dass sich die Russen in den 100 Tagen des Krieges vor allem auf die Unterdrückung des freien ukrainischen Fernsehens konzentrierten, digitale Medien jedoch weitestgehend ignorierten. In der Russischen Föderation ist das Fernsehen seit etwa zwei Jahrzehnten die Haupt­informationsquelle, alle unabhängigen Internetmedien wurden abgeschaltet, Zeitungen und Zeitschriften geschlossen. Medien, die der Geheimdienst FSB und der Kreml kontrollieren, haben niedrige Einschaltquoten.

In der Ukraine aber haben Internetplattformen einen großen Einfluss: Webseiten, Telegram-Kanäle, Youtube. Am ersten Tag des Krieges schlossen sich alle Fernsehkanäle zusammen und senden seitdem 24 Stunden lang Nachrichten. Dieses Programm kann über die App diia.ua gelesen werden, die der ukrainische Staat vorhält. Dafür reicht auch ein schwaches Internet aus.

Um sich vor einem Abschaltung des Internets zu schützen, wird in der Ukraine das globale Satellitennetzwerk Starlink genutzt. Dieses System steht staatlichen Stellen und Mili­tär­einheiten zur Verfügung. So konnten die Soldaten im eingekesselten Asow-Stahlwerk in Mariupol fortwährend Informationen erhalten und hatten stets eine Internetverbindung.

Schwieriger ist die Situation bei lokalen Medien. Nach der Invasion lag der Anzeigenmarkt in allen Regionen faktisch brach. Die Medien verloren einen Großteil ihrer Einkünfte und damit auch die Möglichkeit, ihren Mitarbeitern Löhne zu zahlen. Viele stellten ihre Arbeit ein, reduzierten ihre Ausgaben oder das Personal. Lediglich Medien, die staatliche Mittel erhielten oder Verträge mit lokalen Behörden hatten, blieben relativ stabil.

Für Lokaljournalisten ist die einzige Chance, Geld zu verdienen, als Informationsbeschaffer für ausländische Korrespondenten oder freiberuflich für internationale oder große nationale Medien zu arbeiten.

Es ist offensichtlich, dass die Informationskomponente bei der russischen Aggression gegen die Ukraine von größter Bedeutung ist. Doch trotz aller damit verbundenen Probleme hat die Ukraine in diesen Tagen des Krieges bewiesen, dass sie in der Lage war und ist, ein System zur Abwehr und Bekämpfung russischer Desinformation aufzubauen – was ihr durchaus dabei geholfen hat, Siege auf dem Schlachtfeld zu erreichen.

Juri Larin, Charkiw

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