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Regisseur Todd Haynes zu „May December“„Sie hat ihre Position missbraucht“

Todd Haynes Film „May December“ war dieses Jahr für den Oscar nominiert. Er spricht über patriarchales Verhalten von Frauen und ambivalente Figuren.

Die eine kopiert die andere: Gracie (Julianne Moore) und Elizabeth (Natalie Portman) in „May December“ Foto: Wild Bunch Germany
Thomas Abeltshauser
Interview von Thomas Abeltshauser

Von den Grauzonen zwischen Fiktion und Realität, vom Authentischen im Artifiziellen handeln alle Filme des US-amerikanischen Regisseurs Todd Haynes. Sei es das Begehren in der Patricia-Highsmith-Adaption „Carol“, David Bowies Inkarnationen in „Velvet Goldmine“ und „I’m Not There“ über Bob Dylan in diversen Phasen. Auch sein neunter Spielfilm „May December“ handelt nur vordergründig von einem Skandal, inspiriert von realen Ereignissen. Die Schauspielerin Elizabeth (Natalie Portman) taucht bei Gracie (Ju­lianne Moore) und ihrer Familie auf, deren Lebensgeschichte verfilmt werden soll. Vor 23 Jahren hatte Gracie als Lehrerin eine Affäre mit ihrem 13-jährigen Schüler. Trotz Haftstrafe überdauerte das Verhältnis, nach ihrer Freilassung heirateten Gracie und Joe (Charles Melton), wurden Eltern und führen nun ein fast gewöhnliches Familiendasein in Savannah im Staat Georgia. Als sich Elizabeth in deren Alltag einnistet und ihr eigenes perfides Spiel treibt, bekommt dieses Idyll bald Risse. Der 63-jährige Haynes macht aus diesem Konstrukt von Melodram, Psychothriller und Tragikomödie ein faszinierend rätselhaftes Vexierspiel.

​Der Film

„May December“. Regie: Todd Haynes. Mit Natalie Portman, Julianne Moore u. a. USA 2023, 113 Min.

taz: Herr Haynes, „May December“ basiert lose auf einem realen Fall, der in den 1990ern in den USA für Aufsehen sorgte. Was hat Sie daran interessiert?

Todd Haynes: Mary Kate Letourneau war eine Lehrerin, die als 34-Jährige eine Affäre mit ihrem Schüler begann, als dieser 13 Jahre alt war. Die Boulevardpresse stürzte sich darauf, sie wurde schließlich verurteilt und saß zunächst zwei Jahre im Gefängnis. Beim Freigang verstieß sie sofort gegen die Auflagen, die beiden wurden beim Sex in einem Auto erwischt, und sie musste die volle siebenjährige Haftstrafe antreten. Aber sie blieben zusammen und gründeten nach ihrer Freilassung eine Familie, hatten zwei Töchter. Vor zwei Jahren ist sie an Krebs gestorben. Über ihre Geschichte gibt es viele Bücher und Dokumentationen, unser Film ist von diesem Fall inspiriert, aber wir nehmen uns Freiheiten. Mich interessierte, wie sie gegen alle Widerstände zusammengeblieben sind und was sie dabei ausgeblendet haben: die Scheuklappen, die nötig waren, um ein scheinbar normales Leben als Familie zu führen.

Im Film machen Sie daraus eine Charakterstudie zweier Frauen, die auf je eigene Weise Trugbildern aufsitzen, ein Spiel um Identitäten und Motivationen, bei dem Haltung und Perspektive ambivalent bleiben. Wie haben Sie das konstruiert?

Mir hat gefallen, dass man zunächst das Gefühl hat zu wissen, was man für diese Figuren empfindet, und dann verschiebt sich langsam die Wahrnehmung und es zieht einem den Boden unter den Füßen weg. So wie Elizabeth beginnt, ihre Untersuchungen um Gracie anzustellen, werden auch die Erwartungen und die moralische Haltung des Publikums infrage gestellt. „May December“ teilt seine Figuren nicht in Gut und Böse ein. Noch etwas unterscheidet ihn von meinen bisherigen Filmen: Die Geschichte wird von weiblichem Begehren vorangetrieben, die Frauen sind die aktiven Akteure; um ihre Ziele zu erreichen, verhalten sie sich auch unangemessen, nehmen Opfer in Kauf. Es spiegelt Aspekte der patriarchalischen Machtdynamik wider, aber mit vertauschten Geschlechterrollen. Denn auch Frauen in Machtpositionen können Strukturen des patriarchalen Systems reproduzieren. Gracie hat ihre Position missbraucht, keine Frage, aber mich interessiert ihre Motivation dahinter. In ihrer Fantasie glaubt sie, als Prinzessin von einem jungen Ritter gerettet worden zu sein, verleugnet völlig ihre eigene Macht in der Beziehung. Dann erweist sich Eli­zabeth als nicht minder kompliziert …

Diese Elizabeth wird von Natalie Portman gespielt, die auch Produzentin des Films ist. Wie kam es dazu?

