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Rechtsstreit um „Judensau“-ReliefEine echte Luthersau

Ulrich Hentschel
Gastkommentar von Ulrich Hentschel

Am Montag entscheidet der Bundesgerichtshof über das Schmährelief „Judensau“. Eine strafbewehrte Beschimpfung darf der Kirche nicht erlaubt sein.

Blick auf die sogenannte „Judensau“ an der Stadtkirche in der Lutherstadt Wittenberg Foto: Christian Schroedter/imago

A m Montag verhandelt der Bundesgerichtshof in Karlsruhe die Revision auf Abnahme des Schmähreliefs „Judensau“ von der Wittenberger Stadtkirche. Der Aktivist und Rentner ­Michael Düllmann, selbst Jude, war vor Gericht gezogen, nachdem seine langen und intensiven Bemühungen, mit der Gemeinde ins Gespräch zu kommen, keine Resonanz gefunden hatten. 2019 war dann seine Klage zuerst vom Landgericht und danach auch in zweiter Instanz im Februar 2020 vom OLG Naumburg abgewiesen worden.

Für die evangelischen, besonders die lutherischen Kirchen in Deutschland ist es ein kulturelles und geistliches Armutszeugnis, dass ein Gericht jetzt darüber entscheiden soll, ob eine unzweifelhaft antijüdische Schmähung auch weiterhin nicht nur irgendeine, sondern die zentrale Kirche des Luthertums „zieren“ darf. Das schon im Mittelalter im Innenraum der Kirche zur agitatorischen Belehrung der Christen angebrachte Relief ist an Widerwärtigkeit und Bösartigkeit nicht zu überbieten: Es zeigt eine Sau, an deren Zitzen zwei Menschen saugen, die durch ihre Spitzhüte als Juden identifiziert werden. Eine durch einen Hut als Rabbiner zu identifizierende Figur hebt den Schwanz der Sau und blickt ihr in den After.

Der große Reformator Martin Luther, Prediger an der Stadtkirche, war von dieser Darstellung so fasziniert, dass er sie 1543 in seinem antijüdischen Pamphlet „Vom Schem Hamphoras“ eigens würdigte. Schem Hamphoras bedeutet den für Juden heiligen und darum unaussprechlichen Namen Gottes. Gut zwei Jahrzehnte nach Luthers Tod wurde über der Sau die Inschrift „Rabini Schem Ha Mphoras“ angebracht. Es war die Übergangszeit vom Mittelalter in die Moderne. Der Antijudaismus wurde modernisiert zum Antisemitismus. Luthers Ratschläge „wider die teuflischen Juden“ lesen sich wie eine Anleitung zu den Pogromen 1938. Die sogenannte Judensau ist also tatsächlich eine Luthersau.

Ulrich Hentschel

Ulrich Hentschel ist Theologe, Autor und Aktivist. Er wurde 1950 als Sohn eines Pastors geboren und studierte Theologie und Sozialpädagogik. 1977 begann Hentschel seine Tätigkeit als Pastor. Er war in der Friedensbewegung aktiv und beschäftigt sich u. a. mit Erinnerungs­kultur und Antisemitismus.

Das alles wird vom Vorstand der Wittenberger Kirchengemeinde und seinen Unterstützern nicht bestritten. Doch was folgt daraus? Man hätte das Schmährelief einfach weiter verfallen lassen können, tat aber das Gegenteil: Noch rechtzeitig zum großen Lutherjubiläum 2017 wurden das Relief und seine Überschrift vergoldet, auch mit öffentlichen Geldern. Neben dem Wittenberger Stadtrat inklusive AfD und Linker setzt sich auch Friedrich Schorlemmer, langjähriger Prediger an der Stadtkirche, für den Verbleib der „Luthersau“ ein: „Dieser Stachel im Fleisch muss bleiben. Es muss in schmerzhafter Erinnerung bleiben, was in dieser Luther-Kirche passiert ist. Ich fände es eine Schande, die ‚Judensau‘ einfach wegzumachen“, sagte er im Dezember 2017 dem SZ-Magazin.

„Stachel im Fleisch“ der Christenheit?

Schorlemmer scheint seiner eigenen Forderung nicht zu vertrauen. Sonst hätte er längst dafür sorgen können, dass die schmerzhafte Erinnerung, also die „Judensau“, ins Innere der Stadtkirche geholt und dort in einem aufklärenden Kontext präsentiert werden könnte. Alle Veranstaltungen und Gottesdienste im Angesicht der niederträchtigen antijüdischen Skulptur, das wäre ein „Stachel im Fleisch“ der Christenheit. Wäre! Tatsächlich aber ist die Sau an der Kirchenwand ein „Stachel im Fleisch“ der Jüdinnen und Juden, die die „schmerzhafte Erinnerung“ an Antisemitismus und Holocaust durch Luthers Kirchengefolgschaft nur als Hohn empfinden können.

Für die demokratische Gesellschaft stellt sich darum die Frage, ob sie bereit ist, das sture Festhalten der Wittenberger Gemeinde an ihrem Schmährelief einfach zu akzeptieren. Warum sollte der Wittenberger Kirche die strafbewehrte verbale Beschimpfung „Du Judensau“ erlaubt sein, nur weil sie in Stein geschlagen ist und unter Denkmalschutz steht? Es darf auch für die Kirche kein Sonderrecht auf antijüdische Darstellungen geben.

