Reisebeschränkungen in der EU: Alarm ohne Plan
Die EU warnt vor steigenden Coronazahlen. Doch eine gemeinsame Strategie bei Reisebeschränkungen fehlt. Jedes Land macht seins. Fünf Beispiele.
In Berlin und Brüssel schrillen nun die Alarmglocken, dabei hat es an Warnungen nicht gefehlt. Schon am 10. August hat die europäische Präventionsbehörde ECDC vor einer zweiten Welle gewarnt und entschiedenes Gegensteuern gefordert. Die Gefahr einer „Eskalation“ sei „sehr hoch“, wenn keine geeigneten Maßnahmen eingeleitet würden, so die EU-Experten.
Doch von einer entschlossenen und koordinierten Reaktion kann keine Rede sein. Jedes EU-Land macht, was es will. Auch Deutschland kümmert sich nicht um Abstimmung. Obwohl Berlin seit dem 1. Juli den EU-Vorsitz innehat, wurden Reisewarnungen im nationalen Alleingang erlassen. Zuletzt traf es Spanien und Kroatien; das Auswärtige Amt rät von Urlaubsreisen in diese Länder ab.
Dabei gehören Reisewarnungen nicht zum Arsenal der Waffen, die die EU-Experten empfehlen. Viel wichtiger seien Coronatests und die Nachverfolgung von Kontakten, heißt es bei der ECDC. Doch es sind nur Empfehlungen, keine verbindlichen Regeln. Die EU ist machtlos – wieder einmal.
Die Gesundheitspolitik sei eine nationale Kompetenz, über Reisewarnungen werde in den Hauptstädten entschieden, erklärt die EU-Kommission der taz. Man sei zwar in ständigem Kontakt, könne aber nicht eingreifen. Dabei hatte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen etwas anderes versprochen.
Bereits im Mai stimmte sie die Bürger*innen auf die Urlaubssaison ein. Eine eigens aufgesetzte Website „Reopen EU“ suggerierte eine schrittweise Öffnung der Grenzen und die Rücknahme der Beschränkungen.
Doch davon ist nicht viel übrig. „Die Kommission hat es nicht geschafft, einheitliche Kriterien zu entwickeln“, kritisiert der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber. „Sie hat sich sehr weit rausgehängt und nichts gemacht.“
Im Herbst könnte es deshalb sogar wieder zu Grenzschließungen kommen, fürchtet die grüne Europaabgeordnete Anna Cavazzini. „Könnten wir diese ganzen Einzelaktionen bitte europäisch koordinieren?“, fragt sie. Von der Antwort hängt viel ab – auch für Deutschland. Eric Bonse, Brüssel
Schwedisches „Hemester“
Andererseits war es in diesem Sommer nahezu unmöglich für schwedische TouristInnen, einen Auslandsurlaub auch nur zu planen. Nimmt man allein die Nachbarländer, so hatte Finnland ganz dicht gemacht, es sei denn, man besitzt dort ein Ferienhaus.
Ab kommenden Montag hat Helsinki nun Ausnahmen für den „kleinen Grenzverkehr“ in Nordschweden angekündigt: AnwohnerInnen dürfen dann zum Einkaufen oder für andere Alltagsangelegenheiten die Grenze queren. Norwegen öffnet und schließt ständig die Grenze für quarantänefreie Einreise, je nachdem, ob die aktuellen Infektionszahlen in der Herkunftsregion der Reisenden über oder unter 20 Neuinfektionen pro 100.000 liegen.
Dänemark hatte bis zum 1. August eine ähnlich chaotische und unvorhersehbare Regelung. Nun ist die Grenze zwar ganz offen, aber die Tourismusbranche klagt: Die Schweden kommen nicht!
Kein Wunder. Angesichts dieses „Än si än så, än hit än dit“, wie „Rin in die Kartoffeln, raus aus die Kartoffeln“ auf Schwedisch heißt, entschlossen sich die meisten SchwedInnen gleich für ein „Hemester“, einen Heimaturlaub. Zum Glück spielt das Wetter mit. 45.000 Menschen drängten sich am Wochenende bei Temperaturen um die 30 Grad allein am Strand des westschwedischen Tylösand. Reinhard Wolff, Stockholm
UK: Ab in den Süden – nach Cornwall
Auch können Brit*innen nicht ohne Weiteres über den Ärmelkanal, höchstens nach Irland. Wer weiter weg will, kann in „sichere“ Länder wie etwa Österreich, Zypern, Griechenland, Finnland oder die Slowakei fliegen. Auch Reisen in die meisten Karibikstaaten, Vietnam, Malaysia oder die Seychellen sind möglich. Kroatien, die Türkei, Dänemark, die Schweiz und Griechenland nähern sich derzeit dem britischen Grenzwert für eine Quarantäne, wohingegen für Portugal die Auflage bald entfallen könnte.
Brit*innen besuchen deshalb die südlichsten Teile der eigenen Insel, etwa Devon und Cornwall, aber auch London, der Lake Distrikt und Schottland sind populär. Als Spanien und Frankreich auf die Quarantäneliste gesetzt wurden, stiegen die Buchungen innerhalb des Landes immens.
Awaze, einer der größten Vermittler von Urlaubsunterkünften, hatte bald von fast 20.000 Angeboten, weniger als 60 übrig, meist unerschwingliche Luxusschuppen. Für viele bedeutete das am Ende Urlaub zu Hause bei wechselhaften und teils nassen Wettervorhersagen. Daniel Zylbersztajn, London
Belgien und die „zweite Welle“
Rund eine Woche vor dem Ende der Sommerferien am 1. September hat sich die Lage nicht entspannt, im Gegenteil. Nun steht auch noch Deutschland auf der Warnliste des Außenministeriums. Zwar sind Reisen noch nicht verboten – doch auch das ist nicht mehr auszuschließen.
