Polizeigewalt vor Gericht: Dem Korpsgeist getrotzt
Ein junger Polizist zeigt seinen Kollegen an, nachdem der einen Häftling misshandelt hat. Das Gericht verurteilt ihn zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung.
Was er tut, ist spektakulär: Er bricht mit dem ungeschriebenen Gesetz, dass Polizist:innen nicht gegen Kolleg:innen aussagen. Es ist ein bisschen schade, dass kaum jemand da ist, um den Moment zu würdigen. Immerhin sitzen zwei junge Polizisten im Zuschauerraum und hören, dass Macht kein Freibrief ist.
Laut Anklage hat der Polizeibeamte Christian W. im Mai 2024 den Kopf des vorläufig festgenommenen Imants Z. absichtlich gegen einen Türrahmen gestoßen. Danach habe W. dem auf dem Boden liegenden und gefesselten Mann zweimal mit dem Fuß gegen die Stirn getreten. W. bestreitet das. Er ist ein kräftiger Mann in Jackett und Hemd, seit 30 Jahren Polizist.
Dass er nun wegen einer „Diensthandlung“, so beschreibt er den Vorfall, auf der Anklagebank sitzt, belaste ihn „gewaltig“. Z. habe ihn ins Bein gebissen und daher habe er dessen Gesicht mit der Innenseite seines Schuhs beiseite geschoben. Sein Anwalt nennt das „maßvoll“. Allerdings: Die Zeugen vor Gericht erinnern sich mehrheitlich nicht an ein maßvolles Beiseiteschieben. Sie erinnern sich an Tritte.
Doppelt gefesselt
Imants Z. war in einem Supermarkt beim Ladendiebstahl erwischt worden. Er leistete heftigen Widerstand gegen seine Festnahme; die Beamten fesselten ihn an Armen und Beinen. Als er auf der Wache keine Anstalten machte, aus dem Auto auszusteigen, trugen sie ihn hinein. Es wird später unterschiedliche Aussagen dazu geben, ob der augenscheinlich alkoholisierte Imants Z. weiter Widerstand leistete.
Sicher ist: Er war doppelt gefesselt. Und unbestritten ist, dass Christian W. vom Inneren der Wache aus Z. hineinzog. Der Zeuge C. sagt, es habe plötzlich einen Ruck gegeben und Z.’s Kopf sei gegen den Türrahmen geknallt. Daraufhin habe er Blickkontakt mit W. gehabt.
C. sagt nicht viel mehr zu diesem Kontakt. Im Nachhinein scheint es ein erstes Signal für ihn gewesen zu sein, dass etwas passierte, was nicht passieren sollte. „W. hat mit der Pike gegen seine Stirn getreten und gesagt: ‚Du rotzt mir nicht auf meine Schuhe‘“, sagt C. Er habe kein Rotzen gesehen. Auch keine Bisse, wie von W. behauptet. Der Festgenommene habe geschrien. Daraufhin habe W. erneut getreten.
„Ich habe so etwas noch nie in meinen vier Wänden erlebt“, sagt C. und meint mit den vier Wänden das Kommissariat. Er ist damals erst seit knapp drei Wochen in der Schicht. „Ich war überfordert“, erinnert er sich.
Er spricht seinen Kollegen W. nicht an. Er schreibt weder etwas über die Tritte noch über den Stoß in seinen Bericht. Aber er muss abends im Bett an die Schreie von Z. denken – und beginnt mit seinen Kollegen darüber zu sprechen, ob nur er das Gefühl hat, dass am 14. Mai eine Grenze überschritten wurde, die man nicht überschreiten darf.
Polizeianwärter sagt aus
Zwei Kollegen waren bei dem Vorfall dabei, beide noch jünger als C. Der eine, S., 25 Jahre alt, hat hinter dem Tresen die Formulare ausgefüllt und kann sich an nichts erinnern. Keine Schreie, keine Tritte.
Der andere Zeuge, B., ist 21 Jahre alt, kinnlanges Haar, Anorak, Polizeianwärter, der sein erstes Praktikum im Polizeikommissariat (PK) 47 macht, als Imants Z. dorthin gebracht wird. Er kann sich sehr deutlich erinnern: „Herr W. hat ihn getreten“. Aber auch B. hat nichts davon in seinen internen Bericht geschrieben.
Genau das hinterfragt W.’s Anwalt, ausführlich, sowohl bei B. als auch bei C. „Ich wusste nicht, wie ich es da hineinschreiben soll“, sagt C. Vermutlich könnte er auch sagen: Ich hatte Angst vor den Folgen, wenn ich einen Kollegen, der 30 Jahre im Dienst ist, anzeige.
Letztlich hat C. genau das getan: Er ging zum Dienststellenleiter und erzählte ihm von dem Vorfall. Damit war alles Weitere klar: Bei Körperverletzung im Amt muss Anzeige erstattet werden. „Wie geht es Ihnen persönlich damit?“, fragt der Richter. „Es ist generell ein sehr schlechtes Gefühl“, sagt C. „Ich bin nicht mit der Absicht gekommen, Kollegen anzuzeigen. Sondern damit, dass wir als Polizei Leuten helfen.“
Imants Z., der mutmaßlich Geschädigte, so heißt es in der Sprache des Gerichts, trägt auch heute Fußfesseln. Zwei Justizbeamte bringen ihn aus der Justizvollzugsanstalt Vechta. Z. sagt ohne große Beteiligung aus – für ihn scheint es hier um wenig zu gehen. Erinnern kann er sich an: nichts.
Der Richter hält ihm die Aussage vor, die er in seinem Prozess gemacht hat: „Ich wurde vom Arzt im Gefängnis begutachtet. Er meinte, mein Gesicht sei blau. Ich hatte mehrere Verletzungen. Sie waren aber nicht alle von Herrn Kilic.“ Mit Herrn Kilic hatte sich Z. im Supermarkt geschlagen. „Woher kamen die anderen Verletzungen?“, fragt der Richter nun. Z. kann es nicht sagen.
Natürlich ist dies eine Lücke, in die der Anwalt vorstoßen kann, und genau das tut er. Es gibt ein Gutachten des Arztes, der Z.’s Verwahrfähigkeit, so heißt es in der Justizvollzugssprache, geprüft hat. Dort ist von keinerlei Auffälligkeiten die Rede.
Denkwürdiger Moment
Und nun kommt ein weiterer denkwürdiger Moment in diesem insgesamt denkwürdigen Prozess: Ein junger Mann im Publikum steht auf und sagt, dass er dem Richter etwas mitteilen möchte. Ein bisschen weht eine Ahnung vom Club der toten Dichter durch den Raum 3.06 des Amtsgerichts, eine Variation des Moments, als immer mehr Schüler aus Protest gegen ihren Direktor auf die Tische steigen.
Der neue Zeuge ist ebenfalls Beamter des PK 47. Er kam am Abend des 14. Mai zu Z.’s Zelle, als dieser klingelte. „Er hatte ein demoliertes Gesicht“, sagt der Beamte. „Ich habe das nicht groß hinterfragt, ich dachte, es sei wegen der Widerstandshandlungen.“ Er habe sich daraufhin eher Sorgen um die Kollegen gemacht und gefragt, ob bei ihnen alles in Ordnung sei. „Z. wirkte sehr eingeschüchtert“, sagt der Zeuge noch, „der Verwahrarzt war schon da gewesen“. Das heißt: Der Arzt hat die Verletzungen schlicht nicht festgehalten.
„Was hat all das mit Ihnen gemacht?“, fragt der Richter den Angeklagten, so wie er es schon den Zeugen C. gefragt hat. W. ist nach der Anzeige zur Straßenverkehrsbehörde versetzt worden. „Ich bin nicht Polizist geworden, um Halteverbote zu genehmigen“, sagt er. „Das ist keine Polizeiarbeit.“ – „Haben Sie sich dienstrechtlich kundig gemacht?“, fragt der Richter, denn auf W. wartet noch ein dienstrechtliches Verfahren. „Durchaus“, sagt W. „Von bis ist dort alles möglich.“
Die Staatsanwältin fordert für ihn eine Geldstrafe von 160 Tagessätzen à 100 Euro. Der Richter sieht auf die Uhr, es ist 13.38 Uhr. Bis 13.50 Uhr will er das Urteil fällen. Es liegt deutlich über dem, was die Staatsanwältin gefordert hat. W. wird wegen Körperverletzung und gefährlicher Körperverletzung im Amt zu neun Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt.
Die Begründung ist fast ein Besinnungsaufsatz für die Polizei. Es sei „erschreckend“, dass W., der doch eine Vorbildfunktion habe, vor den Augen der jungen Kollegen eine wehrlose Person getreten habe. Und dann sagt der junge Richter, der bisher nicht durch Pathos aufgefallen war: „Ich will es wiederholen: Die Ehre der Polizei wurde hochgehalten von einem Beamten, der sich getraut hat, Anzeige gegen einen Vorgesetzten zu erstatten.“
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