Respektloses Mahnmal

Man stelle sich einmal vor, ich beleidigte einen anderen Menschen mit dem inkriminierten Schimpfwort und überreichte ihm dazu einen Zettel, der darüber aufklärte, dass sechs Millionen Juden „unter dem Zeichen des Kreuzes starben“, so die Inschrift einer Bodenplatte unter dem Schmährelief. Ein Unding. Doch genau auf dieser schiefen Ebene argumentiert der Vorstand der Wittenberger Stadtkirche: Ein „Mahnmal“, das vor circa 35 Jahren noch zu DDR-Zeiten auf Initiative der Jungen Gemeinde in den Boden unterhalb des Schmähreliefs installiert wurde, relativiere den beleidigenden Charakter der Kirchensau und hebe ihn auf.

Auch wenn die damalige Intention Respekt verdient, ergibt eine genaue Betrachtung heute einen klaren Befund: Das „Mahnmal“, das in der Größe und Anmutung eines Gullydeckels unten im Boden vor der Kirchenwand eingelassen ist, seine Kreuzästhetik und seine Botschaft sind doppeldeutig und respektlos; ein klares Bußwort über den Antisemitismus und die Mitverantwortung der lutherischen Kirchen für den Holocaust sucht man vergeblich.

Aus Gemeinde suspendieren

Die bisherigen Gerichtsinstanzen haben dennoch ohne genaue Prüfung die Behauptung der Kirchengemeinde übernommen, dass durch das Bodenplattenmahnmal der antijüdische Charakter des Schmähreliefs eine ausreichende Distanzierung erfahren habe. Man wird sehen, ob auch der Bundesgerichtshof diese Wittenberger Camouflage übernimmt. Immerhin hat der BGH seinen Sitz in Karlsruhe, also außerhalb der sachsen-anhaltinischen Einflusszone. Wichtiger aber ist, dass gesamtgesellschaftlich die Aufmerksamkeit für antisemitische Propaganda zugenommen hat.

Und zu hoffen ist, dass zumindest ein Gerichtsurteil für die Entfernung des Schmähreliefs von der Kirchenwand sorgt. Hilfreich könnte sein, wenn die Evangelische Kirche in Deutschland ihre Distanzierung von Luthers Antisemitismus ernst nehmen und die Wittenberger Gemeinde aus ihrer Gemeinschaft suspendieren würde, jedenfalls so lange, wie diese die Sau weiterhin ihren bösartigen Hass von der Kirche verkündigen lässt.

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35 Kommentare

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  • Die Debatteist für mich kaum nachvollziehbar.

    Würde jemand fordern, die ganze Kirche abzureißen, könnt ich den Widerstand nachvollziehen.

    Nur, ich weiß ja nicht, wies um die Wittenberger Stadtkirche bestellt ist. Aber generell wurde die meisten alten Sakralbauten über Jahrhunderte hinweg immer wieder an- und umgebaut, Fenstermotive, Fresken Türme entfernt oder hinzugefügt. Kaum eine wirklich alte Kirche sieht heut noch exakt so aus, wie zum Zeitpunkt ihrer Errichtung.

    Bringt man das Relief in ein Museum und klärt dort über die Bedeutung auf, wird auch die Erinnerung nicht zertört.

    Und im Gegensatz zu vielen alten Denkmälern historischer Größen, die zu Recht weietr stehen bleiben, steht dieses Relief eben nur für Judenfeuindlichkeit und für gar nix Anderes.

  • Es ist enttäuschend. So ein schick behauener Stein gehört ins Museum. An der Ecke einer Kirche kann er verwittern, ist den Blicken ausgesetzt. Der Gemeinde wäre daher dringend geraten den Stein auszubauen und zu sichern. Warum darum ein Prozess geführt werden muss, ist schwer zu verstehen. Auch dem Kirchengebäude würde dies guttun. Vielleicht gibt ja diese Instanz dem Kläger Recht. Zu wünschen wäre es. Doch ich erwarte von der Gemeinde, von sich aus zu handeln.

    • @mdarge:

      Sie haben Recht. Ich vermisse die ganzen Hakenkreuze, die nach 1945 entfernt wurden.

      Man sollte das alles wieder herstellen und eben kommentierend einordnen.

      • @Jim Hawkins:

        MDARGE schreibt: ,,Vielleicht gibt ja diese Instanz dem Kläger Recht.'' Das heißt er stützt Michael Düllmann ganz klar. Wenn er schreibt ,,Warum darum ein Prozess geführt werden muss, ist schwer zu verstehen. " kritisiert er also die Kirche und nicht Düllmann. Zumindest verstehe ich es so.



        Dennoch führt er an, der Stein sei ,,schick behauen": Er wurde für Geld von der Kirche in Auftrag gegeben, an jemanden, der das konnte. Von daher greift der Vergleich mit ,,Hakenkreuzschmierereien'' nicht, auch wenn sie aus dem Nationalsozialismus stammen sollten. Der Stein ist kommunikationsanalytisch (wie MDARGE weiter unten ausführt) und künstlerisch und gesellschaftspolitisch bedeutsam. Dies selbstkritisch zu analysieren und die Ergebnisse der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, verbunden mit Entschuldigungen und Wiedergutmachung, ist meines Erachtens der Auftrag an die evangelische und die katholische Kirche. Im Zusammenhang mit den ,,Katholiken" verweise ich z.B. mal auf Regensburg. Hier heißt es lapidar und wenig selbstkritisch auf Wikipedia:

        ,,An der Außenseite befindet sich auch eine Judensau in Form einer Sau, an deren Zitzen drei Juden hängen. Die Judensau ist zudem in Richtung auf das ehemalige Judenviertel am Neupfarrplatz ausgerichtet. Im Jahr 2005 wurde nach einer Kontroverse ein Hinweisschild aufgestellt.''



        de.wikipedia.org/wiki/Regensburger_Dom

        Das unsägliche ,,Hinweisschild" wird in der URL des Links zur ,,Mahntafel'' sogar als ,,Gedenkstätte" bezeichnet:

        de.wikipedia.org/w...urg_2022_01_09.JPG

        Der Text der Mahntafel beinnhaltet außerdem Elemente eines antisemischen Diskurses. Und gilt, wie gesagt, als ,,Gedenkstätte"!

