Online-Petitionen gegen Abtreibung: Angriff der christlichen Fundis
Die rechtskonservative Plattform CitizenGo kämpft europaweit gegen Abtreibung und mehr LGBTIQ-Rechte. Ein Datenleak zeigt, mit wessen Geld.
D er Brief, den der russische Oligarch Konstantin Malofejew im Jahr 2013 bekommt, beginnt förmlich. „Ich danke Ihnen sehr für die Möglichkeit, Ihnen persönlich unsere Idee von CitizenGo zu präsentieren“, steht dort. Geschrieben hat ihn der spanische Antiabtreibungsaktivist Ignacio Arsuaga. Er braucht Geld. Und der Oligarch Malofejew hat Geld.
Empfohlener externer Inhalt
Konstantin Malofejew pflegt enge Kontakte zur russisch-orthodoxen Kirche und dem Präsidenten Wladimir Putin. Er organisiert Kongresse für Abtreibungsgegner*innen, Homosexualität setzt er gleich mit Sodomie. Die Demokratie lehnt er ab und hat beste Kontakte in die rechten Parteien Europas. Für Arsuaga ist er der perfekte Geldgeber. Der Aktivist will eine internationale Kampagnenplattform aufbauen, die gegen Abtreibung kämpft, gegen die Gleichstellung von Homosexuellen und gegen die Ehe für alle.
Er plant nicht irgendeine Plattform. CitizenGo soll „die einflussreichste internationale christlich inspirierte Mobilisierungswebsite“ werden, so schreibt es Arsuaga im April 2013 an Malofejew. Eine, die „nationale Regierungen, Parlamente und internationale Institutionen effektiv beeinflusst“. Er bittet um 100.000 Euro Anschubfinanzierung. Wenig später, so legen es interne Schreiben von CitizenGo nahe, steigt Malofejew ein.
Der Brief an Konstantin Malofejew ist eines von rund 17.000 Dokumenten, die die Enthüllungsplattform Wikileaks am Donnerstagabend veröffentlicht hat. Die taz und andere Medien in Spanien, Italien und Mexiko konnten sie vorab einsehen, prüfen und auswerten. Es handelt sich wahrscheinlich um Material, das ursprünglich von einer Hackergruppe stammt. Die begründete ihren Angriff auf CitizenGo damit, die Rechte von Schwulen, Lesben, Queers, trans und inter Personen (LGBTIQ) verteidigen zu wollen. Laut Aussage von CitizenGo auf ihrer Website hatten sich Hacker*innen im Jahr 2017 Zugang zu Ordnern des Präsidenten der Organisation, Ignacio Arsuaga, verschafft. Die Dokumente beinhalten Adresslisten, Finanzberichte und Strategiepapiere vom Anfang der 2000er Jahre bis 2017.
Rechtlich ist CitizenGo eine in Spanien eingetragene Stiftung. Die Plattform setzt sich für das Leben, die Familie und die Freiheit ein, so steht es auf der Website. Intern ist die Darstellung deutlicher – und martialischer. Die Organisation sieht sich in einem Kulturkampf, einem Kampf zwischen der Kultur des Lebens und der Kultur des Todes. In einem Kampf Gut gegen Böse.
Die Bösen, das sind für CitizenGo die Laizisten. Deren Ziel sei es, die Macht zu übernehmen, um einen neuen Totalitarismus aufzubauen. So kann man es in Strategiepapieren aus der Gründungszeit der Organisation nachlesen. Die Guten, das sind die wahren Christen, die den Kampagnen der globalen Linken etwas entgegensetzen. Deswegen will die Organisation Einfluss nehmen auf die Politik in der ganzen Welt. Sie hat vor, „eine Generation von konservativen Führern“ aufzubauen, national und international.
Die große Niederlage
Mit den Dokumenten über den Anfang von CitizenGo und Recherchen über das, was danach geschah, lässt sich das Bild einer Bewegung zeichnen, die in den vergangenen zehn Jahren professioneller und internationaler geworden ist. Es geht um Aktivist*innen, die weltweite Netzwerke von Abtreibungsgegner*innen knüpfen. Um eine Organisation, die die Daten von Fundamentalist*innen und LGBTIQ-Gegner*innen als Währung entdeckt und dabei das Gesetz bricht. Es geht um Verbindungen zu rechtsextremen Parteien. Und es geht um Einfluss auf das Europäische Parlament, das an den Gesetzen für 447 Millionen Menschen in Europa arbeitet.
