Ralf Stegner über Afghanistan-Einsatz: „Stellten Bürokratie über Humanität“
Drei Jahre nach dem Abzug der Nato spricht der Leiter des Afghanistan-Untersuchungsausschusses über Ignoranz und Fehler. Bald soll Merkel vor dem Gremium aussagen.
taz: Herr Stegner, im Rückblick: Warum ist der Einsatz in Afghanistan gescheitert?
Ralf Stegner: Als die Russen abgezogen sind, hat es zweieinhalb Jahre gedauert, bis die Mudschaheddin übernommen haben. Als der Westen abgezogen ist, waren die Taliban nach zweieinhalb Tagen wieder da. Man muss sich schon fragen, wie das sein kann. Wieso haben wir mit einer korrupten Regierung zusammengearbeitet und uns dann gewundert, dass es ihr gegenüber keine Loyalität gab? Wieso hatten wir so wenig Kenntnis über das Land? Wieso haben wir die afghanischen Streitkräfte so radikal falsch eingeschätzt?
taz: Ja, wieso?
Stegner: Es war mit Abstand der teuerste und längste Militäreinsatz nach dem Zweiten Weltkrieg, und natürlich war nicht alles schlecht. Insbesondere die Entwicklungszusammenarbeit, die war richtig gut. Unsere Entwicklungshelfer haben sich von Korruption ferngehalten, deswegen haben die Deutschen noch immer einen guten Ruf in Afghanistan – das gilt auch für unsere Polizisten und Soldaten. Aber insgesamt ist natürlich das, was man sich da vorgenommen hat, in keiner Weise aufgegangen. Und so war auch das Ende des Einsatzes: Das, was da am Flughafen von Kabul stattgefunden hat, war katastrophal. Dass wir nicht in der Lage sind, ohne amerikanische Hilfe so einen Flughafen zu sichern, ist natürlich ein Problem.
taz: Wie würden Sie sich das alles denn erklären?
Stegner: Wir verwenden manchmal mehr Energie darauf, Zuständigkeiten zu prüfen als Probleme zu lösen. Leider gilt häufig noch die historisch belastete Logik: Wenn sich die Deutschen zwischen Bürokratie und Humanität entscheiden müssen, entscheiden sie sich in der Regel für die Bürokratie. Das ist etwas, was uns von anderen unterscheidet. Nicht, dass die anderen alle karitativ unterwegs waren. Aber die Amerikaner haben wenigstens ihren Ortskräften geholfen, direkt nach Islamabad oder nach Ramstein auszufliegen. Die Deutschen prüfen intensiv, ob jemand wirklich allen Anforderungen genügt, statt im Zweifelsfall zupackend zu helfen.
taz: Das kann man in einem anderen Fall wieder sehen. Gerade hat die Bundesregierung Gelder gekürzt, um Menschen aus der afghanischen Zivilgesellschaft aufzunehmen. Bereits erteilte Zusagen für Leute, die jetzt schon in Pakistan sind, wurden wieder zurückgezogen. Ihnen wird damit gesagt: Geht zurück zu den Taliban.
Stegner: Einerseits ist da die Bürokratie. Andererseits stellen Kräfte wie die AfD diese Leute als Sicherheitsrisiko dar. Ich würde es als eine Mischung aus Ängstlichkeit und Obrigkeitsstaatlichkeit bezeichnen, die dazu führt, dass bislang so wenige Menschen aufgenommen wurden. Und dazu kommt dann noch diese moralische Hybris, mit der in Deutschland außenpolitisches Nichthandeln verklärt wird. Da wird dann gesagt: Lass die Chinesen doch in Kabul die Beziehungen haben, wir wollen keine. Dann darf ich mich natürlich auch nicht wundern, dass all diese Programme nicht funktionieren können.
taz: Zuerst wollte man mit den Taliban nichts zu tun haben, alle Projekte der Entwicklungszusammenarbeit wurden gestrichen. Jetzt will man mit den Taliban reden, um Abschiebungen nach Afghanistan zu ermöglichen. Ist das nicht erschreckend?
