Postsowjetische Ungerechtigkeit: Das Chaos exportieren
Korruption und wirtschaftliche Stagnation schüren den Unmut in Ex-UdSSR-Staaten. Der Krieg soll Russland vor einer inneren Explosion bewahren.
D er Krieg in der Ukraine wurde nicht durch die geopolitische Konfrontation zwischen dem Westen und Russland, sondern durch die Struktur der postsowjetischen Gesellschaft selbst unvermeidlich. Die Herrschenden in Russland hatten keinen anderen Ausweg aus der Sackgasse, in die sie geraten waren. Im November 2021 veröffentlichte Wladislaw Surkow, einer der Hauptarchitekten des Putin-Regimes, einen Artikel, in dem er feststellte, dass die einzige Möglichkeit, Russland vor einer inneren Explosion zu bewahren, darin bestehe, das Chaos nach außen zu exportieren.
Das postsowjetische Russland hat sich in den 30 Jahren seines Bestehens zu einer Kastengesellschaft entwickelt. Dieser Wandel begann mit der Schocktherapie und der kriminellen Privatisierung in den 1990er Jahren, die den nationalen Reichtum in den Händen einer kleinen Oligarchie konzentrierte. Unter der Herrschaft Putins wurde die soziale Ungleichheit weiter befestigt. Die unantastbaren Spitzenbeamten geben ihre Macht de facto durch Vererbung weiter.
Der Sohn des Chefs des Sicherheitsrats Nikolai Patruschew, Dmitri, ist Landwirtschaftsminister. Der Sohn des ehemaligen Ministerpräsidenten und Direktors des Auslandsgeheimdienstes, Michail Fradkow, ist stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung. Es gibt Hunderte solche Beispiele. Soziale Mobilität gibt es kaum noch. Untersuchungen zeigen, dass die reichsten 10 Prozent der russischen Stadtbewohner in 70 Prozent der Fälle ihren Reichtum von ihren Eltern geerbt haben.
Eine solche Sozialstruktur macht wirtschaftliches Wachstum unmöglich. Das durchschnittliche BIP-Wachstum betrug in den 2010er Jahren weniger als ein Prozent pro Jahr. Die Einkommen der Bevölkerung sind seit 2014 rückläufig. Dies führte zu wachsendem Unmut, vor allem unter den jungen Menschen, die keine Zukunft in einem Land sehen, das in feudale Archaik verfallen ist.
war von 2011 bis 2013 führender Aktivist der Anti-Putin-Protestbewegung. Er lebte 6 Jahre im schwedischen Exil, kehrte aber zurück, um seinen Kampf fortzusetzen. Sakhnin ist Mitglied des Progressive International Council und der Socialists Against War.
Alle Versuche, eine autoritäre Modernisierung nach chinesischem Vorbild voranzutreiben, scheiterten, weil sie die etablierte Verteilung von Macht und Reichtum, die Kontrolle über die wichtigsten Güter des Landes, untergruben. Der Staatsapparat hatte nur einen Zweck: die Erträge aus der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen in den Händen der alternden Oligarchie zu halten.
Teure Bestechung
Um diese Aufgabe zu bewältigen, bestach der Kreml systematisch Eliten auf allen Ebenen. Die Korruption verschlang jährlich Summen, die vergleichbar mit dem gesamten russischen Haushalt sind. Das Ausmaß wurde deutlich, als Hunderte Millionen Rubel und zahlreiche Wertgegenstände aus dem Palast des ehemaligen Gouverneurs der Region Pensa, Iwan Belosertsew, entwendet wurden.
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski beschrieb, dass Moskau in den Nachbarländern mit den gleichen Methoden um Einfluss ringt. Putins Entourage hat ukrainische Oligarchen, Regionalpolitiker und Vollzugsbeamte korrumpiert. Doch die wirtschaftliche Stagnation schränkte die Möglichkeiten des Kremls ein, sich Loyalität zu erkaufen. Konflikte zwischen Putins engsten Oligarchen und regionalen „Baronen“ traten an die Oberfläche.
Die Verhaftung des Gouverneurs von Chabarowsk, Sergei Furgal, löste die Massenproteste im Jahr 2020 aus. Infolge der Pandemie gerieten die regionalen und lokalen Haushalte endgültig aus dem Gleichgewicht. Der drohende Bankrott der Regionen untergrub die Loyalität der lokalen Eliten. Die belarussische Krise 2020 hat gezeigt, dass der Kreml den Wettbewerb um Einfluss in den postsowjetischen Ländern verliert.
Partei des Krieges
Viele belarussische Diplomaten und Beamte, darunter einer der Gouverneure, unterstützte daraufhin die Opposition. Um an der Macht zu bleiben, musste Alexander Lukaschenko mit blankem Terror gegen die Demonstranten vorgehen. Russland stationierte seine Truppen entlang der belarussischen Grenze, um seine Bereitschaft zu demonstrieren, mit Gewalt die Kontrolle über das Land zu behalten.
Um die Loyalität der „Vasallen“ im In- und Ausland aufrechtzuerhalten, bediente sich Russland nicht nur der üblichen Korruption, sondern zunehmend auch der Androhung oder Anwendung von Gewalt. Es bildete sich eine „Partei des Krieges“, die den Ausweg aus der Sackgasse darin sah, den Westen dazu zwingen, den „politischen Markt“ der postsowjetischen Länder zu verlassen. Die nach außen gerichtete Gewalt erschien als das perfekte Mittel, um Unruhen innerhalb Russlands zu verhindern.
„Die soziale Entropie ist sehr giftig“, so schrieb Wladislaw Surkow. „Sie muss exportiert und im Ausland entsorgt werden.“ Wenn der Blitzkrieg gelungen wäre, hätte die Putin-Oligarchie ein paar Jahre Friedhofsruhe genießen können. Doch der „Entropieexport“ ist gescheitert. Aber für die „Partei des Krieges“ gibt es keinen Weg zurück. Diese Leute in der Armee, im Geheimdienst und im Propagandaapparat werden alles durch den Frieden verlieren. Und jeder Tag des Gemetzels stärkt ihre Position innerhalb des Machtapparats.
Die „Partei des Krieges“ ist keine zufällige Koalition von verrückten Nationalisten. Sie ist das zwangsläufige Produkt einer Gesellschaft der unbeweglichen Ungleichheit. Das wahre Fleisch und Blut des Putinismus sind jene 100.000 reichen Russen mit Vermögen von mehr als 2 Millionen Euro, das sie sicher in Residenzen in Westeuropa verwahren. Sie sind es, die – mit der vollen Unterstützung der westlichen Regierungen – das Putin-Regime geschaffen haben und nun weiterhin das tägliche Funktionieren der Diktatur sicherstellen.
Solange Russland zu diesem gesellschaftlichen Monster gehört, wird der Krieg niemals enden. Die herrschende Kaste wird in der Gewalt einen Ausweg aus der Sackgasse suchen. Um diese Bestie ihrer Macht und ihres Reichtums zu berauben, ist auch der Westen gefragt.
Aus dem Englischen von Jan Schroeder
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