Proteste gegen Polens Regierung: „Wir sind Europa!“
Mehr als 100.000 Menschen protestieren in Polen gegen den Anti-EU-Kurs der PiS-Regierung. Sie werfen ihr vor, das Land aus der Union zu führen.
Alleine in der Hauptstadt Warschau versammelten sich 100.000 Demonstranten auf dem Schlossplatz. Sie schwenkten polnische und Europaflaggen und riefen: „Wir bleiben“ und „Wir sind Europa!“.
Zu der Demonstration gegen den angeblich von der PiS gewollten EU-Austritt Polens, den „Polexit“ also, hatte Oppositionsführer Donald Tusk aufgerufen. „Niemand wird sich wundern, dass ich Alarm schlage“, sagte der ehemalige EU-Ratsvorsitzende. „Ein Pseudo-Tribunal hat auf Betreiben des PiS-Parteichefs die Verfassung vergewaltigt und entschieden, Polen aus der EU zu führen“, behauptete Tusk unter regem Applaus, aber auch lauten Störversuchen der rechtsextremen „Konföderation“ und weiterer Splitterparteien vom rechten Rand.
„Es gibt keinen Widerspruch zwischen der polnischen Verfassung und den EU-Traktaten“, beschwor der Warschauer Oberbürgermeister Rafał Trzaskowski, ein Parteigänger von Tusks oppositioneller Bürgerplattform (PO). „Stehen wir zusammen und entfernen wir diese Wahnsinnigen von der Macht!“, forderte Jarosław Kalinowski von der Bauernpartei PSL, der vor Polens EU-Beitritt 2004 weit EU-kritischer war als PiS-Chef Jarosław Kaczyński, Polens heutiger starker Mann.
Politische Vorgaben fürs Oberste Gericht
„Die Menschen, die heute den Staat führen, sind ein großes Unglück für Polen“, sagte derweil in Danzig der einstige Arbeiterführer und Ex-Präsident Lech Wałęsa zu den ebenfalls Zehntausenden von Demonstranten. Kein Feind, der Polen je regiert habe, habe die Menschen im Land derart gespalten wie die PiS, warnte der Friedensnobelpreisträger.
In Warschau kam es am Sonntagabend am Rande der pro-europäischen Demonstrationen vor der PiS-Parteizentrale zu Ausschreitungen mit der Polizei, nachdem der „Frauen-Streik“ dorthin gerufen hatte. Die Polizei setzte Tränengas ein, nachdem ein Polizist von einem Stein verletzt wurde. Mindestens ein Demonstrationsteilnehmer, ausgerechnet der Neffe von Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, wurde festgenommen.
Die Demonstrationen vom Sonntagabend sind die Fortsetzung kleinerer Proteste vom späten Donnerstag. Da hatte das Verfassungsgericht nach einer siebenmaligen Vertagung mit 10:2 Richterstimmen ein Urteil auf eine Anfrage von Premier Morawiecki gefällt. Dieser hatte im März wissen wollen, welches Recht in Polen höher stehe, jenes der EU oder die polnische Verfassung. Das Verfassungsgericht hatte entschieden, dass polnisches Recht über EU-Recht stehe.
Genau dieses Urteil war erwartet worden, denn es widerspiegelt die politische Vorgabe von Kaczyński und dessen PiS. Das Verfassungsgericht, das seit der Wende von 1989 nie wirklich unabhängig vom Willen sämtlicher bisheriger Regierungsparteien war, ist seit der Machtübernahme der PiS im Herbst 2015 – so eindeutig wie nie zuvor – direkt dem PiS-Parteiwillen unterstellt. Glaubt man der Opposition, so sprechen Kaczyński und Gerichtspräsidentin Julia Przyłębska den Zeitplan des Verfassungsgerichts und auch dessen Urteile vorher gemeinsam ab.
EU-Recht als Speisekarte: Man pickt sich das beste heraus
Das Verfassungsgericht wird in Polen von PiS-Parteigängern dominiert. Alleine die Zusammensetzung des Verfassungsgerichts ist gemäß einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg von diesem Mai illegal. Doch auch daran hält sich Warschau nicht mehr, weil, so Kaczyńskis PiS, der EGMR ähnlich wie der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg dauernd „seine Kompetenzen überschreite“.
Dass dies im Falle des EuGH genauso ist, wurde nun also am Donnerstagabend in Warschau abschließend geklärt. Gemäß dem von Kaczyński gekaperten polnischen Verfassungsgericht verstoßen die Artikel 1, 4 und 19 des EU-Vertrags gegen die polnische Verfassung. Die EU-Vertragsartikel regeln den Transfer nationaler Kompetenzen an die EU, die Geltung von EU-Gesetzen und die Kompetenz des EuGH als oberstes Justizorgan, dem sich alle EU-Mitglieder bei der Unterzeichnung des EU-Beitrittsvertrags unterworfen haben.
