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Präsidentschaftswahl in BrasilienBrasilien am Scheideweg

Niklas Franzen
Kommentar von Niklas Franzen

Die Wahlen in wenigen Wochen ist die bisher wichtigste der Landesgeschichte. Siegt Bolsonaro erneut, könnte der Umbau zur Diktatur beginnen.

Wahlplakate mit Bolsonaro und Lula in Brasilia Foto: Ueslei Marcelino/reuters

I m politischen Diskurs sollte man sparsam mit Superlativen sein. Es ist allerdings nicht übertrieben, die für den 2. Oktober angesetzte Präsidentschaftswahl in Brasilien als die wichtigste Wahl in der Geschichte des Landes zu bezeichnen. Denn nichts weniger als die Demokratie steht auf dem Spiel. Mit Jair Messias Bolsonaro tritt nicht irgendein Politiker zur Wiederwahl an. Der ultrarechte Amtsinhaber hat nie einen Hehl daraus gemacht, wer er ist und wofür er steht: Er ist ein notorischer Antidemokrat, ein hasserfüllter Rechtsradikaler, ein glühender Bewunderer brutaler Militärdiktaturen.

In den dreieinhalb Jahren seiner Amtszeit hat Bolsonaro eine Spur der Zerstörung im größten Land Lateinamerikas hinterlassen. Seine Angriffe gegen die Umwelt, internationale Konventionen und demokratische Normen haben Brasilien durchgerüttelt. Bolsonaro hat alte Wunden aufgerissen, neue hinzugefügt.

Für Typen wie Bolsonaro sind Wahlen nur ein Mittel zum Zweck. Viele Ana­lys­t*in­nen sind sich sicher: Der ultrarechte Staatschef hätte längst geputscht, wenn er könnte. Doch Brasiliens Institutionen haben sich in den letzten Jahren als überraschend widerstandsfähig erwiesen und vielen autoritären Sehnsüchten des Pöbelpräsidenten getrotzt.

Weiterhin greift Bolsonaro die Medien und die Justiz an

Es ist nicht gelungen, einen offenen Bruch zu provozieren. Ein Grund zur Beruhigung ist das trotzdem nicht. Denn Bolsonaro hat andere Wege gefunden, um das demokratische System auszuhöhlen: mit Attacken auf Medien und die Justiz, durch staatlich legitimierte Gewalt, Eingriffe im Bildungsbereich und den Aufbau von klaren Feindbildern. Wie auch in anderen Ländern geschieht die Erosion der brasilianischen Demokratie in vielen kleinen Schritten, die oft nicht direkt wahrnehmbar sind.

In ihrem Buch „Wie Demokratien sterben“ schreiben die Harvard-Professoren Steven Levitsky und Daniel Ziblatt: „Aber es gibt noch eine andere Art des Zusammenbruchs, die zwar weniger dramatisch, aber genauso zerstörerisch ist. Demokratien können nicht nur von Militärs, sondern auch von ihren gewählten Führern zu Fall gebracht werden, von Präsidenten oder Ministerpräsidenten, die ebenjenen Prozess aushöhlen, der sie an die Macht gebracht hat.“

In Europa wird viel über das Konzept der „illiberalen Demokratien“ diskutiert, in denen eine demokratische Fassade aufrechterhalten wird, um ihre Substanz von innen aufzulösen. Auch hier verschwinden Demokratien meist nicht mehr über Nacht, mit einem großen Knall. Es sind Entwicklungen, oft langfristig angelegte Projekte. Der brasilianische „Autoritarismus über ­Wahlen“ steckt noch in seiner Anfangsphase. Und in vielen Punkten wurden Bolsonaro Grenzen aufgezeigt, vor allem von der Justiz.

Die junge Demokratie steht auf der Kippe

Der Blick in andere Länder offenbart aber auch: Wenn ein Kandidat wiedergewählt wird, öffnet das die Türen für einen autoritären Staatsumbau. Die Entwicklungen in Ungarn, Polen und der Türkei sollten deshalb eine Warnung für Brasilien sein. Eine zweite Amtszeit Bolsonaros wäre ein schwerer Schlag für Brasi­liens junge Demokratie.

So hat er bereits erklärt, den Obersten Gerichtshof umbauen zu wollen. Eine Mehrheit zugunsten konservativer Rich­te­r*in­nen könnte das Gefüge von Staat und Gesellschaft nachhaltig verrücken. Ähnlich wie in den USA, wo unlängst der Supreme Court das Recht auf Abtreibung kippte, könnten dann auch in Brasilien Grundsatzurteile fallen. Was außerdem Sorgen bereiten sollte: Bolsonaro hat angedeutet, rechte Fanatiker in ein mögliches neues Kabinett zu holen.