Sie hatte mir 2020 das Drehbuch geschickt, während des Lockdowns. Wir redeten dann viel über die Erwartungen an sie als Filmstar, die eine Schauspielerin spielt, die sich auf eine Rolle vorbereitet, wie damit der Geschichte eine weitere Ebene hinzufügt wird. Uns gefiel die Idee, dass sich das Publikum mit ihr zunächst sicher fühlt, bis sie dann Schritt für Schritt dubioser wird. Uns beiden war gleich klar, dass nur Julianne Moore für die andere Hauptrolle infrage kommt. Sie sagte zum Glück sofort zu. Beim Dreh war sie anfangs nervös, weil wir kaum Zeit zur Vorbereitung hatten. Sie hat dann in kürzester Zeit ihre Figur mit all den kleinen Gesten und der Mimik entwickelt, die sich Elizabeth dann von ihr abschaut und aneignet.

Welche Verantwortung haben Sie als Filmemacher, wenn Sie eine Geschichte erzählen, die auf realen Vorbildern basiert?

Wir haben es immer als fiktive Geschichte gesehen mit all den Freiheiten, sie zu interpretieren und verändern. Anders als Elizabeth, die mit dem Anspruch antritt, die Wahrheit zu erzählen. Was ist „die“ Wahrheit? Oder wessen Version wird erzählt? Das hat viel mit Macht und Interessen zu tun; die reine, objektive Wahrheit gibt es nicht.

Mit dem Thema beschäftigten Sie sich bereits in früheren Filmen wie „Velvet Goldmine“ und „I’m Not There“

David Bowie konstruierte seine eigene Fiktion, erfand all diese Personas wie Ziggy Stardust und Alladin Sane. Er verstand, dass es in der Popkultur um Künstlichkeit und Erfindung geht. Auch Bob Dylan erfand sich immer wieder neu, verweigerte sich den Erwartungen seiner Fans, nur so konnte er seinen eigenen Erfolg überleben. Dylan gab mir komplette Freiheit, weil ich ihn nicht auf eine Version reduzierte. Wir durften sogar seine Musik verwenden. Auch bei „May December“ stelle ich das Künstliche formal aus, setzte Zooms und dramatische Musik ein, die eine Distanz zum Geschehen herstellen und so dem Publikum die eigene Rolle als Zuschauende bewusst macht.

Bild: imago
Im Interview: Todd Haynes

Todd Haynes wurde 1961 in Los Angeles geboren. An der Brown University studierte er Semiotik und zog anschließend nach New York. „Poison“ war 1991 sein erster Spielfilm. 2007 gewann er für die Bob-Dylan-Biografie „I'm Not There“ in Venedig den Großen Preis der Jury. „Vergiftete Wahrheit“ (2019) schilderte die juristische Aufdeckung des Teflon-Skandals.

Sie beziehen Sich in Ihren Werken immer wieder auf Douglas Sirk und Rainer Werner Fassbinder. Inwieweit haben die „May December“ beeinflusst?

Ich dachte eher an Ingmar Bergman und „Persona“ und seine Reflexion über Identitäten. Aber Sirk beeinflusst jedes Molekül meines Seins und Schaffens, ob ich ein Melodram in seinem Stil mache wie „Dem Himmel so fern“ oder etwas ganz anderes wie hier. Er bringt mich dazu, über die Welt und das Kino nachzudenken, und wie sich durch künstliche Inszenierungen authentische Gefühle herstellen lassen. Für mich ist Sirk wie höhere Mathematik.

Ihre Filme laufen auf den Festivals in Cannes und Venedig, letztes Jahr hatten Sie eine große Retrospektive im Centre Pompidou in Paris. Fühlen Sie sich in Europa besser wahrgenommen als in den USA?

Meine Filme sind sowohl von amerikanischer als auch europäischer Kultur geprägt, aber ich habe nie darüber nachgedacht, ob sie vom Publikum unterschiedlich wahrgenommen werden. Im Grunde hat jeder meiner Filme seine eigene Fangemeinde, die sich selten überschneiden, ob bei „Carol“ oder „Velvet Goldmine“. Aber meine Karriere wäre sicherlich nicht so verlaufen, wenn die Filmkritik mein Schaffen nicht von Anfang an so aufmerksam und wohlwollend verfolgt hätte.

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Trailer „May December“

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„May December“ ist trotz Ihrer Reputation und großer Stars mit einem sehr geringen Budget entstanden.

Wir haben den Film in 23 Tagen gedreht. Für mehr bekamen wir schlicht kein Geld. Kein Wunder: Es ist ein Film über zwei Frauen. Einen anderen Grund kann ich mir nicht vorstellen. Es ist kein Blockbuster, kein Actionkracher. Für Filme, wie ich sie mache, gibt es nur sehr prekäre Unterstützung, weil niemand erwartet, dass sie ihre Kosten wieder einspielen. Vielleicht wird sich durch „Barbie“ in der Zukunft etwas ändern, wer weiß. Aber viel Hoffnung habe ich nicht.

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