Parteiprogramme für die Bundestagswahl: Koalition mit Weitblick
Es braucht eine Regierung, die Visionen für die nächsten Jahrzehnte mitbringt. Drängende Fragen wie Klima und Migration müssen angepackt werden.
D rei Anwärter aufs Kanzleramt krebsen um die 20-Prozent-Marke, keine drängt sich als überzeugende Nachfolgerin Angela Merkels auf. Baerbock schreibt ab, Laschet boxt, Scholz isst Currywurst – mit solchen Petitessen verkauft man Wähler für dumm. Wer ohne Spitzenkandidaten nicht auszukommen meinte, weiß jetzt, was man sich damit einbrockt. Vergessen wir das glücklose Trio und wenden uns dem Wesentlichen zu: einer „Deutschlandkoalition“, die diesen Namen verdiente.
Gemeint ist nicht Schwarz-Rot-Gelb, wie gerade das „Land der Frühaufsteher“ vorexerziert: Ein Kanzler Armin Laschet mit Olaf Scholz als Vize und Christian Lindner als Vizevize wäre der schlimmstmögliche Rückfall in die Bonner Republik, ein lustloses Besitzstandswahrer-Trio, dessen Parteien in den letzten Dekaden alles verbaselt haben, was anstand: eine zupackende Umweltpolitik, die Sicherung des Generationenvertrags, transparente und sichere Kommunikationsinfrastrukturen, eine humane Migrationspolitik.
Und die Europa praktisch im Stich gelassen haben. Eine solche Deutschlandkoalition fiele in den Geisteszustand zurück, den Jürgen Habermas einmal DM-Nationalismus genannt hat. Wer am 26. September auch immer die Nase vorn haben wird: Eine bessere Deutschlandkoalition blickt über den Tellerrand der deutschen Provinz hinaus und findet mit einer immer noch starken Bürgergesellschaft heraus, wie dieses Land und die Welt 2030, 2040, 2050 … aussehen sollte.
Kerngrößen sind der Klimawandel und das Artensterben. Dabei zählt allein, wer die besten Konzepte für einen grünen New Deal vorweisen kann. Große Teile der Gesellschaft und Wirtschaft sind willens, Technologien und Investitionsfonds stehen bereit, ebenso schlüssige Roadmaps der Denkfabriken – es fehlt eine parlamentarische Mehrheit, die das Jahrhundertvorhaben der Dekarbonisierung mutig und mutmachend vorantreibt.
ist Publizist und war von 1994 bis 2014 abwechselnd für die deutschen Grünen und die französischen Les Verts Abgeordneter im Europäischen Parlament.
ist Politologe und war Ludwig-Börne-Professor an der Universität Gießen. Von 2007 bis 2015 leitete er das Kulturwissenschaftliche Institut in Essen.
Erderwärmung ist endlich zentrales Thema
Alle reden vom Klima, endlich. Aber zu reden wäre nun auch darüber, wie eine Generation, die schon als verlorene gehandelt wird und sich zum Teil selbst keine Zukunft gibt, zurück ins Spiel kommen kann. Ein umfassender Generationenvertrag sichert nicht nur die Renten von morgen, er schafft heute auch die Spielräume für demokratische Beteiligung, für das bürgerschaftliche Engagement in den Gemeinden und im globalen Kontext.
Er sichert den Jüngeren interessante und sinnvolle Arbeit, aufregende Ausbildungsgänge und nachhaltige Start-ups, die auch Familie und Beruf besser vereinbar machen. Der laufende Wahlkampf ist verzerrt durch Desinformationskampagnen und Sensationsgeilheit, im Fernsehen wie in den sozialen Medien.
Zur Wahl steht also auch, wer die besten Ideen für alternative Plattformen hat, die das Netz nicht wenigen Monopolisten überlassen, sondern eine öffentlich-rechtliche Medienlandschaft 2.0 schaffen, die statt Fake News Wahrheitssuche und statt Verschwörungen Sinn für die Wirklichkeit verbürgt. Schwarz-Rot-Gelb will das Internet nur schneller machen, dabei muss es vor allem transparenter, diskursiver und gemeinnütziger werden.
Last not least: Migration. Die Europäische Union muss angesichts der menschlichen Katastrophen im Mittelmeer, im Mittleren Osten und in Afrika zu einer gemeinsamen und humanitären Asyl- und Einwanderungspolitik finden, ohne nur allgemein von „offenen Grenzen“ zu postulieren. Das europäische Haus braucht Migrantinnen und endlich Türen, die sich nachvollziehbar öffnen oder schließen. Das Mantra „2015 vermeiden“ zeigt, woran Schwarz-Rot-Gelb anknüpfen würde.
Abschieben, als die Taliban vor Kabuls Toren standen
Als die Taliban schon vor der Tür standen, wollte das Innenministerium noch geflüchtete Afghanen nach Hause fliegen, mit Flugzeugen, die das Außenministerium seinen loyalen Ortskräften vorenthielt! Wir wissen, dass Personen in der Politik mehr als Programme zählen. Doch die pseudomonarchische Zuspitzung ist völlig aus der Zeit gefallen. Alle sind angetan von Netzwerken, Plattformen und Schwarmintelligenz – und fallen dann auf eine Personalisierung zurück, die sie gleich wieder dementieren.
Denn Schwarze und Grüne haben eben nicht ihre besten und zugkräftigsten Spitzenleute ausgesucht, und die Notlösung Scholz fährt im Schatten von Angela Merkels Anti-Charisma. Wer wie Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron erst mit einer Bewegungspartei frischen Wind bringt und dann den einsamen Monarchen gibt, bekommt es mit einer Bande antipolitischer Nihilisten (zu Deutsch: „Querdenker“) zu tun, die am Ende rechtsradikalen Volkstribunen hinterherläuft.
Das demokratische Gegenstück zur Autokratie beginnt schon mit der politischen Form, die auch im Wahlkampf kollaborative Teams in Szene setzt und inhaltliche Koalitionen schmiedet. Was der reaktionären Deutschlandkoalition inhaltlich fehlt, sieht man vor allem an ihrem geopolitischen Provinzialismus: Sie hat keine Idee von der Rolle Deutschlands in Europa und der Welt.
Die Koinzidenz von Pandemie und Extremwetter, der Niederlage in Afghanistan und der Implosion der Europäischen Union ist kein Zufall, sie verlangt nach einer gründlichen Reflexion der normativen und institutionellen Grundlagen der westlichen Bündnisse. Das Pendant zum DM-Nationalismus war Kohls bornierte „Scheckbuchdiplomatie“ mit dem bequemen Verweis auf die deutsche Vergangenheit.
Kürzlich hat ein vom Bundestag beauftragter Bürgerrat Vorschläge unterbreitet, wie die Europäische Union wieder Einfluss gewinnen kann und die Gemeinsamkeit der Demokratien gegen die völkisch-autoritäre Versuchung wachsen kann, die in Polen und Ungarn Regierungsgewalt bekommen hat und überall ihr Störpotenzial entfaltet. Und die Diktatoren wie Putin, Erdoğan und Jinping etwas entgegenzusetzen hat. Nur wer dazu Substanzielles beizutragen hat, ist wählbar – ganz unabhängig von den „Spitzenleuten“.
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