        Hier zeigt sich im Mikrokosmos was in der Erinnnerungskultur schief läuft.

        Ergo:



        Ja: ,,Man [Historiker! Diskursanalytiker! Theologen!]sollte das alles wieder herstellen und [wissenschftlich aufbereitet] kommentierend einordnen!"

        • @gleicher als verschieden:

          "Von daher greift der Vergleich mit ,,Hakenkreuzschmierereien'' nicht, "

          Ich glaube, Jim Hawkins meint nicht die Hakenkreuzschmierereien, sondern die vielen aufwendig gemeißelten Hakenkreuzreliefs, die die vielen Gebäude schmückten, bis sie nach 1945 weggekloppt werden mussten. In Berlin gibt es an manchen Gebäuden noch Reminizenzen. Man ließ Adler, die einst das Hakenkreuz in ihren Klauen trugen, stehen. Man hat die Adler sozusagen entnazifiziert.

      • @Jim Hawkins:

        Erinnerungskultur bedeutet nicht Vernichtung von Erinnerungsstücken

        Man kann die Entscheidung nur im konkreten Fall treffen. Alles was aus dem dritten Reich platt zu machen, wie Sie es hier indirekt fordern, würde alle historischen Gedenkstätten vernichten und die Möglichkeit rauben in historischen Kontexten Geschichte erfahrbar zu machen.



        Aber ich denke das wissen Sie bereits.

        • @Rudolf Fissner:

          Also ich kann darauf verzichten, Nazi-Geschichte im historischen Kontext oder überhaupt zu "erfahren". Wenn, dann interessieren mich die individuellen Geschichten und Schicksale all derer, die von den Nazis entrechtet und ermordet wurden.

  • Wer seriös mit dem Thema umgehen will, unterschlägt nicht die Mahntafel und deren inhalt. Na immerhin wird sie wenigstens erwähnt, so beiläufig, als ob es nicht essentiell wäre.

    • @unwitzig:

      Auch die Mahntafeln können eine antisemitischen Keulenschlag darstellen, entgegen angeblich bester Absichten.



      Ich zitiere ,,Regensburg'':

      ,,Oben an diesem Pfeiler, der zum mittelalterlichen Judenghetto wies, befindet sich die Spottfigur der sog. ,,Judensau“. Dargestellt wird ein Schwein an dessen Zitzen sich Juden zu schaffen machen.



      Diese Skulptur als steinernes Zeugnis einer vergangenen Epoche muss im Zusammenhang mit ihrer Zeit gesehen werden. Sie ist in ihrem antijüdischen Aussagegehalt für den heutigen Betrachter befremdlich.



      Das Verhältnis von Christentum und Judentum in unseren Tagen zeichnet sich durch Toleranz und gegenseitige Achtung aus.‘‘

      de.wikipedia.org/w...urg_2022_01_09.JPG

      Übersetzen Sie einer geschockten Touristin aus dem Ausland, die fassungslos vor der Skulptur steht (Fußgängerzonenbereich!), mal den Euphemismus ,,Spottfigur" und die hämische Formulierung ,,sich an den Zitzen zu schaffen machen". Da wird der Behauptung des Reliktes einer ,,vergangenen Epoche" Hohn gesprochen. Und dass sich das ,,Verhältnis von Christentum und Judentum in unseren Tagen durch Toleranz und gegenseitige Achtung auszeichnet", hat spätestens seit dem Anschlag in Halle und was dadurch alles rauskam (,,Sicherheitstüt selbst finanziert'' etc.), an Wahrheitsgehalt und Aktualität eingebüßt.

      Durch Wiederholung werden diese Behauptungen nicht wahrer aber ,,hämmern sich ein", wie der Leser MDARGE in den Kommentaren sehr überzeugend ausführt. Da bezieht sich die treffsichere Kommunikationsanalyse aber auf die Funktion der SKULPTUREN für die Zeitgenossen.



      Sollen die Mahntafeln der Skupturen in die antisemitischen Fußstapfen der ,,Spottfiguren" der ,,Judensauen" treten?



      Oder ist eine Aufarbeitung der Täterrolle der katholischen und evangelischen Kirche gewünscht?



      (,,Es sind die ,,Christensauen", stupid!'')

      In Regensburg könnten sich die Universität oder der Pustet-Verlag mal gescheit kümmern.

  • Wäre nicht der Verbleib der Plastik und der Ersatz der Bodenplatte durch eine geeignete Erklärung und Entschuldigung die geeignetere Alternative zur Entfernung? Man kann ja historisches Unrecht nicht dadurch richtig stellen, dass man es verschweigt.

  • Luther als geistiger Brandstifter

    Zitat: „Eine echte Luthersau“

    Danke für diesen mutigen, aber notwendigen Text. Die Causa bietet Anlaß, an Luther als Spiritus rector des modernen Antisemitismus zu erinnern: „Was wollen wir Christen nun mit diesem verworfenen, verdammten Volk der Juden tun? Zu ertragen ist es uns nicht, seitdem sie bei uns sind und wir solch Lügen, Lästern und Fluchen von ihnen wissen. So können wir das unlöschbare Feuer des göttlichen Zorns (wie die Propheten sagen) nicht löschen noch die Juden bekehren. Erstlich, daß man ihre Synagogen oder Schulen mit Feuer anstecke und, was nicht verbrennen will, mit Erde über-häufe und beschütte, daß kein Mensch einen Stein oder Schlacke sehe ewiglich. Und solches soll man tun unserm Herrn und der Christenheit zu Ehren, damit Gott sehe, daß wir Christen seien und solch öffentlich Lügen, Fluchen und Lästern seines Sohnes und seiner Christen wissentlich nicht geduldet noch gewilligt haben.“ (Martin Luther, „Von den Juden und ihren Lügen“)