Stegner: Ich glaube, dass es möglich ist, sich mit den Taliban darauf zu verständigen, dass sie Leute zurücknehmen. Aber ich gehöre auch zu denen, die sagen: Man muss mit den Taliban ja nicht Botschafter austauschen und rote Teppiche ausrollen. Aber dass man Kontakte braucht, wenn man Einfluss haben will – das ist mein Verständnis von Außenpolitik.
taz: Glauben Sie den Taliban, wenn sie sagen: Ja, wir nehmen Leute zurück, die bei euch schwere Straftäter sind, und versprechen, dass wir denen nichts tun?
Stegner: Also, was heißt glauben? Auch bei den Taliban gibt es Pragmatiker und beinharte Ideologen.
taz: Ja, aber wenn man eine Vereinbarung mit ihnen hat, dann hat man ja eine Unterschrift von jemanden, vom Außenminister zum Beispiel.
Stegner: Wir haben Kontakte, um sicherzustellen, dass Vereinbarungen eingehalten werden, und Möglichkeiten, um das zu überprüfen.
taz: Hat Deutschland ein Interesse daran, das zu überprüfen? Das hat doch unter der früheren afghanischen Regierung schon nicht funktioniert.
Stegner: Da teile ich Ihre Kritik. Wir müssen sicherstellen, dass Leute, die abgeschoben werden, eben nicht gefoltert oder umgebracht werden. Das kann man hinkriegen, wenn man das möchte. Wenn wir wollen, können wir erfahren, ob Zusagen eingehalten werden. Und Afghanistan hätte ja ein Interesse an einer Zusammenarbeit. Das Land ist komplett isoliert, da gibt es bitterste Armut.
Millionen auf der Flucht
Je nach Quellenlage sind während des Nato-Einsatzes in Afghanistan zwischen 2001 und 2021 zwischen 172.000 und 212.000 Menschen getötet worden. Laut Berechnungen der Brown-Universität in den USA waren darunter mehr als 46.000 Zivilist*innen. Etwa 9,6 Millionen Menschen sind auf der Flucht, viele von ihnen müssen als Binnenvertriebene in dem bitterarmen Land ausharren.
Ungeklärte Schicksale
Nach 20 Jahren Militäreinsatz verließ die westliche Koalition das Land am Hindukusch bedingungslos. Die afghanische Armee knickte vor dem Vormarsch der Taliban ein, die Kabul am 15. August 2021 einnahmen. Bilder, wie die Nato-Truppen Hals über Kopf das Land verließen, gingen um die Welt. Bis heute ist das Schicksal zahlreicher Ortskräfte ungeklärt.
Alle Zelte abgebrochen
Die GIZ entlässt bis Ende des Jahres alle ihren lokalen Mitarbeiter in Afghanistan, das bestätigte eine Sprecherin des Entwicklungshilfeministeriums am Mittwoch. Dabei gibt es derzeit auch nur humanitäre Akuthilfe aus Deutschland. Man wolle dies fortan aus einem anderen Land koordinieren, hieß es. (taz)
taz: Ihr Parteifreund Andy Grote aus Hamburg fordert, den subsidiären Schutzstatus für Menschen aus Afghanistan abzuschaffen. Das würde bedeuten, dass nicht nur Straftäter abgeschoben werden könnten.
Stegner: Meine Haltung zu der Flüchtlingsfrage ist: Wir dürfen das nicht den Populisten überlassen. Jeder, der bereit ist, sich zu integrieren, zu arbeiten und Recht und Gesetz zu beachten, sollte eine Chance kriegen. Gewalttäter können nicht bleiben. Ich finde, darauf sollten wir uns verständigen.
taz: Wie stehen Sie zum subsidiären Schutz für Afghaninnen und Afghanen in Deutschland?
Stegner: Ich finde, ein Land wie Deutschland, mit unserer Geschichte und mit den Möglichkeiten, die wir als größte Wirtschaftsnation in Europa haben, muss immer auf Seiten der Humanität stehen. Das ist für mich der Maßstab.
taz: Sie haben einmal gesagt, das Ende der Mission in Afghanistan sei gruselig gewesen. Was würden Sie heute, drei Jahre nach dem Truppenabzug, sagen: Wie groß war der Anteil Deutschlands an diesem Grusel?
