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Sie wollen nur reden

Auf St. Pauli eskaliert der Konflikt zwischen der Polizei, die Schwarze Drogendealer verfolgt, und linken Anwohnern. Die Polizei will nun auf die Nachbarschaft zugehen – doch nicht alle dort trauen dem Frieden

Illustration: Oliver Sperl

Aus Hamburg-St. Pauli Robert Matthies (Text) und Oliver Sperl (Illustration)

Es ist schon lange eine alltägliche Szene an der Balduintreppe in Hamburg-St. Pauli, die zwischen den berühmten Hafenstraßenhäusern zum Fischmarkt herunterführt: Am Geländer stehen am späten Nachmittag junge Männer, um Drogen zu verkaufen. Cannabis, aber auch Kokain bekommt man, kurzer Blickkontakt und Nicken reichen, ringsum sind kleine Gebüsche, in denen die Dealer kurz verschwinden können. Nicht nur am Wochenende gibt es genug Kund:innen, von der Partymeile Reeperbahn ist es nicht weit.

Jahrelang tobte direkt hier der Häuserkampf, immer wieder versuchte der Senat die Anfang der 1980er Jahre besetzten Häuser an der Sankt Pauli Hafenstraße von der Polizei räumen zu lassen, um sie abzureißen und ein für allemal Schluss zu machen mit dem „rechtsfreien Raum“ und den Straßenschlachten. Heute haben die An­woh­ne­r:in­nen Nutzungsverträge und kämpfen nicht mehr gegen Räumungen, sondern gegen die Gentrifizierung ringsum. Und auf der Treppe kann man im Sommer zwischen den bunten Graffitiwänden und unter Baumwipfeln ganz gemütlich sitzen und auf den Hafen blicken.

Wenn denn nicht gerade doch wieder ein Polizeieinsatz die Ruhe stört. Denn seitdem die Polizei vor sechs Jahren eine „Taskforce Betäubungsmittelkriminalität“ eingerichtet hat, „zur Intensivierung der Maßnahmen zur Bekämpfung der öffentlich wahrnehmbaren Drogenkriminalität“, gibt es im Süden St. Paulis mit seiner alteingesessenen linken Szene und seinem sozialen Gedächtnis voller Auseinandersetzungen mit der Polizei einen offenen Konflikt zwischen Ordnungsmacht, An­woh­ne­r:in­nen und antirassistischen Ak­ti­vis­t:in­nen.

Nicht nur an der Balduintreppe wurde die Polizeipräsenz massiv erhöht. Vier-, fünfmal in der Stunde laufe heute eine mehrköpfige Polizeistreife in gelben Westen an seiner Tür vorbei, schimpft einer der Ak­ti­vis­t:in­nen im anarchistischen Buchladen Incito zwischen Reeperbahn und Balduintreppe. „Und überall Zivibullen! Ich bin echt auf Zinne!“ Seit 21 Jahren ist das Gebiet eine polizeirechtliche Sonderzone, ein „gefährlicher Ort“, an dem Po­li­zis­t:in­nen je­de:n ohne Vorliegen einer Gefahr, also verdachtsunabhängig kontrollieren können.

Früher sei die Polizei auch regelmäßig gegen die Dealer vorgegangen, erzählt ein Anwohner im Café des Golden Pudel Clubs unweit der Balduintreppe, direkt am Kunstprojektpark Park Fiction, über dem an Sommerabenden immer Grasgeruch liegt. Aber größere Konflikte habe es selten gegeben, und Absprachen mit den Dealern funktionierten bis heute: keine Deals vormittags und vor der Schule direkt gegenüber der Balduintreppe zum Beispiel.

Für viele hier ist die Anwesenheit der Dealer zwar durchaus ein Problem und unangenehm, aber das kleinere Übel, erzählt ein anderer Anwohner, der direkt neben der Balduintreppe und jenem Garten eines linken Hausprojekts wohnt, den die Polizei immer wieder im Zuge ihrer Schwerpunkteinsätze durchsucht. Viel bedrohlicher seien für die meisten die massive Polizeipräsenz und die permanenten Kontrollen junger Männer mit dunkler Hautfarbe.

Man könne sich als Schwarze Person dort gar nicht aufhalten, ohne von der Polizei kontrolliert zu werden, sagt ein Sprecher der Initiative Bal­duin­treppe am Telefon zur taz. Seit dem Tod von Jaja Diabi 2016 setzt sich die Initiative mit den Polizeikontrollen im Stadtteil auseinander. Der 21-jährige Diabi erhängte sich in seiner Zelle, nachdem er wegen Fluchtgefahr einen Monat lang eingesperrt worden war, obwohl er mit nur gerade mal 1,65 Gramm Marihuana auf St. Pauli festgenommen worden war.

Die Polizei verteidigt sich, man kontrolliere nicht allein aufgrund der Hautfarbe. Immer gebe es einen Bezug zur Gefahr, also zur Drogenkriminalität. „Szenetypisches Verhalten“, heißt das im Polizeideutsch.

Aber Rassismus zeige sich auf mehreren Ebenen, so erklärt es der Sozialarbeiter Daniel Manwire, der sich seit Jahren mit dem Thema Rassismus und Racial Profiling auseinandersetzt und Vorträge zum Thema hält, der taz am Telefon. Entscheidend sei, dass es um die Bekämpfung einer „öffentlich wahrnehmbaren“ Drogenkriminalität gehe. „Die öffentliche Wahrnehmung von Drogenkriminalität ist in den vergangenen Jahrzehnten immer an das Klischee des schwarzen Dealers gebunden gewesen und tief rassistisch aufgeladen.“ Die gesamte Konstruktion des Problems und die Einrichtung von Gefahrenort und Task Force sei damit rassistisch. „Dann hat man diese öffentliche Inszenierung: Wer hat Angst vorm schwarzen Mann? Dann kommt die Polizei: Ja, was ist denn das? Mit jeder Kontrolle reinszeniere ich so eine rassistische Aufführung.“

Zwei Jahre nach Einführung der Task Force zog die Polizei 2018 Bilanz und war überzeugt von einer „breiten gesellschaftlichen Akzeptanz“ der Maßnahmen im Viertel. Im selben Jahr stockte sie die Task Force noch einmal personell auf – und Ak­ti­vis­t:in­nen reagieren seitdem auch mit Copwatch: begleiten, dokumentieren und stören die Kontrollen. Nicht selten eskaliert da die Situation.

Seitdem scheint auch die Polizei zunehmend an der Akzeptanz der Maßnahmen zu zweifeln. Im vergangenen Jahr beauftragte die von der Bürgerschaft nach dem eskalierten G20-Gipfel eingerichtete Forschungsstelle für strategische Polizeiforschung (Fospol) der Hamburger Polizeiakademie eine Studie „zur Bearbeitung des örtlichen Drogenproblems“.

Durchgeführt hat die im Dezember veröffentlichte „Multi-Stakeholder-Konfliktanalyse im Stadtraum ‚Balduintreppe‘ “ die Sozialanthropologin Nadja Maurer. Für sie ist es eine Studie über verhärtete Fronten, Meinungen und Stadtpunkte in einem Konflikt, in dem gar nicht geklärt sei, worum es ginge: Drogenhandel? Oder Rassismus und Polizeigewalt?

Maurer hat Feldforschung betrieben und Interviews mit Polizist:innen, Anwohner:innen, Ak­ti­vis­t:in­nen und einem Drogenhändler geführt. Das Problem, so die Studie, seien vor allem „gegenseitige Schuldzuweisungen bei gleichzeitigem Ignorieren der jeweiligen Eigenanteile“. Die Lösung: Vorurteile abbauen über „eine strukturierte und begleitete Verständigung“. Mit „herkömmlichen polizeilichen Mitteln“ sei der Konflikt „nicht bearbeitbar“.

Im Stadtteil sorgt die Studie für Unruhe. Rassismus und Racial Profiling würden von vornherein ausgeklammert, kritisiert Chris, einer der Ak­ti­vis­t:in­nen. Tatsächlich steht im Forschungsbericht zu „strukurellem Rassismus in der Polizei“ nur ein Absatz. Das „inzwischen inflationär gewordene Vorwerfen ‚rassistischer Polizeigewalt‘seitens der Bevölkerung“ sei ebenso wenig erhellend „wie der gebetsmühlenartig wiederholte Verweise auf ‚Einzelfälle‘seitens der Polizei“, steht da. Und dass Rassismusvorwürfe nichts über die Anzahl rassistisch motivierter Handlungen aussagten, „wohl aber darüber, dass das Thema präsenter, medialer und in der gesellschaftlichen Mitte angekommen ist“.

Wenn das Problem nicht erkannt werde, findet Chris, könne man es aber nicht angehen. Statt zu einer politischen Lösung beizutragen, begründe die Studie eine neue Praxis des „Polizierens des Stadtteils“, die sich auf das Konzept des Community Policings stütze. Das setzt auf Kooperation zwischen Polizei und Bür­ge­r:in­nen und soll die Legitimität polizeilichen Handelns durch ­Partizipation stärken. Für die Ak­ti­vis­t:in­nen ist das nur ein weiterer Schritt in der Verpolizeilichung des Konflikts. Die Polizei versuche Vertrauen zu gewinnen, auch um an Informationen zu kommen, die, so die Sorge der Aktivist:innen, nicht zuletzt den Verfassungsschutz interessieren.

„Dann hat man diese öffentliche Inszenierung: Wer hat Angst vorm schwarzen Mann? Dann kommt die Polizei: Ja, was ist denn das? Mit jeder Kontrolle reinszeniere ich so eine rassistische Aufführung“

Daniel Manwire, Sozialarbeiter und Racial-Profiling-Kritiker

Nächster Schritt: Die Polizei, dein Freund und Helfer

Umstritten ist auch der nächste Schritt, der an die Studie anschließen soll: das „Pilotprojekt St. Pauli: Partnerschaft zwischen Polizei und Quartier“. In einem über mehrere Monate laufenden Workshop-Format will Maurer ab April „Po­li­zis­t:in­nen und Anwohner:innen“ zusammenbringen: „Von den Be­woh­ne­r:in­nen lernen Po­li­zis­t:in­nen ‚in Zivil‘das Quartier und dessen Bedürfnisse kennen.“ Und, auf der anderen Seite: „Anwohnende begegnen der Polizei in nichtkonfliktiven Situa­tio­nen. Vorurteile und Misstrauen sollen abgebaut und Themen des Quartiers gemeinsam bearbeitet werden.“

Als „Mission“ nennt das Projekt den „Aufbau gesunder und verbindlicher Beziehungen, um Vertrauen und Toleranz zu steigern und das Niveau der Ablehnung gegen die Polizei zu reduzieren“. Nicht nur die Polizei soll dabei lernen, Anwohnende sollen „sensibilisiert werden“, eine „Ownership für Konflikte“ übernehmen und „Verantwortung für eine gelingende Nachbarschaft“.

Beim Verein Gemeinwesenarbeit St. Pauli (GWA), der nicht weit von der Balduintreppe am Hein-Köllisch-Platz das Stadtteilzentrum Kölibri betreibt, will man sich zumindest in dieser Form nicht am Pilotprojekt beteiligen. „Wir finden es natürlich positiv, dass dieses Thema von politischer Seite ernst genommen wird und es scheinbar Handlungsbedarf gibt“, sagt Steffen Jörg, bei der GWA zuständig für Stadtteilarbeit.

Aber das Pilotprojekt sei ein Schritt in die falsche Richtung. „Wir erkennen in dem Projekt nicht, dass es grundlegend darum gehen kann, wie die Situation im Stadtteil aussieht, wie die Konstruktion der Drogen-Task-Force ist und welche Pro­ble­me es mit strukturellem Rassismus in Institutionen gibt.“

Derzeit sucht Maurer für den umstrittenen Workshop Räume. Leicht wird das nicht werden. Ein Plakat im Fenster des anarchistischen Buchladens Incito fordert dazu auf, „sich weder an diesen polizeilich organisierten Workshops zu beteiligen noch Räumlichkeiten dafür zur Verfügung zu stellen“.

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