    Mit Fug und Recht konnte also der ev.-lutherische Landesbischof aus Eisenach Martin Sasse ausgerechnet im Widerschein der brennenden Synagogen 1938 auf Luther als geistigen Brandstifter verweisen: "Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag, brennen in Deutschland die Synagogen. Vom deutschen Volk wird die Macht der Juden auf wirtschaftlichem Gebiet im neuen Deutschland endgültig gebrochen und damit der gottgesegnete Kampf des Führers zu völligen Befreiung unseres Volkes gekrönt. In dieser Stunde muss die Stimme des Mannes gehört werden, der als der Deutschen Prophet im 16. Jh einst als Freund der Juden begann, der getrieben von seinem Gewissen, getrieben von den Erfahrungen und der Wirklichkeit, der größte Antisemit seiner Zeit geworden ist, der Warner seines Volkes wider die Juden." ("Martin Luther und die Juden - Weg mit ihnen!" von Martin Sasse, ev.-lutherische Landesbischof aus Eisenach, Freiburg 1938)

    Fürwahr: Die „Judensau“ ist die reinste Luthersau. Weg mit ihr!

    • @Reinhardt Gutsche:

      Die Pogrome waren jedoch am 9.11.1938. Mag sein, dass viele Synagogen am 10.11.38 noch brannten oder angesteckt wurden. Dass die sog. "Kristallnacht" ein Tag vor Luthers Geburstag begann bzw. stattfand, war vermutlich eher Zufall.

      • @Elena Levi:

        Zufälle gibt‘s

        Zitat @Elena Levi: „Dass die sog. "Kristallnacht" ein Tag vor Luthers Geburtstag begann bzw. stattfand, war vermutlich eher Zufall.“

        Für den ev.-lutherische Landesbischof Martin Sasse offenbar nicht, denn unverkennbar verwies er bewußt auf diese kalendarische Konkordanz, damit Luthers militanten Antijudaismus erneut und explizit zum geistigen Fundament des modernen, d. h. rassistischen Antisemitismus‘ erklärend. Noch spektakulärer und zugespitzter war dies bereits geschehen, als die einstige Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg zum 450. Geburtstag Martin Luthers am 10. November 1933 ihren heutigen Namen erhielt, und zwar mit ausdrücklichem Verweis auf Luther als „Ahnherren des Antisemitismus“. „Durch niemanden anderes Worte ist so eindeutig zum Synagogenbrand aufgerufen worden wie durch Luthers. Die brennenden Synagogen am 9. November 1938 waren der Probelauf für den Holocaust.“, so der Kirchenhistoriker und profunder Luther-Kenner Thomas Kaufmann. (Tagesspiegel v. 02.01.2017)

        Näheres unter: www.freitag.de/aut...mmel-naehert-sich- der-apotheose


    • @Reinhardt Gutsche:

      Dein Kommentar zu diesem wichtigen Beitrag hat einen meinigen überflüssig gemacht und mir viel Zeit erspart, stimmigst: danke!

    • @Reinhardt Gutsche:

      Laut Geschichtsschreibung war Luther nicht von Begin an Antisemit. Weiter wurde diese Darstellung nicht auf Betreiben Luthers angebracht. Vielmehr kann dieser Stein zu dem Meinungswandel des Reformators beigetragen haben. Lügen werden bekanntlich geglaubt, wenn sie nur oft genug wiederholt werden. Eine Grafik, an der man täglich vorbeigeht, hat demnach einen enormen Einfluss. Ob sie einen historischen Wert hat, ist weniger wichtig, als wie sie präsentiert wird. Zahlreiche andere Gemeinden hatten ähnliche Darstellungen entfernen lassen. Jetzt wäre es an der Zeit, dies auch in Wittenberg zu tun.

  • "ich beleidigte einen anderen Menschen"



    Die Analogie geht allerdings nicht auf, weil es bei dem Relief nicht um eine aktuell geäußerte Beleidigung geht, sondern um eine historische Darstellung; nun gibt es gute Gründe, darüber zu diskutieren, wie man mit solchen Darstellungen umgeht, aber man sollte diesen Unterschied nicht ignorieren. Das Problem reicht ja über den Einzelfall hinaus: unser kulturelles Erbe besteht ja nicht nur aus Gutem, Wahrem und Schönem, sondern eben auch aus allem Scheußlichen, zu dem Menschen in der Lage sind, Selbst wenn (falls) eine Beseitigung alles Anstößigen erstrebenswärt wäre, zweifle ich schon aus quantitativen Gründen an der Realisierbarkeit. Es gibt vielleicht klügere (und weniger bequeme) Wege, mit solchen Herausforderungen umzugehen.

    • @O.F.:

      Die Beseitigung allen anstößigen wäre imho keine gute Idee, denn der Wiederkehr des vormals anstößigen wäre damit der Raum geboten ...

      Wir erleben ja heute schon wie leichtsinnig anscheinend sehr junge Leute nach mehr Waffen schreien, dabei aber vergessen worden ist ihnen ausreichend nahezulegen, dass mehr Waffen nie den Frieden gebracht haben. Man besänftigt keine Bären indem man sie anschießt ... man geht ihnen wohl am besten aus dem Weg.

    • @O.F.:

      Die Darstellung selbst mag zwar als historisches Artefakt Jahrhunderte alt sein, die Entscheidung es im öffentlichen Raum hängen zu lassen ist aber eine zeitgenössische und hat auch konkret Verantwortliche. Daraus ergibt sich die Frage wie man sich zu den Scheußlichkeiten der Vergangenheit verhält, sich nicht zu ihnen zu verhalten und sie einfach so stehen zu lassen ist letztlich affirmativ und dann ist es eben naheliegend, dass das bei den Gemeinten auch genau so ankommt.

      • @Ingo Bernable:

        Sehe ich nicht so, nur weil etwas mir gezeigt wird muss ich dem noch lange nicht zustimmen. Das Relief ist zu aller erst ein historisches Dokument, dass Juden dort gab, eine historisches Dokument der Wahrnehmung der Semiten in Wittenberg durch die Lutherische Reformationskirche - so diffamierend es in sich auch sein mag.

      • @Ingo Bernable:

        Ich finde es kritisch den Stein von seinem originalem Platz zu nehmen, das lässt einem den Kontext in dem er dargestellt wird viel leichter verändern, man könnte ihn verschwinden lassen und sagen die Lutherische Reformationskirche hätte nie eine antisemitische Einstellung vertreten, oder man stellt ihn auf eine Steele und schreibt drunter "unsere Vorväter wussten es" - je nachdem was es gerade mal wieder Mode ist, der Kontext der Darstellung würde so nur verhandelbarer ...

        Ich finde ihn dort gut aufgehoben, wo er ist, nur vergoldet hätte er imho nicht werden müssen ... die Bodenplatte darunter kann man imho gerne Zerstörungsfrei um aktuelle Sichtweisen ergänzen, sie selbst ist ja schon ein historisches Dokument der andauernden Beschäftigung damit.

        • @Moe479:

          "an könnte ihn verschwinden lassen und sagen die Lutherische Reformationskirche hätte nie eine antisemitische Einstellung vertreten"



          Die Lage der Dinge ist ja nun wirklich ausreichend gut dokumentiert.



          "je nachdem was es gerade mal wieder Mode ist"



          Gegen zukünftigen Antisemitismus ist aber auch der Verbleib an Ort und Stelle keine Versicherung, der Umstand, dass antisemitische Darstellungen an prominenter Stelle im öffentlichen Raum akzeptabel ist nur weil sie alt genug ist mag durchaus auch gegenteilig wirken. Die Vorstellung man könne sich als Vergangenheitsbewältigungsweltmeister allein durch Aufklärungstafeln und Gedenkstelen gegen zukünftige Exzesse immunisieren wird schnell zum Selbstbetrug wenn aus all dem Mahnen und Erinnern keine Konsequenzen gezogen werden.

      • @Ingo Bernable:

        Nun habe ich nicht gefordert, das Relief "einfach stehen zu lassen" (was auch im konkreten Fall nicht geschehen ist), sondern genau die Frage in den Raum gestellt, die Sie wiederholt haben: Wie sollen wir mit einem anstößig gewordenen Kulturerbe umgehen?



        Ich habe wirklich nichts gegen Widerspruch, wäre aber dankbar, wenn man meine Beiträge davor auch liest.

        • @O.F.:

          Sie schrieben "weil es bei dem Relief nicht um eine aktuell geäußerte Beleidigung geht", stellen also in Abrede, dass die Darstellung heute für Menschen jüdischen Glaubens beleidigend sei und fordern eine andere Behandlung als die einer heute getätigten antisemitischen Beleidigung. Genau darauf war mein Widerspruch gerichtet, weil auch eine heute gefällte Entscheidung antisemtische Propaganda, wenn auch mit Begleittetxt kontextualisiert, im öffentlichen Raum stehen zu lassen, eben immmer noch darauf hinausläuft, dass antisemitische Darstellungen im öffentlichen Raum eben doch irgendwie akzeptabel sind.



          Wenn sie meinen anderen genaues Lesen nahelegen zu müssen, wäre es vielleicht angebracht diesen Ratschlag auch selbt zu beherzigen.

          • @Ingo Bernable:

            Sie verdrehen meine Aussage - und das nehme ich persönlich, weil Sie evidenterweise intelligent genug sind, um das merken. Aus der Unterscheidung zwischen einem historischen Relief und einer aktuellen Aussage folgt eben nicht, dass ersteres nicht beleidigend sein kann, sondern eben nur, dass es zwei getrennte Phänomene sind, auf die man nicht notwendig gleich reagieren muss.



            Wenn Sie sich mit vormoderner Kunst und Literatur beschäftigen, werden Sie merken, dass diese voll von Inhalten sind, die aus unserer Perspektive inakzeptabel sind (und ehrlich gesagt gilt das auch noch weit in die Gegenwart). Was uns heute unerträglich erscheint, war damals common sense.



            Hier einfach dieselben Zensurmaßnahmen anzulegen, die im Falle heutiger rechtsradikaler Propaganda angemessen sind, ist unhistorisch und unrealistisch. Wir müssten reihenweise Kirchen demolieren, Bilder abhängen, Bücher verbieten (oder zumindest umschreiben) und Musikstücke verbannen. Das wäre nicht nur ein gewaltiger Bildersturm, sondern ist auch Ausdruck eines naiven Kulturbegriffs: wie ich bereits erklärt habe, ist Kunst kein Bereich reiner Wahrheit und Schönheit. Wenn Menschen sich artikulieren, kommt auch alles Scheußliche zum Ausdruck, was sie in den Köpfen haben. Kultur ist kein safe space - und das wachsende Bedürfnis danach finde ich, pardon, unreif und denkfaul.



            Solche Debatten beweisen allerdings, dass historisch denken zu lernen, nicht nur an geisteswissenschaftlichen Instituten wichtig ist, sondern eine politische Notwendigkeit.

            • @O.F.:

              ,,Was uns heute unerträglich erscheint, war damals common sense."