Stegner: Da gibt es verschiedene Dimensionen. Die eine ist, dass der Abzug innerhalb der Nato nicht vernünftig koordiniert wurde, dafür trägt in erster Linie der amerikanische Präsident Donald Trump die Verantwortung. Aber es ist eben auch Deutschland nicht gelungen, daran etwas zu ändern. Die zweite Frage ist, was mit unseren Nachrichtendiensten war. Die Informationslage, oder das, was man daraus gemacht hat, war nicht besonders gut.
Der 64-jährigeist Vorsitzender des Afghanistan-Untersuchungsauschusses. Seit Oktober 2021 sitzt er für die SPD im Bundestag. Zuvor war er unter anderem Vorsitzender der SPD in Schleswig-Holstein.
taz: Keine zwei Tage vor der Einnahme Kabuls durch die Taliban rechnete der Bundesnachrichtendienst noch nicht damit, dass das so schnell geschehen würde. Das hat ein Zeuge im Untersuchungsausschuss ausgesagt. Wie kam es zu dieser gravierenden Fehleinschätzung?
Stegner: Diese Frage kann ich nicht vollständig beantworten. Entweder man wollte sich nicht eingestehen, dass die eigenen Analyseansätze vielleicht veraltet sind, oder aber man fand es nicht opportun, realistischeren Einschätzungen zu folgen. Es gab ja auch andere nachrichtendienstliche Quellen, und andere Länder haben ja bisschen früher erkannt, wie gravierend die Lage war. Wir haben bei unseren Befragungen immer wieder gehört: Es ging auch darum, den Eindruck zu vermeiden, wir machen uns da frühzeitig vom Acker. Von einer Fürsorgepflicht gegenüber den eigenen Mitarbeitern konnte man dagegen nicht ganz so viel sehen.
taz: Der Präsident des BND sagte im Ausschuss, die Kritik am Nachrichtendienst sei eine „himmelschreiende Ungerechtigkeit“. Ist es das, was im Ausschuss geschieht? Dass sich Leute gegenseitig die Verantwortung für das Schlamassel zuschieben?
Stegner: Es gab Zeugen, die sich mit Zuständigkeiten herausgeredet haben und andere haben erfreulich Klartext gesprochen und Verantwortung gezeigt. Klar ist: Es gab Fehler bei den deutschen Diensten, aber die Dienste anderer Länder waren auch nicht übertrieben gut informiert. Wir sind bei den Befragungen jetzt auf der Entscheidungsebene, das heißt, jetzt muss man schon nachvollziehen können, wer hat eigentlich was entschieden und warum. Und da sehen wir zwischen Indifferenz, politisch gewünschter Einflussnahme und Nicht-wissen-Wollen das ganze Spektrum.
taz: Sie erwarten in der kommenden Legislaturperiode Angela Merkel und Horst Seehofer im Ausschuss. Überwogen die Interessen des Innenministeriums und der damaligen Kanzlerin, weiter Menschen nach Afghanistan abzuschieben, während die Taliban schon auf Kabul vormarschierten, alle andere Fragen?
Stegner: Was Seehofer angeht, deutet vieles darauf hin. Das Innenministerium war in der heißen Phase vor drei Jahren gerade bei den Visa-Fragen für deutsche Ortskräfte wenig hilfreich. Da wogen innenpolitische Interessen schwerer. Beim Kanzleramt könnte man nach dem, was wir bisher wissen, eher von Indifferenz sprechen. Wir wollen die Zeugen erst dazu befragen, was sie dazu sagen, und dem will ich nicht vorweggreifen. Grundsätzlich sehe ich das altmodisch: Die Verantwortung wächst mit den Schulterklappen. Vielleicht werden wir von den Vertretern der ehemaligen Bundesregierung auch ein paar selbstkritische Einschätzungen hören. Sicher bin ich mir nicht. Aber versuchen werden wir das.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs