Referendum in Griechenland: Das große Zittern der Linken
Für Kapitalismuskritiker war Syriza ein Hoffnungsträger. Nun geht es um die europäische Zukunft einer linken Idee.
Neumann war einer von ihnen, der 28-Jährige ist Mitglied im Koordinierungskreis des Blockupy-Bündnisses – einem Zusammenschluss linker Gruppen, der seit drei Jahren Proteste gegen die europäische Krisenpolitik organisiert. Tagelang berichteten die AktivistInnen auf einem Blog unter dem Titel „Blockupy Goes Athens“ aus der griechischen Hauptstadt, versorgten die deutsche Linke mit Nachrichten rund um Syrizas großen Triumph.
Syriza – für viele antikapitalistische AktivistInnen ist diese Partei Hoffnungsschimmer und Projektionsfläche zugleich, seit sich das aus linken Gruppen bestehende Wahlbündnis vor Jahren als Bewegungspartei in Griechenland formierte. Spätestens seit dem triumphalen Sieg im Januar schauen die deutschen KapitalismusgegnerInnen bei ihren Aktionen stets mit einem Auge auf Griechenland.
Gleichzeitig übt sich die Szene in praktischer Solidarität: Eine Olivenölseife, hergestellt in einer besetzten Fabrik in Thessaloniki, wurde rasch zum Vorzeigeprodukt in den Badezimmern linker Wohngemeinschaften. Die griechischen ProduzentInnen versuchen immer noch, die innerhalb von zwei Februartagen eingegangenen Bestellungen aus Deutschland abzuarbeiten.
Alles steht auf dem Spiel
Und heute? Mit einer Volksbefragung stellt Syriza am Sonntag nicht nur die europäische Sparpolitik zur Abstimmung, sondern auch die Träume vieler antikapitalistischer Gruppen in Deutschland, denen es in den vergangenen Jahren nur mühsam gelang, auch in Deutschland eine wahrnehmbare Kraft für die Vision eines anderen Europa zu formieren.
Politische Graffiti in Griechenland
„Es steht alles auf dem Spiel, nicht nur für die Menschen in Griechenland“, sagt Neumann. Die Aufbruchstimmung, die nach den Wahlen in Griechenland bis zu den Frankfurter Blockupy-Protesten im März reichte, ist umgeschlagen in eine fast ängstliche Anspannung.
Linke Gruppen rufen für die kommenden Tage zu Solidaritätsdemonstrationen auf. Das Blockupy-Bündnis mobilisiert für Kundgebungen vor CDU- und SPD-Parteibüros und einer Solidemo in Berlin, am Samstag soll außerdem der Tag der offenen Tür im Konrad-Adenauer-Haus samt Besuch von Kanzlerin Angela Merkel gestört werden.
Ein selbstbestimmter Bruch
Selbst den in den letzten Jahren regelmäßig gescheiterten Versuch, eine offene Versammlung nach Vorbild der griechischen und spanischen Platzbesetzungen zu organisieren, wollen AktivistInnen am Mittwochabend auf dem Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg erneut wagen. Und einige reisen in diesen Tagen eigens nach Athen. Auch Mario Neumann will am Mittwoch in den Flieger steigen.
Er sei tief beeindruckt von einigen Menschen, die fest entschlossen seien, am Sonntag mit Nein zu stimmen – „auch wenn das bedeutet, dass sie die nächsten zwei Jahre Bohnen essen müssen.“ Er wolle, sagt er, die Verarmung der griechischen Bevölkerung nicht verharmlosen. „Aber ein Nein am Sonntag ist die Möglichkeit zu einem gewollten, selbstbestimmten Bruch, die einzig mögliche Auflehnung gegen die organisierte Alternativlosigkeit.“
Von einem großartigen, einem historischen Moment spricht Neumann – und weiß gleichzeitig, dass es für Syriza und damit auch für die antikapitalistische Linke in Deutschland, die so lange hoffnungsvoll nach Griechenland geblickt hat, nicht gut aussieht: Laut Umfragen will die Mehrheit der Griechen beim Referendum am Sonntag mit Ja stimmen. Ist das das Ende eines Traums, der gerade erst begonnen hatte?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Absagen vor Kunstsymposium
Logiken der Vermeidung