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Palästinensische KinderFeinde in Windeln

Es besteht ein rassistischer, verzerrender Blick auf palästinensische Kinder. Das trägt dazu bei, ihr tausendfaches Sterben in Gaza hinzunehmen.

Gedenken an die in Gaza getöteten Kinder am Internationalen Tag des Kindes in Berlin Foto: Halil Sagirkaya/Anadolu Agency/picture alliance

E s war eine Zeremonie der leisen Töne, als am vergangenen Sonnabend, dem Internationalen Tag des Kindes, in Berlin die Namen von mehr als 10.000 in Gaza getöteten Kindern verlesen wurden. Nebenan die Neue Wache; dort steht die Pietà von Käthe Kollwitz, die Skulptur der trauernden Mutter. Die Lesung dauerte 20 Stunden, bis nach Mitternacht. Es ist nicht leicht, die Namen toter Kinder vorzutragen, mitsamt ihrem Alter; ich habe es mir nicht zugemutet.

Nachdem ich später ein Foto der Zeremonie ins Netz gestellt hatte, gab es solche Reaktionen: Erstens sei dies der klassisch antisemitische Kindermord-Topos, zweitens seien die Toten keine Kinder, sondern heranwachsende Terroristen. Dass Kinder ein Kriegsgebiet nicht verlassen dürfen, stellt an sich eine Besonderheit dar. Die Flüchtlingslager der Welt sind voller Mütter mit Kindern, die bewaffneten Konflikten zu entkommen suchten; bei uns fanden zum Glück viele Ukrainerinnen mit Kindern Zuflucht.

Bild: privat
Charlotte Wiedemann

Sie befasst sich als Auslandsreporterin und Buchautorin mit Gesellschaften außerhalb Europas und deren Auseinandersetzungen mit dem Westen. Zuletzt erschien „Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis“ (Propyläen 2022).

Anders als die Ukraine ist das Gebiet von Gaza gänzlich von Kriegshandlungen durchdrungen. Auf einer Fläche, die etwas kleiner ist als das Stadtgebiet von Köln, irren seit acht Monaten eine Million Kinder und Jugendliche umher, davon 335.000 unter fünf Jahren. Dies sind Zahlen von UNICEF. Kinder sind ein Spiegel, in diesem wie in anderen Kriegen; ihr Leid spiegelt das Versagen der Verantwortlichen.

Dies zu sagen, ist nicht trivial. Im Sudan droht gemessen an der Zahl Geflüchteter gegenwärtig die größere humanitäre Katastrophe. Aber in den Gaza-Krieg sind Deutsche involviert, haben Waffen und ideelle Unterstützung geliefert. Mächtig ist der Impuls, vor den Folgen die Augen zu verschließen. Lieber die Kinder nicht sehen, die der Westen retten könnte, wenn USA und EU jetzt gemeinsam und in aller Klarheit sagen würden: Netanjahu, es reicht! (Immerhin liegt ein möglicher Deal mit der Hamas auf dem Tisch.)

14.000 bis 15.000 minderjährige Kriegsopfer

Stattdessen in Ersatzhandlungen schwelgen – erinnert sich noch jemand an den Chirurgen Ghassan Abu Sitta, Augenzeuge der Verzweiflung in Gaza? Die Bundesregierung bewirkte für den Arzt ein EU-weites Einreiseverbot. Vor Gericht hatte das keinen Bestand; wie auch? Wer die Zahl von möglicherweise 14.000, gar 15.000 minderjährigen Kriegsopfern bezweifelt, mag das ruhig tun.

Aber angesichts von 335.000 Kindern unter fünf Jahren scheint mir eine solche Todesrate nach acht Monaten zwischen Geröll und Müll, mit chronischem Durchfall und Mangel­ernährung keineswegs außer Proportion. Als im März das SOS-Kinderdorf Rafah nach Bethlehem evakuiert wurde und die 68 Kinder erstmals wieder vor gedeckten Frühstückstischen saßen, rührten sie nichts an. Sie konnten nicht glauben, dass all das Essen nur für sie sei.

Gewiss: Auch jüdisch-israelische Kinder leiden unter dem Krieg, zumal da, wo Hamas und Hisbollah angreifen und oft die Sirenen gellen. Die Seelen vieler weiterer wurden beschädigt durch die Angst, die sie seit dem 7. Oktober bei ihren Eltern spüren. Elterliche Angst und Unsicherheit zu erleben, ist für jedes Kind ein tiefgreifendes Erlebnis. In der Westbank werfen palästinensische Kinder Steine auf Militärfahrzeuge im fatalen Glauben, sie könnten so ihr Zuhause, ihr Dorf beschützen.

Palästinensischen Kindern wird zugeschrieben, sie seien gefährlich – als würden sie ein Terror-Gen in sich tragen

Ein Delikt, das mit bis zu zehn Jahren Gefängnis bestraft werden kann. Wie es sich anfühlt, unter Besatzung aufzuwachsen, nichts anderes zu kennen, lässt sich kaum erahnen. Aus Sicht israelischer Ethno­nationalisten sind die palästinensischen Kinder schlicht zu zahlreich – demografisch stellen Palästinenser in absehbarer Zeit die Mehrheit zwischen Fluss und Meer, also dort, wo es, wie Netanjahus Energieminister Eli Cohen gerade versicherte, nur einen Staat geben wird: den israelischen.

Heerschar von Traumatisierten und Verstümmelten

Rassismus gegenüber Kindern wird gern geleugnet, aber natürlich gibt es ihn, und der Rassismus gegenüber palästinensischen Kindern ist von einer spezifischen Art: Ihnen fehlt die Unschuld, sie sind gefährlich – als würden sie von früh auf, schon in den Windeln, ein Terror-Gen in sich tragen. Die palästinensische Kriminologin Nadera Shalhoub-Kevorkian nennt dies die Politik des „Unchilding“, eine Art Vertreibung aus der Kindheit, ablesbar an der hohen Zahl Minderjähriger in Haft.

Im besetzten Ostjerusalem können Eltern ihre Kinder oft nur aus dem Gefängnis herausbekommen, indem sie einem Hausarrest für sie zustimmen. Und dann geschieht zum Beispiel dies: Der 13-jährige Iyad will das Fenster zum Hof öffnen, um mit seinen Kameraden zu sprechen, aber es ist verriegelt, sein Vater hat ein Schloss angebracht, aus Angst, die Familie würde womöglich gegen die Auflagen des Gerichts verstoßen. Der Junge ist wütend und verletzt und wendet sich in seinem Schmerz gegen die Eltern, die nun Gefängniswärtern gleichen.

Familien zu spalten, sei Bestandteil von Besatzungspolitik, schreibt Shalhoub-Kevorkian. Als ich kürzlich in Jerusalem war, wollte ich sie aufsuchen, aber die Professorin der Hebrew University wurde gerade selbst kurzzeitig inhaftiert. Ihr Buch über Unchilding ist bei Cambridge University Press erschienen. Der rassistische, verzerrende Blick auf palästinensische Kinder trägt dazu bei, ihr tausendfaches Sterben in Gaza hinzunehmen.

Und dann gibt es noch die typisch deutsche Kultivierung von Ratlosigkeit: Dies sei ja alles so kompliziert, was solle man da nur sagen … Aber was ist so schwierig daran, gegen das Sterben von Kindern aufzubegehren? Was ist so schwierig daran, zu sagen: Das muss aufhören, sofort? Das ganze Ausmaß des Unglücks in Gaza werden wir ohnehin erst sehen, wenn der Krieg beendet ist. Dann wird uns eine kindliche Heerschar von Traumatisierten, Verstümmelten und Amputierten erwarten. Und wir werden keine Antwort haben.

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13 Kommentare

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  • Vielen Dank!

  • Das muss in der Tat sofort aufhören, deswegen sollte die Hamas unverzüglich alle Geiseln freilassen, und darüberhinaus auch die Rekrutierung minderjähriger in Kampfeinheiten unterlassen, und dies von der Un überwachen lassen.

    Klar ist natürlich, und das möchte ich betonen insbesondere auch im Hinblick auf die Netiquette, dass die mehrheit der verstorbenen Minderjährigen, civilisten sind.

    Dennoch sollte mMn in diesem Artikel erwähnt werden, dass die Hamas, in den von ihr veröffentlichten Opferzahlen nicht zwischen Soldaten und Civilisten differenziert, und in der vergangenheit auch mehrfach propaganda Videos mit Kindersoldaten über Ihre eigenen Kanäle verbreitet hat. Gerade unter den gefallenen 16-18 Jährigen dürften sich somit wahrscheinlich auch einige Combatanten befinden.

    Zum Schutz der Kinder von Gaza muss also auch ein sofortiger Stopp der Hamas solcher Praktiken, neben einem Ende der Kampfhandlungen gefordert werden!

  • 6G
    608196 (Profil gelöscht)

    Danke!



    Darauf habe ich hier lange warten müssen.



    Denn auch hier, im TAZ Forum, herrscht ein rassistischer Blick auf die Kinder und Jugendlichen in Gaza und der Westbank.



    Ihr Beitrag trägt zur Heilung meines an den Grausamkeiten dieses Konfliktes gebrochenen Herzens bei.



    Und damit sind selbstverständlich(!) entführte, gequälte und getötete Israelis und Palästinenser gleichermassen(!) gemeint.

  • Durch aus gefühlig, aber deswegen noch lange nicht richtig. Diese Kinder sind Opfer, definitiv. Aber mehr als Opfer Israels wie hier suggeriert wird sind sie Opfer der Hamas, die diesen Krieg ausgelöst hat und auch jetzt nicht bereit ist ihn zu beenden. Und ja, an der Einschätzung, dass es sich hier um potentielle Terroristen handelt ist durchaus was dran, wenn man das allseits bekannten, seit Jahren bemängelten und doch nicht geänderten Fakten bekennt, wie beispielsweise die schon in der Schule mit europäisch geförderten Büchern stattfindende Indoktrination in Sachen Antisemitismus und Israelhass. Es ist nach dem Durchlaufen des Palästinensische Schulsystems den Kindern ja nicht mal zu verübeln, wenn sie das glauben. Es gab eine ganze Generation von Deutschen die im NS-System groß geworden sind und bis zum Schluss entsprechend an die Überlegenheit der deutschen Rasse und den Endsieg geglaubt haben. Erinnert sich noch jemand an die mit Sprengstoffgürtelattrappen ausstaffierten Kinder? Solange man sich in Gaza nicht von der Hamas und deren Ideologie befreit wird es dort leid geben; geboren aus dem Hass und der Unfähigkeit diesen zu überwinden.

  • Vielen lieben Dank für diesen Artikel. Ich verfolge seit Jahren die Situation in den besetzten Gebieten und vor allem die Arbeit von Save the Children, Defense for Children Palestine, Addameer und B´Tselem aber auch vom ICRC und UNICEF und mich erschüttert immer wieder die Gleichgültigkeit die mir von der deutschen Politik und Gesellschaft in Bezug auf palästinensische Kinder entgegenschlägt. Gerade auch die Situation von Kindern in israelischen Gefängnissen ist erschreckend und häufig nicht im Einklang mit den Kinderrechtskonventionen. Es gibt seit zig Jahren ausführliche Reporte darüber auch vom Roten Kreuz und nichts passiert. Man könnte hier sehr leicht den Eindruck bekommen als wenn manche Leben für den ein oder anderen doch mehr wert sind als andere. Und leider zeigt sich das doch sehr oft in Kommentaren, Politik, Artikeln etc. Ich empfehle jedenfalls jedem mal die Reporte der einzelnen Organisationen zu lesen bevor wieder angefangen wird zu relativieren, entschuldigen etc. Es gibt auch genügend Videomaterial über das Leben der Kinder in den besetzten Gebieten.zu finden.

  • "Lieber die Kinder nicht sehen, die der Westen retten könnte, wenn USA und EU jetzt gemeinsam und in aller Klarheit sagen würden: Netanjahu, es reicht! "

    Und da haben wir wieder den Punkt, den viele kritisieren, auf dem aber nie eingegangen wird. Grundsätzlich ist die Aussage nicht falsch, aber absolut unvollständig.

    Warum wird nur Netanjahu angesprochen? Warum wird nicht auch im selben Satz die Hamas genannt? Warum nicht der Iran und die Hisbollah.

    Und bitte nicht falsch verstehen, Netanjahu ist absolut ungeeignet in seiner Position und er hat Blut an den Händen. Aber die Hamas hat diese Ereignisse mit den 07.Oktober in Gang gesetzt. Würde sich die Hamas ergeben und die Geiseln freilassen, der Einsatz der israelischen wäre sofort vorbei.

    Ich würde mir wünschen das die vielen (berechtigten Forderungen) an Israel mit dem gleichen Gewicht an die Hamas herangetragen werden.

    Aber es werden sehr gerne Forderungen an Israel gestellt, an die Hamas kaum. Warum ist dies so?

  • Auch dieser Appell wird untergehen unter dem Satz,

    Aber die Hamas

    Das reicht hier zur Begründung und ist universell anwendbar.

  • Ein guter Text gegen alle einäugige Empatielosigkeit!

  • Danke Frau Wiedemann für diesen Artikel, der mir Tränen in die Augen treibt.



    Die Unsichtbarkeit / das herunterargumentieren dieses Leids in den deutschen Medien, in denen so gut wie nie Intellektuelle oder Journalisten palästinänsischer Herkunft sprechen dürfen, macht mich sprachlos.

  • Davon gab es hier auch schon einige Kommentare. Vergleiche mit der Hitlerjugend und dergleichen um den Tot von palästinensischen Kindern zu rechtfertigen. Übelster Rassismus.

  • Das erschüttert -muss es!!! - jede*n Leser*in zutiefst. Wenn das jemanden kalt lässt, dann ist dem/der Empathie, Respekt und Menschlichkeit absolut fremd. Ich hoffe inständig, dass nicht auch hier in den Kommentaren nicht auch wieder realtiviert wird.

  • Wer nicht sieht, welches Leid palestinensische Kinder erleiden müssen, der ist blind oder hat kein Herz. Rassismus, Apartheid und Diskriminierung bis hin die nackte Existenz zu verlieren, ja sogar medizinische Behandlung und Beteubung verneint zu bekommen ist beschämend.

  • Einfach nur DANKE für diesen Artikel.