Denn Belgien hat die „zweite Welle“ nicht im Griff, nach Antwerpen meldet nun auch Brüssel einen steilen Anstieg der Infektionszahlen. Die Regierung versucht zwar, mit rigoroser Maskenpflicht und einer Einschränkung der Sozialkontakte – maximal fünf pro Person – gegenzusteuern. Doch bisher zeichnet sich keine Entwarnung ab.
Premierministerin Sophie Wilmès berief am Donnerstag sogar ihren Krisenstab ein. Neue Maßnahmen wurden zwar nicht beschlossen, aber auch die erhoffte Lockerung ist nicht in Sicht. Wenn sich die Coronakrise weiter zuspitzt, könnte dies auch zum Problem für die EU-Kommission und das Europaparlament werden. Beide haben ihren Sitz in Brüssel, vor allem die Europaabgeordneten sind viel auf Reisen.
Was passiert, wenn andere EU-Länder die Region Brüssel auf ihre Warnliste setzen, weiß niemand. „Wir stehen zu Brüssel, ein Umzug kommt nicht infrage“, erklärte eine Sprecherin der EU-Kommission auf Nachfrage der taz. Es klang wie das Pfeifen im dunklen Wald. Eric Bonse, Brüssel
Italiener*innen unter sich
Die Wahl leuchtet ein. Italien liegt – mit hier schon als alarmierend empfundenen gut 600 Neuinfektionen zum Beispiel am letzten Mittwoch – beim Infektionsgeschehen weit hinten in Europa. Reisen dürften die Bürger*innen des Landes ohne weitere Einschränkungen, vorneweg einer 14-tägigen Quarantäne nach der Rückkehr, sowieso nur in die Schengenstaaten und nach Großbritannien.
Seit letzter Woche schnurrt die Zahl der Staaten aber weiter zusammen: Wer aus Griechenland, Spanien, Malta und Kroatien zurückkommt, muss einen Pflichtabstrich vornehmen lassen, direkt am Flughafen oder bei der heimischen Gesundheitsbehörde; die Kosten trägt der Staat.
So sind die Strände von Nord bis Süd zwar wie im August üblich überfüllt, doch der Anteil der Ausländer*innen ist geschrumpft. Die Buchungszahlen liegen bei einem Viertel gegenüber 2019. Schlimmer noch: Reisende aus den USA, Russland, China oder Japan fehlen komplett – sie aber sind diejenigen, die traditionell am meisten Geld ausgeben. Vor allem in Florenz oder Venedig fällt ihre Abwesenheit schmerzlich auf, und in Rom etwa sind 80 Prozent der Hotels weiter zugesperrt, zugleich klagen die geöffneten Häuser über eine miserable Auslastung. Michael Braun, Rom
Kroatien: Vom Musterland auf die rote Liste
Kroatiens Ruf als sichereres Reiseland hat deshalb zwar etwas gelitten. Doch ist es dem Land wegen seiner günstigen Lage gelungen, Touristen aus Deutschland, Polen, Ungarn und der Schweiz anzulocken. Kroatien ist per Auto gut erreichbar und verfügt über viele Ferienwohnungen.
Das haben die Kroaten aus dem Norden in diesem Jahr selbst bemerkt, und viele sind im Land geblieben. Natürlich kennt man sich aus, die Mittelschicht aus Zagreb kennt die schönsten Spots auf den Inseln, irgendein Verwandter hat ja irgendwo ein Boot, jeder einen Geheimtipp.
Dagegen sind Auslandsreisen wie nach Italien, dem eigentlich beliebten Nachbarland, wie auch nach Mitteleuropa oder Reisen nach Übersee dieses Jahr beträchtlich eingeschränkt.
So kann der Tourismusminister zufrieden sein. Hotels, Ferienwohnungen und Restaurants machen ihr Geschäft. Die Auslastung beträgt immerhin 70 Prozent des Rekordjahrs 2019. Kroatiens Tourismusindustrie ist bisher mit einem blauen Auge davongekommen. Doch die Entwicklung der letzten Tage gibt zu denken. Vor allem in den großen Städten, aber auch an der dalmatinischen Küste häufen sich jetzt die Ansteckungen.
Schuld daran ist der legere Umgang mit Coronapartys, Familienfesten und einer Jugendkultur, in der die Auflagen wie Mundschutz und Abstand halten umgangen werden. Zwar herrscht in öffentlichen Gebäuden Maskenpflicht, doch viele Touristen fühlen sich auf öffentlichen Plätzen und in den Cafés, die in den engen Gassen der Spliter Altstadt gelegen sind, offenbar so sicher, dass sie alle Regeln zu vergessen scheinen.
Einen Lichtblick für Spätbucher bilden die Inseln in der Adria. Hier ist die Ansteckungsrate bisher sehr gering geblieben. Erich Rathfelder, Split
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
BSW-Chefin im ZDF
Wagenknecht macht BND für Irrtum verantwortlich
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Kretschmer als MP von Linkes Gnaden
Neuwahlen hätten der Demokratie weniger geschadet
Fragestunde mit Wladimir Putin
Ein Krieg aus Langeweile?
Studie zum Tempolimit
Es könnte so einfach sein