              Ohne mich in die Debatte insgesamt einmischen zu wollen, bitte ich hier um eine Überpüfung. Meiner Überzeugung nach war die antisemitische Hetze durch Missbrauch der ,,Sauen" eine propagandistische Maßnahme der ,,Kirchenoberen", die ,,einhämmernd'' Realität schaffen sollte (,,us" vs. ,,them"). Sie reflektierten eben nicht einen ,,common sense".

              Ich erinnere mich an eine Führunng im Stadmuseum Münster zur Stadtgeschichte Münsters im Frühjahr 2022. Da wurder uns von der Dozentin gesagt, ,,das war damals eben noch so", ,,man glaubte halt wirklich, die Juden haben die Brunnen vergiftet".

              Für mich ist es Teil des antisemitischen Diskurses, wenn sich hinter das ,,gemeine Volk", ,,thumbe Toren" und ,,,common sense" zurückgezogen wird. Weil man die gezielte antisemitische Hetze durch die Meinungsführer der Zeit (z.B. die Kirche) verschleiert und mit einem Achselzucken an einen angeblichen ,,Mob" abgibt. Anstatt Herrschaftsstrukturen, ,,Meinungs"bildungsprozesse und die Diskriminierung wirklich zu durchleuchten, um sie besser zu verstehen und einer Wiederholung entgegenzuwirken. Die Vergangenheit besser verstehen um uns selbst besser zu verstehen. Wozu Geschichte und Erinnerung? Doch nicht um uns aufzuwerten, im Vergleich mit der angeblich ungebildeten Bevölkerung in vergangenen Jahrhunderten. Doch nicht um uns selbst zu attestieren wir seien im 21. Jahrhundert ja gegen Antisemitismus ,,geimpft''.

              • @gleicher als verschieden:

                Hm, ich wäre mit dem "Priesterschwindel"-Argument vorsichtig; nun kann man nicht ausschließen, dass Antisemitismus bzw. Antijudaismus teils auch von Kirchenoberen instrumentalisiert wurde, aber gerade im Falle von Pogromen sollte man die "Eigeninitiative" der Bevölkerung nicht unterschätzen (der höhere Klerus hat hier oft - nicht immer - gebremst, weil die Juden kirchenrechtlich zwar diskriminiert waren, aber eine Art Schutzstatus hatten (eine gewisse Parallele zu Dhimmis im islamischen Recht).



                Aber grundsätzlich hatte man im 14./15. Jhd. einen ziemlich strikten Begriff von Wahrheit: das Christentum war wahr, andere Religionen nicht. Für wirkliche Toleranz war da kein Platz; auch die Aneignung jüdischer bzw. islamischer Philosophie war im Grunde eine "feindliche Übernahme", die immer davon ausgegangen ist, dass die Betroffenen auf irgendeinem weg - durch die ratio (Thomas v. Aquin und die praeambula fidei), durch überlieferungsgeschichtliche Zufälle (Hermetismus) oder auch durch individuelle Erleuchtung (nach dem Muster Bileams: Gott kann auch durch seine - aus mittelalterlicher Sicht -Feinde sprechen) Zugang zur christlichen Wahrheit hatten.



                Natürlich hab es Unterschiede zwischen einem eher theologisch-theoretischen Antijudaismus und einem Pogromantisemitismus, aber einen wirklichen Spielraum für Toleranz sehe ich in der Zeit nicht. Nach heutigen Maßstäben waren das allesamt Antisemiten. Und das gilt noch bis weit in die Neuzeit hinein.

                • @O.F.:

                  Danke für die interessante Antwort!

                  Die (angebliche) ,,Gleichheitsreligion des Christentums" war (und ist ?!) anscheinend keine ,,Wahrheitsreligion". Juden und Muslime gehören enfach nicht dazu, da können sie sich abrahamitisch noch so sehr anstregen.

                  ,,Und das gilt noch bis weit in die Neuzeit hinein.''

            • @O.F.:

              Eine Verdrehung ihrer Aussagen war von mir keneswegs intendiert, es könnte viellicht daran liegen, dass ihre Position doch nicht ganz so klar transportiert wird wie sie vielleicht meinen. Allerdings zeichnen auch ihre Erklärungen mE kein wirklich besseres Bild. Wenn also klar ist, dass diese Darstellungen antisemitisch und beleidigend sind, ist schon eine recht starke Forderung von den Opfern dieser Darstellung eine andere Bewertung zu verlangen weil diese ja 'historisch' sind. Da gleich Ikonoklasmus und Bücherverbrennungen an die Wand zu malen ist lächerlich. Bücher und andere Medien mit strafbaren Inhalten können selbstverständlich eingezogen werden, ganz rechtsstaatlich ohne fackelbewehrten Mob und auch ohne, dass das bislang zu der von ihnen befürchteten Säuberung der Kultur geführt hätte. "Kultur ist kein safe space", richtig, aber Antisemitismus ist eben auch keine Kultur.

              • @Ingo Bernable:

                Vorweg: Von "Bücherverbrennungen" habe ich nicht gesprochen, sondern von Verboten bzw. Zensur.



                Aber zur Sache: Doch, natürlich ist Antisemitismus (genauso wie viele andere Scheußlichkeiten) Kultur bzw. Teil davon; ich kann mich hier nur wiederholen: wieso sollte unsere Kultur besser sein als wir?



                Und ja: ich verlange von allen (!), eine Unterscheidung zwischen historischer Überlieferung und gegenwärtiger Kultur - und zwar nicht nur, weil mir das eine intellektuelle Notwendigkeit erscheint, sondern auch aus purem Pragmatismus: Stellen Sie sich doch mal vor Ihr Bücherregal: Haben Sie keinen Fontane dort, keinen Dickens? Oder gehen Sie in die Uffizien oder in den Louvre - die Gemälde dort sind voll von judenfeindlichen Darstellungen. So unangenehm das ist: unsere Kultur ist vom Antisemitismus durchtränkt - und das gilt insbesondere für Zeiten, in denen Toleranz im wahrsten Sinne des Wortes nicht denkbar war. Das umstrittene Relief stammt aus dem Spätmittelalter - ich sehe nicht, dass man im Weltbild dieser Zeit eine intellektuelle Möglichkeit hatte, kein Antisemit zu sein. Es geht hier wirklich um Denkmöglichkeiten: unser moderner Toleranzbegriff beruht auf der Bereitschaft, konkurrierende Wahrheitsansprüche zuzulassen, solange sie das Zusammenleben (oder auch nur das Aneinandervorbeileben) nicht gefährden; das ist aber eine Haltung, der im Mittelalter und der frühen Neuzeit das philosophische Fundament gefehlt hat - wie gesagt: das war im wörtlichen Sinn: undenkbar. Wie man damit umgeht, ist eine komplexe Frage, verschwinden lassen kann man diesen Teil unserer Kultur aber nicht.



                Übrigens: Der Unterschied wird auch rechtlich gemacht: mir wäre jedenfalls nicht bekannt, dass Renaissance-Malerei und scholastische Theologie verboten wären.

                • @O.F.:

                  "Haben Sie keinen Fontane dort, keinen Dickens? Oder gehen Sie in die Uffizien oder in den Louvre - die Gemälde dort sind voll von judenfeindlichen Darstellungen. So unangenehm das ist: unsere Kultur ist vom Antisemitismus durchtränkt"



                  Das mag ihre Kultur sein, meine ist es nicht. Da einfach nur das Label 'Kultur' und eine Erinnerungsplakette anzuheften ist zu wenig, man sollte aus der Geschichte auch Konsequenzen ziehen, deshalb braucht es den vollständigen Bruch mit dieser Art von bürgerlicher 'Kultur' die schon einmal in den Extremismus der Mitte und ins Verderben führte. Sich hier auf Komplexität und Historizität zurückzuziehen, nur um dann doch in der heimischen Bibliothek, dem Louvre oder eben in Wittenberg weiterhin den alten Apologeten und Propagandisten des Antisemitsmus zu huldigen ist genügt nicht; in dieser Frage ist nur eine einzige, sehr klar und einfach bestimmbare Position legitim vertretbar und dafür ist auch vollkommen unerheblich wie man im Mittelalter dachte und denken konnte (mal ganz abgesehen davon, dass die Grenzen des denkbaren nie so determiniert waren wie sie sich das denken, man sollte eben nicht von sich auf andere schließen).



                  "solange sie das Zusammenleben [...] nicht gefährden"



                  Genau das ist aber hier doch der Fall.



                  "konkurrierende Wahrheitsansprüche" (aka 'alternative Fakten') gibt es nicht und darf es gerade in Bezug auf Antisemitismus nicht geben.

                  • @Ingo Bernable:

                    Ich bin mir nicht sicher, ob es hier um „meine“ bzw. „Ihre“ Kultur geht – es ist erst einmal eine europäische kulturelle Überlieferung, der wir uns kaum entziehen können, zumindest nicht als Gesellschaft. Natürlich können Sie die Uffizien boykottieren und keine Literaturklassiker mehr lesen, damit verschwindet aber eine Kultur nicht, die seit seit ihren Anfängen mit Antisemitismus (und Rassismus und Sexismus und Klassismus etc.) durchdrungen ist. Eine Flucht in die Unschuld scheint mir kaum möglich – und auch keine sehr erwachsene Lösung. Kultur ist ein Spiegel unserer Gesellschaft und unserer Geschichte. Damit muss man sich auseinander setzen (und dabei auch einen Unterschied zwischen historischen und gegenwärtigen Aussagen machen). Der Hinweis, ich hätte von mir auf andere geschlossen, ist deplatziert, weil ich nicht über mich gesprochen habe; ich habe versucht, Ihnen das Weltbild um 1400 zu skizzieren und die Denkmöglichkeiten, die darin bestanden (oder eben nicht); ich habe auch nicht gefordert, sich dieses Denken wieder zu eigen zu machen, sondern es zur Erklärung historischer Phänomene zu verwenden – das ist gängige geschichtswissenschaftliche Praxis.



                    Konkurrierende Wahrheitsansprüche gibt es natürlich: sie werden tagtäglich mit philosophischen, religiösen und politischen Anschauungen konfrontiert, die sie nicht teilen (was die Fakten sind, ist nicht immer klar, und noch weniger, was aus diesen Fakten folgt). Wo man die Grenzen zieht, ist eine komplizierte Frage. Ich erinnere aber daran, dass ich keine Toleranz für Antisemitismus gefordert habe, sondern den Willen, zwischen einem historischen Relief und einer gegenwärtigen Außerung zu unterscheiden.

                    • @O.F.:

                      Noch einmal, es geht hier nicht um die "Erklärung historischer Phänomene", sie spielen hier schlicht keine Rolle, sonder darum wie wir heute den öffentlichen Raum gestalten und darum wie wir uns heute zum historischen Antisemitismus verhalten. Dazu schreiben sie zwar von einer nötigen Auseinandersetzung, davon, dass man sich verhalten und Grenzen ziehen sollen, tun es dann aber nicht, sondern er- bzw. verklären den historischen Antisemitismus zum kulturellen Artefakt, genau diese Form von Nichtverhalten und Normalisierung macht aus dem historischen Antisemitisches aber einen aktuellen Antisemitismus. Was die Menschen um 1400 dazu dachten oder nicht ist dabei völlig belanglos weil die Entscheidung diese widerliche Propaganda hängen zu lassen heute getroffen wird.