Vier weitere Jahre unter Kapitän Kettensäge werden für das Weltklima dramatische Folgen haben

Und er wird wahrscheinlich versuchen, autoritäre Projekte wie eine Reform des Antiterrorgesetzes voranzupeitschen. Eine zweite Amtszeit Bolsonaros wäre auch für die Umwelt eine Katastrophe. Der Raubbau am Regenwald hat bereits jetzt verheerende Auswirkungen. Die Prozesse, die unter Bolsonaro an Fahrt aufgenommen haben, werden sich nur schwer zurückdrehen lassen. Vier weitere Jahre unter „Kapitän Kettensäge“ könnten für das Weltklima dramatische Folgen haben. Somit ist die Wahl im Oktober nicht nur eine Richtungsentscheidung über die Zukunft des Landes, sondern eine über den gesamten Planeten.

Gute Chancen für Lula

Gerade sieht es so aus, als könnte es tatsächlich gelingen, Bolsonaro bei der Wahl zu schlagen. Sein Widersacher, der sozialdemokratische Ex-Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva, führt in allen Umfragen. Der schulterzuckende Umgang mit der Coronapandemie, die wirtschaftliche Flaute, sein ungehobelter Ton: Bolsonaro hat in den letzten Jahren viel Unmut auf sich gezogen. Selbst Konservative wendeten sich bestürzt von ihm ab. Dennoch stehen rund 30 Prozent der Bevölkerung auf seiner Seite – nicht trotz, sondern wegen der ständigen Tabubrüche, Provokationen und menschenfeindlichen Politik.

Für Bolsonaro ist es deshalb nicht möglich, sich zu mäßigen. Denn außer seiner Wählerbasis hat er nicht viel vorzuweisen. Jede Abweichung von seinem radikalen Kurs wird hart bestraft. Und so setzt Bolsonaro auch in diesem Wahlkampf auf die totale Konfrontation und versucht den demokratischen Prozess zu delegitimieren. Bolsonaro erklärte, kein anderes Ergebnis als seinen Sieg zu akzeptieren. Er nährt Zweifel am elektronischen Wahlsystem, obwohl dieses erst kürzlich einen Sicherheitstest bestanden hat. „Nur Gott“ könne ihn von der Präsidentschaft entfernen, verkündete er einmal.

Hoffnung auf die Institutionen

So ist es auch nicht verwunderlich, dass Bolsonaro im Januar 2021 mit keinem Wort die Stürmung des US-Kapitols durch fanatisierte Trump-Anhänger*innen verurteilte und Trumps Lüge einer Wahlfälschung sekundierte. Es gilt als sicher, dass auch Bolsonaro die Wahlergebnisse im Falle einer Niederlage anzweifeln wird. Viele rechnen mit Gewalt. Entscheidend wird es deshalb sein, wie das Militär und die Polizei reagieren werden. Fühlen sie sich eher der Verfassung oder dem Präsidenten verpflichtet?

Noch wichtiger ist jedoch, dass Brasiliens Institutionen und die Zivilgesellschaft klare Kante gegen den Autoritarismus Bolsonaros zeigen – bevor es dafür zu spät ist.

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Niklas Franzen
Autor
Niklas Franzen ist Journalist und ehemaliger Brasilien-Korrespondent. Im Mai 2022 erschien sein Buch “Brasilien über alles - Bolsonaro und die rechte Revolte” bei Assoziation A.
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2 Kommentare

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  • sollte man die USA und das UK nicht auch langsam zu der liste der illiberalen demokratien hinzufuegen? beides demokratien mit einem antiquierten wahlsystem, dass das volk und die oeffentliche meinung in nur zwei lager spaltet, polarisiert, politikverdrossen macht, ungerecht ist und grosse teile der stimmen verfallen laesst, und nicht die kraft hat, sich von innen heraus zu erneuern.

  • Platt gesagt: dieselben 30%, die in einem anderen Land, zu einer anderen Zeit, einem gescheiterten Landschaftsmaler hinterherrannten.

    Und da zeigt sich die Schwäche des Konzepts "liberale Demokratie": es ist nämlich exakt diese "liberale" (und nicht: "wehrhafte") Demokratie, die es als "undemokratisch" verleumdet, diesen 30% nicht entgegenzukommen. Aber nach allen historischen Erfahrungen kann eine Demokratie nur dauerhaft existieren, wenn sie diese 30% Geschichtsvergessenen und Tyrannenfreunde als Menschen zweiter Klasse behandelt, auf die keine Rücksicht genommen werden muss, und deren Drang zur Macht im Notfall auch mit tödlicher Gewalt zerschlagen werden muss. Deren Herrschaftsanspruch, kurz gesagt, nie und nimmer toleriert werden darf.

    Denn autoritäre Köterhirne an die Macht zu lassen, geht immer schief.