Im Klartext bedeutet dies, dass sich Polen künftig nicht mehr an EuGH-Urteile halten muss. Dies ist wichtig für die PiS, weil sich mehrere bereits gefällte EuGH-Urteile und auch EU-Vertragsverletzungsverfahren gegen Kaczyńskis Justizreform richten. Kaczyński versucht damit, die bisherige Unabhängigkeit der Gerichte auf allen Ebenen durch eine Parteijustiz zu ersetzen. Regierungskritische Richter werden schon heute mit einem Berufsverbot belegt.
„Unsere Verfassung hat das Primat gegenüber EU-Recht! Das war zu erwarten!“, kommentierte Kaczyński hocherfreut sofort nach dem Verfassungsgerichtsurteil. „Das EU-Recht ist also dem polnischen Recht unterworfen“, so Kaczyński. Kaczyński habe anderen EU-Mitgliedern auf primitivste Art gezeigt, wie man in Zukunft EU-Recht brechen könne, kommentierte hingegen Krzysztof Śmiszek von den oppositionellen Linken. „Das EU-Recht ist seit heute wie ein Menu in einem Restaurant, aus dem Kaczyński auswählen kann, was er möchte. Gewisse EU-Regeln werden angewandt, andere nicht“, prophezeite Śmiszek.
Die PiS braucht Polarisierung – der EU-Streit hilft
Das Verfassungsgericht hat Kaczyński damit nicht nur einen neuen Streitpunkt mit der EU beschafft und damit zusätzliches Öl in den seit 2015 schwelenden Konflikt mit Brüssel gegossen, sondern vor allem ein Wahlkampfgeschenk beschert. In zwei Jahren wird in Polen ein neues Parlament gewählt, vielleicht kommt es auch wesentlich früher zu vorgezogenen Neuwahlen. PiS will dabei ein drittes Mal als stärkste Kraft bestätigt werden. Um dies zu erreichen, braucht Kaczyński einen innenpolitischen Dauerstreit, denn die Polarisierung der Gesellschaft hat ihn 2015 an die Macht gebracht und ihm 2019 die Wiederwahl beschert.
Diesen Dauerstreit hat er nun mit dem Verfassungsgerichtsurteil neu befeuert. Bereits am Donnerstag gab es erste Proteste der Opposition gegen den angeblich von PiS geplanten „Polexit“. Oppositionsführer Tusk gilt als Turbo-Europäer, gegen ihn kann sich Kaczyński am besten als EU-Skeptiker profilieren. Dabei hilft ihm nun dieses auch in Polen umstrittene Verfassungsgerichtsurteil. Mit Tusks Rückkehr aus Brüssel in die polnische Landespolitik hat Kaczyński dazu seinen politischen Erzfeind zurückerhalten, was den alten Kämpen sichtlich beflügelt.
Dazu hat das Verfassungsgerichtsurteil weitere innenpolitische Vorteile: PiS kann sich gegenüber seinem kleinen, EU-feindlichen Koalitionspartner „Solidarisches Polen“ von Justizminister Zbigniew Ziobro sowie auch gegenüber der rechten Kleinpartei Kukiz’15 und der rechtsextremen „Konföderation“ als besonders EU-skeptisch profilieren. Gleichzeitig werden auch die PiS-Hardliner bei der Stange gehalten, die immer wieder beklagt hatten, Kaczyński mache Brüssel zuliebe viel zu große Kompromisse.
Kaczyńskis Risiko ist dabei nicht unbedeutend, denn bereits heute hält die EU eine Tranche von mindestens 24 Milliarden Euro Beihilfen aus dem EU-Corona-Wiederaufbaufonds an Polen zurück. Mit diesem Geldern hat die PiS ein großes Infrastrukturprogramm geplant, das bereits landesweit auf Plakaten beworben wird. Die EU soll Kaczyński also Wahlkampfhilfe leisten, sobald dieses Geld fließt. Dies ist auch ein Grund, weshalb die PiS keinen „Polexit“ plant, auch wenn Tusk und die Opposition das behaupten. Vielmehr soll die EU Polen Geld geben, damit die PiS-Regierung sich weiterhin Wahlgeschenke in Form von Sozialhilfe leisten und damit an der Macht bleiben kann.
Laut Umfragen unterstützen zudem 88 Prozent der Polen die EU-Mitgliedschaft des Landes; nur 9 Prozent sehen diese negativ.
„Wir werden siegen, denn wir sind mehr“, sagte Tusk deshalb am Sonntagabend in Warschau auf dem Schlossplatz. Sicher ist dies indes keineswegs, denn als wichtiger als europäische Werte haben sich in den letzten acht Jahren für die Polen die großzügigen PiS-Sozialleistungen erwiesen.
Sollte es hart auf hart mit Brüssel kommen, hat Kaczyński immer noch einen Trumpf in der Hand: Das Verfassungsgerichtsurteil von Donnerstag wird erst rechtlich bindend, wenn es veröffentlicht worden ist. Bisher wurden heikle Urteile von der Regierung einfach nie veröffentlicht. In die Waagschale bei allfälligen Verhandlungen mit Brüssel kann Kaczyńskis PiS also weiterhin die Veröffentlichung des Urteils werfen, während die Partei im eigenen Land darauf verweisen kann, sie hätte Polens Souveränität vor den EU-Bürokraten gerettet.
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