Online-Pranger gegen „Indoktrination“: Schüler sollen bei der AfD petzen
Hamburgs AfD sieht sich als Opfer linker Ideologen und hält mit einer Meldeplattform dagegen. Der Schulsenator sieht Kinder instrumentalisiert.
Doch lustig ist die Sache nicht. „Hier werden Kinder zu Denunzianten gemacht und einseitig für Anliegen der AfD instrumentalisiert“, erbost sich Schulsenator Ties Rabe (SPD). Er will prüfen, „ob es rechtlich überhaupt zulässig ist, wenn Schüler, Eltern oder Lehrer dort schulische Vorfälle melden“. Ohnehin könnten eventuelle Verstöße gegen das Neutralitätsgebot schon jetzt an die Behörde direkt gemeldet werden.
Jenes Gebot ist im „Beutelsbacher Konsens“ festgehalten, auf den sich Politikdidaktiker unterschiedlicher parteipolitischer Herkunft 1976 im gleichnamigem Ort verständigten. Lehrer dürfen Schülern nicht ihre Meinung aufzwingen, sondern sollen sie in die Lage versetzen, sich eine Meinung zu bilden. Der Lehrende muss ein Thema kontrovers darstellen, wenn es kontrovers ist. Seine eigene Meinung darf er nicht zur „Überwältigung“ des Schülers einsetzen.
Die Grenze ist die Verfassung
Doch Lehrer müssen auch für Werte der Demokratie wie Gleichbehandlung einstehen. „Lehrer dürfen nicht für politische Positionen werben, aber sie sind auch nicht gesichts- und meinungslos. Denn wären sie das, würden die Schüler sie nicht ernst nehmen“, sagt Schulbehördensprecher Peter Albrecht. Lehrer hätten auch dafür zu sorgen, dass im Klassengespräch jeder ausreden darf und niemand ausgegrenzt wird. Die Grenze sei die Verfassung. „Wer die überschreitet, muss durch die Lehrkraft ,ausgegrenzt' werden.“
Die AfD indes sieht Hamburgs Schüler seit geraumer Zeit als Opfer politischer Indoktrination und hat etliche kleine und große Anfragen gestellt. In einigen Fällen wurde die Schulbehörde daraufhin sogar aktiv. Zum Beispiel wurde eine Berufsschule, die eine Veranstaltung mit Parteien absagen wollte, damit die AfD nicht erscheint, angewiesen, diese trotzdem abzuhalten.
Eine Geschichtslehrerin, die sich abwertend über die Partei geäußert haben soll, wurde zum Gespräch gebeten und auf das Neutralitätsgebot hingewiesen. Allerdings stellte sie die fragliche Passage des Unterrichts anders dar als der Schüler, der sich bei der AfD beklagt hatte.
Peter Albrecht, Sprecher der Schulbehörde
Solche Klagen werden nun wohl mit der Plattform mehr kommen. „In Fällen, in denen eine schulinterne Klärung nicht möglich ist, bieten wir an, Verdachtsfälle von der Schulbehörde überprüfen zu lassen“, so Alexander Wolf.
Doch ist dieser Umweg über die AfD der Richtige? „Wir sagen nein. Wir sind der richtige Ansprechpartner“, sagt Albrecht. Gegen das Lehrerbewertungsportal wie „Spick mich“ versuchte die Schulbehörde vor einigen Jahren vergeblich eine Musterklage zu führen. Und die AfD sagt, sie sehe der rechtlichen Prüfung gelassen entgegen.
Schulbehörde will beide Seiten anhören
Doch die Schulbehörde weist darauf hin, dass auch die Melder verantwortlich handeln müssten. Zum Beispiel verpflichtet Paragraf 105 des Schulgesetzes Mitglieder in schulischen Gremien zur Verschwiegenheit in allen persönlichen Angelegenheiten. Bei Verfehlungen von Lehrern müssten beide Seiten gehört werden und die zuständigen Schul-Institutionen dies klären, sagt Albrecht. Denn sonst könnten falsche Vorwürfe zu einer Beschädigung der Person führen.
Im Bezug auf Lehrer ist die Rechtslage klar. Sie dürfen sich nicht zuerst mit einer Beschwerde an Parteien wenden, sondern müssen den Dienstweg nutzen. „Sonst gilt dies als Dienstpflichtverletzung.“
Im Zivilrecht seien „unsinnige Meinungsäußerungen“ von Eltern und Schülern zwar hinzunehmen, fährt Albrecht fort, doch für Schüler gilt das schärfere Schulgesetz. Sie könnten nach Paragraf 49 disziplinarisch bestraft werden, wenn sie durch ihre Äußerungen den Schulfrieden gefährdeten. „Dies ist in Folge von ‚Spick mich‘ passiert.“
Die Lehrergewerkschaft GEW lehnt Bewertungsplattformen für Lehrer mit Blick auf die Persönlichkeitsrechte generell ab. Angesichts des politisch motivierten AfD-Portals bezweifelte der Vize- Landesvorsitzende Fredrik Dehnerdt, dass die AfD den Sinn politischer Bildung „überhaupt versteht“.
Denn auch wenn die AfD sich in einigen Fällen zu Recht beschwerte, bedeute dies nicht, dass ihr Verständnis politischer Bildung mit anerkannten Grundsätzen übereinstimme. „Richtig verstandene Neutralität ruft dazu auf, als kontrovers empfundene Positionen der AfD zu benennen und sich mit ihnen auseinander zu setzen – so wie mit jeder anderen Partei auch“, sagt Dehnerdt. Die Plattform sei ein Instrument der Überwachung, um Druck aufzubauen. Er forderte betroffene Lehrkräfte auf, sich an die Gewerkschaft zu wenden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?
Netzgebühren für Unternehmen
Habeck will Stromkosten senken
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg