Rechtsextremismus in Thüringen: Von roten zu braunen Hochburgen

Vor 95 Jahren feierte die NSDAP erste relevante Wahlerfolge bei der Landtagswahl in Thüringen. Heute ist dort der Zuspruch zur Rechten erneut stark.

Männer laufen durch eine Straße, in der Mitte Adolf Hitler

Adolf Hitler beim Propagandamarsch durch die Straßen Weimars während des ersten Reichsparteitages der NSDAP 1926 Foto: ullstein bild

Die Weimarer Republik gilt als eine krisengeschüttelte, politisch umkämpfte Episode, an deren Ende die Schreckensherrschaft der Nazis steht. Vielerorts wandten sich die Menschen über die 14 Jahre, die die erste deutsche Demokratie bestand, den extremen Rechten zu. Doch was sich in Thüringen abspielte, sticht ins Auge.

Eigentlich startete das kleine Land zwischen Wartburg und Vogtland als linke Musterregion in die 1920er Jahre. Hier befanden sich Zentren der Arbeiterbewegung mit einer langen roten Wahlkontinuität. Eine regierende SPD sorgte für eine bis dato beispiellose Kulturpolitik; erstmals in Deutschland wurde hier etwa die Prügelstrafe in Schulen verboten. 1923 kam es sogar zu einer rot-roten Landeskoalition mit der KPD – eine Rarität!

Ab dem Jahr darauf wandelte sich jedoch die politische Landschaft. Konservative Parteien errangen die Oberhand und die noch kleine NSDAP wurde durch rechtsbürgerliche Regierungen geradezu hofiert, um sich ihre Unterstützung im Landtag zu sichern. Während sie in anderen Teilen Deutschlands noch lange eine unbedeutende Splittergruppe blieb, wurde sie hier immer größer. Bei den Landtagswahlen 1929 erhielt die Thüringer NSDAP schließlich über 11 Prozent – genug, um eine Koalition mit rechtsnationalen Parteien einzugehen und erstmals in ihrer Geschichte einen Minister zu stellen.

1932, am Vorabend der Machtergreifung, bekam sie hier gut 43 Prozent. Das Besondere am Zulauf der Thüringer NSDAP war, dass nicht nur ihre mittelständische Stammklientel hinter ihr stand, sondern sich auch erstmals in vielen ehemals linken Arbeitermilieus das Stimmungsbild wandelte. Während das linke Lager in Ostthüringen noch recht stabil blieb, wurden vor allem im Süden und Westen des Landes viele rote zu braunen Hochburgen.

Heimarbeit in der Spielzeugbranche

Besonders bei sogenannten Heim­ar­bei­te­r:in­nen konnte die NS-Bewegung punkten. Ar­bei­te­r:in war eben nicht gleich Arbeiter:in. Anders als bei der klassischen Industriearbeit in Fabriken, die vor allem in Ostthüringen die Norm darstellte, waren etwa in der Spielzeugbranche Südthüringens die meisten in Heimarbeit beschäftigt.

Hier produzierte man auch für eine Firma, jedoch in den eigenen vier Wänden. Statt am Feierabend mit den Kol­le­g:in­nen ein Bier zu trinken, hatte man die Familie um sich, die in der Regel mitarbeiten musste. Dies hatte auch eine politische Komponente: Statt sich als ein Proletariat mit gemeinsamen Zielen zu begreifen, war die Einzelkämpfermentalität in Heimarbeiterkreisen weit verbreitet.

Viele sahen sich noch als selbständige Handwerker:innen, ganz so als hätte nie eine Industrialisierung stattgefunden. Bürgerliche Normen waren hier weit verbreitet, ebenso die Bindung zur Kirche. Auch gewerkschaftlich organisierten sich hier die wenigsten, wohingegen es in Ostthüringer Städten wie Gera quasi zum guten Ton gehörte.

Paradoxerweise erwiesen sich gerade die Verhältnisse der Heimarbeit katastrophaler als woanders. Tägliche Arbeitszeiten von 14 Stunden für einen Hungerlohn waren keine Seltenheit. Eine gefährliche Kombination: Die miserable wirtschaftliche Lage gepaart mit einer bürgerlichen Identität und der Ablehnung der Arbeiterbewegung führte zu einem Protestwahlverhalten, von dem die NSDAP profitierte.

Die propagierte ein Image, was die Geschichtsforschung später veranlasste, von der „ersten deutschen Volkspartei“ zu sprechen. Ihr Arbeiterbegriff umschloss alle, die irgendwie arbeiteten, egal ob am Fließband, im Büro oder auf dem Acker, egal ob selbständig oder beschäftigt.

Bewusste Ansprache der Arbeiterschaft

Man konnte diese „Arbeiterpartei“ mit gutem Gewissen wählen, ohne sich zum dreckigen Klischee des Proletariats zählen zu müssen. Gleichzeitig sprach man die Arbeiterschaft bewusst an, spielte mit Begriffen wie „Sozialismus“ und brach teilweise in rote Milieus ein. So war es letztlich nicht nur die Heimarbeiterschaft, die zu Hitler kam, sondern auch viele Industriebeschäftigte.

Um in Arbeitermilieus einzudringen, egal ob sie Fabrik- oder Heimarbeit ausübten, musste die NS-Bewegung jedoch auf mehr als nur die bürgerlichen Tendenzen ihres Wahlvolks setzen. Über Einzelpersonen schufen sich die Nationalsozialisten kleine Bastionen in Arbeitermilieus; Ausgangspunkte, von denen weitere überzeugt werden sollten.

Das war umso wichtiger, da die Partei einen „Mittelstandsbauch“ besaß; Selbstständige und Beamte waren überrepräsentiert. Agitationsversuche konnten praktisch nur scheitern, wenn etwa gut bezahlte Bankangestellte ihren „Volksgenossen“ an der Werkbank von der arbeiterfreundlichen NSDAP erzählten. In gezielten Gesprächen wurde daher versucht, sogenannte Milieuöffner in der Arbeiterschaft für die eigene Sache zu gewinnen.

Überläufer als Vorbilder

Aber auch Aufsätze in NS-Zeitungen eigneten sich hervorragend, indem man Vorbilder schuf: Entweder schrieb man über einen Überläufer oder bestenfalls berichtete die Person selbst – oft noch verifiziert mit Klarnamen und Adresse, was für die damalige Pressepraxis nicht ungewöhnlich war.

Als Motiv, das Lager zu wechseln, gab man meist die Enttäuschung über eine korrupte oder zu lasche Arbeiterbewegung an. Tatsächlich finden sich in der Thüringer NSDAP einige Beispiele von Überläufern.

In Steinach bei Sonneberg trat ein Glasarbeiter nach dem Streit mit dem Vorsitzenden aus seiner Gewerkschaft aus und wurde führendes Mitglied der NSBO vor Ort, einer Art Nazi-Gewerkschaft. Im ehemals roten Waltershausen schaffte es die Hitlerbewegung den örtlichen Antifaführer sowie einen Betriebsratsvorsitzenden zum Übertritt zu bewegen – viele an der Basis folgten. Und ein ehemaliger Gewerkschafter aus Greiz tourte nach seinem politischen Wandel durch Thüringen und konnte neue Ar­bei­te­r:in­nen rekrutieren. Die Strategie, alle Schichten, gerade auch die Arbeiterschaft, anzusprechen, war zweifelsfrei von Erfolg gekrönt.

Parallelen zu 1920er Jahren

Die heutige Situation in Thüringen ist selbstverständlich eine grundsätzlich andere. Statt auf den Ersten Weltkrieg, Inflation und Wirtschaftskrise blicken die Menschen in Thüringen heute auf 40 Jahre DDR und eine in vielen Punkten schiefgelaufene Wiedervereinigung zurück. Doch wenn heute, 100 Jahre später, immer wieder Parallelen gezogen werden zu den krisenhaften 1920er Jahren, in denen die Nationalsozialisten das Fundament für ihre zwölf Jahre währende Schreckensherrschaft legen konnten, lohnt es sich, genauer hinzugucken.

Laut aktuellen Umfragen könnte die AfD in Thüringen stärkste Kraft werden. Gezielt im Sinne einer Volkspartei versucht sie, alle Schichten anzusprechen, von der Oberschicht bis zur Industriearbeiterschaft. Letztere sind seit Jahren im Fokus der Thüringer AfD.

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Nach 1. Mai-Kundgebungen mit dem Motto „Sozial ohne rot zu werden“ versuchte Fraktionsvorsitzender Björn Höcke 2018 auch eine Streikversammlung im Eisenacher Opel-Werk zu infiltrieren. Inzwischen geht man davon aus, dass etwa ein Drittel der Belegschaft dort die AfD wählt.

Die politische Rechte profitiert auch von einem Vertrauensverlust in die etablierten Parteien. Zwar sind die kurzlebigen Regierungen der Weimarer Republik, eingebettet in ein polarisiertes Vielparteiensystem, schwerlich mit Groko-Überdruss und Ampelfrust der letzten Jahre vergleichbar.

Unzufriedene suchen nach Alternativen

Das gilt ebenso für die massiven wirtschaftlichen und sozialpolitischen Probleme, die die Weimarer Regierung zu lösen hatte. Doch damals wie heute gilt: Wer unzufrieden ist mit der eigenen wirtschaftlichen Situation, macht sich auf die Suche nach Alternativen – auch wenn sich diese in manchen Fällen als menschenverachtend darstellen. Heute trägt die AfD diesen Anspruch sogar im Parteinamen.

Auch die besondere Rolle von Einzelpersonen lohnt es sich damals wie heute in den Blick zu nehmen. Viele Dinge, die vor zehn Jahren als unsagbar galten, sind in vielen Städten heute Alltagsgespräch aufgrund des Einsatzes Einzelner, die die Gesprächskultur in Straßenbahnen, auf Arbeit und an Stammtischen prägen. Björn Höcke sprach bei einem auf Youtube veröffentlichten Bürgerdialog Anfang 2024 davon, dass ein kleiner Thüringer Ort AfD-Werte von über 50 Prozent erreichte, weil eine einzelne Person dort regelmäßig Infomaterial verteile.

Dieses Rezept stellt kein Privileg der politischen Rechten dar. Auch auf linker, bzw. demokratischer Seite kann der Einsatz im persönlichen Umfeld helfen, den öffentlichen Raum zurückzuerobern und rechter Hetze Paroli zu bieten. Auch das funktionierte damals vielerorts so wie heute – und sollte uns Mut machen.

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