                      "eine europäische kulturelle Überlieferung, der wir uns kaum entziehen können" "Eine Flucht in die Unschuld scheint mir kaum möglich – und auch keine sehr erwachsene Lösung."



                      Sich einfach nur als Opfer eines kulturellen Erbes dem man nicht entkommen kann zu konzeptionalisieren scheint mir aber auch nicht besonders Erwachsen in dem Sinne Verantwortung dafür zu übernehmen. Die Frage der persönlichen Schuld hängt dann auch konkret davon ab ob man sich affirmtiv zu diesen Dingen verhält oder eben auch bereit ist den Bruch zu vollziehen und eine andere Kultur zu ermöglichen.

                      • @Ingo Bernable:

                        Ein Relief aus dem Spätmittelalter ist ein historisches Phänomen. Ich "verkläre" das auch nicht (ich wäre wirklich froh, wenn wir auf solche Angriffe ad personam verzichten würden), sondern ich erkläre den historischen Kontext solcher Darstellungen (wie gesagt: das ist eine ganz gewöhnliche geschichtswissenschaftliche Praxis). Ich habe in der Tat nicht beschrieben, wie ein Umgang mit diesem Relief aussehen sollte - und habe auch keine perfekte Antwort parat. Nur wenn man diese Diskussion führt (der ich mich - wie Sie gerade sehen - auch nicht verweigere), muss man sich eben bewusst sein, dass:



                        -es quantitativ schlichtweg nicht möglich ist, alle mehr oder weniger antisemitische Kunst verschwinden zu lassen.



                        -dass das Verschwinden-Lassen genau das Nicht-Verhalten wäre, das Sie selbst kritisieren. Alles Anstößige auszusortieren und so zu tun, als hätte es keinen Judenhass (und, wie gesagt, allerlei andere Scheußlichkeiten) gegeben, ist keine kritische Aufarbeitung, sondern ein Nicht-Sehen wollten von Vorstellungen, die die europäische Kultur nun einmal durchdringen. Dieser Drang, Anstößiges zu beseitigen, ist, böse gesagt, eine politisch korrekte Form der Schlußstrich-Debatte.



                        Desweiteren habe ich auch nicht gesagt, das wir "Opfer eines kulturellen Erbes" sind; dass das Mittelalter Toleranz nicht denken konnte, ist keine Ausrede dafür, heute nicht tolerant zu sein. Der Antisemit 2022 kann sich nicht mit dem religiösen Antijudaismus um 1400 rechtfertigen. Aber eine kritische Aufarbeitung - und ein Lernen aus der Geschichte - setzt voraus, dass man diese zur Kenntnis nimmt - auch in ihren Abgründen.

                        • @O.F.:

                          "Nur wenn man diese Diskussion führt (der ich mich - wie Sie gerade sehen - auch nicht verweigere)"



                          Doch, meiner Wahrnehmung tun sie genau das, überaus wortreich zwar, aber eben dennoch ohne irgendeine Konsequenz zu ziehen. Ist halt alles so kompliziert, historisch, etc. Diskussion und Debatte ersetzt aber keine Handeln.



                          "das Verschwinden-Lassen" hat auch niemand gefordert, allerdings sollte einem so über alle Maßen gebildeten Menschen wie ihnen duchaus bewusst sein, dass die Präsenz im öffentlichen Raum iA als Ehrung verstanden wird, weswegen nicht nur diverse Adolf-Hitler-Plätze entfernt wurden, sondern auch Statuen von kolonialistischen Schlächtern, Sklavenhändlern, etc. Aber anders als von ihnen unterstellt war das eben in keinem Fall ein Schlussstrich oder ein Verleugnen historischer Wahrheit, sondern ganz einfach die konsequente Sichtbarmachung davon, dass man all das eben heute nicht mehr der öffentlichen Würdigung für Wert hält.



                          "Der Antisemit 2022 kann sich nicht mit dem religiösen Antijudaismus um 1400 rechtfertigen."



                          Aber natürlich kann er das. Der Rückgriff auf die Geschichte, auf Tradition, auf Blut, Boden und Überlieferung spielt bei sowas doch ständig als Rechtfertigung eine Rolle. Die Nazis phantasierten von Germanen und vom 1000-jährigen Reich und aktuell führt Putin in der Ukraine Krieg und stützt sich dabei auf pseudo-historische Ansprüche. Mir ist derartiges Grund genug die Artefakte einer solchen 'Kultur' vom Sockel zu stoßen.

                          • @Ingo Bernable:

                            Ich antworte sachlich und ausführlich auf Ihre Einwände; die Diskussionsverweigerung meinerseits sehe ich also nicht recht. Dass ein Diskussionsforum auf den Austausch von Argumenten beschränkt ist und wenig Raum zum Handeln lässt, liegt im Wesen der Sache.



                            2. Die Aussage die bloße Präsenz von etwas würde als affirmativ oder als Ehrung verstanden, stimmt in dieser Pauschalität nicht; gerade hier wird das Problem der Historizität sichtbar: über Denkmäler für römische Kaiser oder Plätze, die nach mittelalterlichen Herrschern benannt sind, ärgert sich niemand, obwohl deren moralische Bilanz auch nicht besser war - eben weil hier der zeitliche Abstand die Wahrnehmung verändert. Historische Relikte sind erst einmal historische Relikte und nicht gleichbedeutend mit einer Würdigung.



                            Das "kann" in der abschließend von Ihnen zitierten Aussage hat sich auf die Legitimität einer solchen Versuches bezogen, nicht auf die Faktizität. Dagegen argumentiert man allerdings besser, wenn man die Quellen kennt - Vandalismus ersetzt nicht historische Bildung; und die Anführungszeichen ändern nichts daran, dass zur Kultur eben nicht nur das Gute, Wahre und Schöne gehört.