Parteitag der Grünen: Willkommen, graue Wirklichkeit
Der Druck auf die Grünen in diesen Tagen ist enorm. Zum Auftakt ihres Parteitags üben sie sich im Umgang damit – durch Pragmatismus.
Man lasse sich nicht zurück in die Nische schieben, sagt auch der Parteivorsitzende Omid Nouripour. Es gebe Angriffe, „weil wir im Zentrum des Geschehens stehen“. Auch Vorsitzende Ricarda Lang schwenkt auf den Kurs des Pragmatismus ein: „Wenn man immer die reine Lehre vertritt, landet man wie FDP und Linkspartei im Abseits“, sagt sie mit Blick auf die vergangenen Landtagswahlen.
Trotz Wahlniederlagen in Bremen, Bayern und Berlin. Obwohl man in Hessen aus der Regierung geflogen ist. Und trotz des harten Gegenwinds, den Robert Habeck mit seinem Heizungsgesetz erlebt hat: Es ist ein einigermaßen heiteres Jetzt-erst-Recht, was da vom ersten Tag des Parteitags in Karlsruhe ausgeht. Hier hatten die Grünen sich schon vor 42 Jahren zum Gründungsparteitag versammelt.
Früher wäre in so einer Situation eine Kursdebatte zwischen Realos und Fundis ausgebrochen. Heute sind es nicht die Grünen, sondern 500 Mitglieder der FDP, die ihre Parteiführung zum Austritt aus der Ampelkoalition nötigen wollen – während Wirtschaftsminister Robert Habeck die Grünen weiter auf Pragmatismus einschwört.
Gemeinsame Feinde
Den größten Applaus bekommt er aber, als er sagt: „Ich höre immer, die Grünen müssten in der Realität ankommen. Ich kann es nicht mehr hören“. Da jubelt der Parteitag. Die Grünen hätten längst die Realitäten von Krieg, Klimakrise und Migration angenommen, so Habeck. Die Realität hätten die Parteien der großen Koalition verweigert: „Die Groko hat uns in diese Lage gebracht. Realitätsblind gegenüber Putin, China, gegenüber der Klimakrise. Immer nur leere Phrasen, Gesetze ohne Konsequenzen. Und jetzt soll die Groko wieder ein Kassenschlager sein?“
Es sind die gemeinsamen Feinde, die die Grünen einen. Für die Delegierten ist der Feind häufig der Koalitionspartner FDP, für die Funktionsträger eher Friedrich Merz, dem Omid Nouripour attestiert, nicht einmal Opposition zu können: „Das kann doch nicht sein, dass eine Opposition mehr die Niederlage der Regierung will als den Erfolg des Landes“, sagt er und reimt: Das Land brauche „mehr Herz als Merz“.
Und es gibt einen neuen Hauptfeind, zu dem viele Grüne in Regierungsverantwortung lange ein entspanntes Verhältnis hatten: die Schuldenbremse. Mit dem jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichts stehen Milliardeninvestitionen für Klimaschutz, Infrastruktur und Wirtschaftsumbau nicht mehr zur Verfügung.
Habeck vergleicht dieses Hemmnis mit Blick auf die Weltwirtschaft mit einem Boxclub ohne Regeln: „Mit der Schuldenbremse, wie sie ist, haben wir uns freiwillig die Hände hinter dem Rücken gefesselt“, sagt er mit Blick auf Subventionsprogramme in China und den USA. „Die anderen wickeln sich Hufeisen in die Handschuhe – wir haben noch nicht mal die Arme frei.“ Zu diesem Zeitpunkt hatte Finanzminister Christian Lindner bereits angekündigt, die Bremse für den Haushalt 2023 auszusetzen.
Welle von rechts
Doch so laut die Kritik auch ist: Ein zentraler Dringlichkeitsantrag, der die Schuldenbremse in jeder Form „für eine gerechtere Welt“ abschaffen will, wird mit großer Mehrheit abgelehnt. Es ist ein erstes Zeichen, dass die Delegierten der Parteiführung folgen und sich nicht in der Nische der reinen Lehre verkriechen wollen. Und es lässt ahnen, dass es beim Thema Asyl ebenso so sein wird. Diese Debatte hat die Parteitagsregie in der Tagesordnung auf die Nacht zum Sonntag verlegt, parallel zum Parteiabend.
Habeck streift die Migrationsfrage am Donnerstag lediglich kurz. Winfried Kretschmann hingegen, der einzige grüne Regierungschef, geht ausführlich auf das Thema ein: Er warnt vor einer rechtspopulistischen Welle in Europa. Am Vorabend erst haben die Niederländer den Rechtspopulisten Geert Wilders zur stärksten politischen Kraft gemacht.
Mehr Arbeitsmigration und weniger irreguläre Migration sei der Weg, das Asylrecht zu verteidigen und letztlich die Demokratie zu schützen, sagt Kretschmann. Was er nicht erwähnt: Sein eigener Koalitionspartner, die baden-württembergische CDU, hat gerade einen Beschluss gefasst, der sich für eine faktische Abschaffung des individuellen Asylrechts ausspricht.
Israels Existenzrecht und palästinensisches Leid
Es ist schon nach Mitternacht, als der Parteitag eine Resolution zum Israel-Gaza-Konflikt einstimmig verabschiedet, mit der er sich klar an die Seite Israels stellt, der Hamas die Schuld an der Situation im Gazastreifen vor und nach dem 7. Oktober zuweist, den illegalen Siedlungsbau im Westjordanland ablehnt und sich für eine Zweistaatenlösung ausspricht.
Die grüne Außenministerin und Parteichefin Annalena Baerbock hat zuvor in einer wirkungsvollen Rede vor einer totenstillen Halle die Haltung ihrer Außenpolitik und ihrer Partei gleichermaßen dargelegt: klar auf der Seite Israels, aber das Leid der Menschen auf beiden Seiten im Blick.
Israel habe das Recht und die Pflicht, seine Bürger zu verteidigen. Dem hätten frühe Rufe nach einem Waffenstillstand widersprochen. Klar müsse aber auch sein, dass Israel gegen die Hamas kämpfe, nicht gegen die Palästinenser, sagt Baerbock. Ihr Ausblick auf die internationalen Auswirkungen des Kriegs in Gaza sind düster: „Mit jedem Tag werden die Gräben tiefer, auch international.“
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