Einen ersten Erfolg feiert CitizenGo schon wenige Monate nach der Gründung, Ende 2013. Das EU-Parlament soll über ein Papier abstimmen, in dem es sich dazu bekennt, dass allen Europäer*innen Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen und Sexualaufklärung zusteht. Dreimal steht das Papier zur Entscheidung, dreimal wird es abgelehnt. Das ist eine derbe Niederlage für viele Sozialdemokrat*innen, Linke und Liberale im Europaparlament.
Wie hat es eine gerade erst gegründete Organisation geschafft, das Parlament derart zu beeinflussen? Erstens ist CitizenGo nicht allein, sondern Teil einer Allianz fundamentalistischer Gruppen, die in dieser Zeit entsteht. Und sie testen etwas Neues: Sie fluten die Posteingänge der Abgeordneten mit E-Mails und starten Onlinepetitionen. Innerhalb kürzester Zeit sammelt CitizenGo Tausende Unterschriften gegen den Vorschlag. Diese Graswurzelmobilisierung ist für die europäische Rechte bis zu diesem Zeitpunkt beispiellos. Der härteste Gegenspieler von CitizenGo vergleicht den Effekt mit dem Schuss aus einer mächtigen Waffe.
„Wenn du eine große Kanone hast und sie zum ersten Mal abfeuerst, läuft jeder erst mal verängstigt weg“, sagte Neil Datta damals über die Wirkung der Petitionen. Datta, 50 Jahre alt, arbeitet mit seiner Organisation in Brüssel gegen die Pläne von CitizenGo. Er ist Experte für sexuelle Selbstbestimmung, ein Lobbyist der anderen Seite.
Neil Datta, Lobbyist für sexuelle Selbstbestimmung
Datta leitet das Europäische Parlamentarische Forum. Es wird unter anderem von den Vereinten Nationen und der Bill & Melinda Gates Foundation finanziert. Das Forum vernetzt EU-Parlamentarier*innen zum Thema reproduktive Rechte; das sind Rechte, die sexuelle und körperliche Selbstbestimmung betreffen. Dazu gehören zum Beispiel die Geschlechtsidentität und auch Schwangerschaftsabbrüche.
Dass das Europäische Parlament 2014 gegen diese Rechte gestimmt hat, ist für Neil Datta eine seiner größten Niederlagen. Im Juni 2021 trifft ihn die taz zum Gespräch per Video. Den Aufstieg von CitizenGo beobachtet er genau, denn für ihn ist die Gruppe „der wichtigste gesellschaftliche Mobilisierer zu Antigenderthemen in Europa“.
Die taz hat mehrfach versucht, mit CitizenGo in Kontakt zu treten. Die Organisation hat nicht reagiert.
Die Macht der Rechten ist gewachsen
Im Frühjahr 2021 sieht es so aus, als könnten die Abtreibungsgegner*innen ihren Coup von 2013/2014 wiederholen. Wieder stimmt das EU-Parlament ab, dieses Mal geht es darum, dass alle Europäer*innen freien Zugang zu Abtreibung und Sexualaufklärung haben sollen.
Das Papier, über das die Abgeordneten entscheiden werden, heißt Matić-Report – benannt nach dem kroatischen Sozialdemokraten Predrag Matić, der den Bericht in das Parlament eingebracht hat. Die Abstimmung ist für den Sommer geplant. Aus der Sicht von CitizenGo ist der Report ein weiterer Versuch des Bösen, die Herrschaft in Europa zu übernehmen.
Für die Befürworter*innen des Reports geht es ebenfalls um sehr viel. Auch wenn die Entschließung des Parlaments nicht bindend ist, so schafft sie doch ein Fundament für Politik. Sie kann sich auf Förderungen auswirken und auf Beitrittsverhandlungen. Einfach so werden sie den Bericht aber nicht durchkriegen. Sie müssen kämpfen.
Welche Dokumente wir haben
Die Enthüllungsplattform Wikileaks veröffentlichte einen großen Datensatz vertraulicher Unterlagen. Die rund 17.000 Dokumente beschreiben vor allem Interna der rechtskonservativen Stiftung CitizenGo und ihrer spanischen Vorgängerorganisation. CitizenGo ist einer der wichtigsten Akteure in der europäischen Anti-Abtreibungs-Bewegung. Die taz konnte die Dokumente vorab einsehen, prüfen und auswerten. 2017 hatte sich eine Hackergruppe Zugang zu persönlichen Ordnern von Ignacio Arsuaga, dem Präsidenten CitizenGo verschafft, es handelte sich offenbar um einen Dropbox-Zugang. Eine große Menge an Dateien wurden kurzzeitig online veröffentlicht. CitizenGo bestätigte den Vorgang damals. Die Hackergruppe sagte in einem Interview in der spanischen Presse, sie habe mit dem Angriff auf CitizenGo die Rechte von LGBTQI verteidigen wollen. Möglicherweise stammen die Daten, die über Wikileaks nun zur taz kamen, aus diesem Hack. Unter den Dokumenten befinden sich Adresslisten, Finanzberichte und Strategiepapiere vom Anfang der 2000er Jahre bis 2017.
Wie wir geprüft haben
Wir haben die Dokumente stichprobenartig auf ihre Echtheit geprüft: Ergeben die Dateinamen und die Struktur der gespeicherten Daten Sinn? Finden sich Widersprüche innerhalb der Dokumente oder in den Metadaten der Dateien? Stimmen Namen, Daten und andere Informationen in den Dokumenten mit dem überein, was wir in öffentlichen Quellen recherchieren können? Wir haben keinen Zweifel an der Echtheit der Dokumente.
Warum wir berichten
Die Dokumente zeigen, wie sich eine der einflussreichsten Organisationen der antifeministischen Bewegung in Europa organisiert und professionalisiert hat. Sie bedient sich dabei unlauteren Methoden, bricht womöglich Gesetze zum Datenschutz. Sie pflegt Verbindungen zu verschiedenen Regierungen und versuchen so, Politik zu machen. Eine Politik, die unter anderem darauf zielt, Menschen in ihrem Recht auf körperliche Selbstbestimmung zu beschneiden. Diese Szene zu beobachten ist eines der Kernthemen der taz. Da die Dokumente authentisch und relevant sind, gibt es ein öffentliches Interesse an Berichterstattung über die Inhalte. Zeitgleich zur taz veröffentlichen heute auch die italienische Tageszeitung Il Fatto Quotidiano, das mexikanische Investigativmagazin Contralínea und das spanische Onlineportal Público ihre Recherchen aus den Dokumenten.
Denn die Chancen von CitizenGo, Einfluss auf die europäische Politik und damit auf die Menschen zu nehmen, die in der Europäischen Union leben, sind dieses Mal ungleich größer als acht Jahre zuvor. Sie wirbt mittlerweile damit, mehr als „15 Millionen aktive Bürger“ zu vertreten. Überprüfen lässt sich die Zahl zwar nicht. Fest steht laut unseren Recherchen aber: Die Reichweite von CitizenGo ist gewachsen. Und: Europa hat sich verändert. In Polen ist Abtreibung de facto verboten. Ungarn macht Politik gegen queere und trans Menschen. Selbst in Deutschland führen immer weniger Frauenärzt*innen Abtreibungen durch. Vor der Abstimmung des Matić-Reports ist klar: CitizenGo wird alles tun, damit er abgelehnt wird.
Dass die Organisation solchen Einfluss auf die europäische Politik nehmen kann, liegt unter anderem daran, dass sie verschiedene Szenen der religiösen Rechten zusammenbringen kann. Gegründet wird CitizenGo 2012. Konservative Christ*innen aus der ganzen Welt treffen sich damals zum World Congress of Families in Madrid, einem jährlichen Szeneereignis der christlich-fundamentalistischen Bewegung gegen Abtreibung und gegen Rechte von LGBTIQ. Auf diesem Kongress, so wird es Ignacio Arsuaga, der Gründer von CitizenGo, später an den potenziellen russischen Geldgeber Konstantin Malofejew schreiben, „haben wir realisiert, wie wichtig es ist, dass wir das Graswurzellobbying für Pro-Life und Pro-Family besser koordinieren und unterstützen“.
Der Spanier Arsuaga, Jahrgang 1973, ist Jurist, er hat für Kanzleien gearbeitet und eine Social-Media-Agentur gegründet. Mit zwei Freunden ruft er bereits Jahre zuvor die Initiative Hazte Oír ins Leben mit der sie ihren politischen Forderungen Gehör verschaffen wollten. Das Mittel schon damals: Onlinepetitionen. In Spanien läuft das sehr gut. Jetzt soll es noch größer werden, professioneller und vor allem: international. Ihr Name: CitizenGo.
Was Ignacio Arsuaga vorschwebt, ist eine Plattform, die unentwegt Petitionen lanciert und Unterschriften sammelt. Die Vorbilder sind eher linke und alternative politische Plattformen wie Avaaz und Change.org. Arsuaga ist ehrgeizig: Innerhalb von einem Jahr soll CitizenGo eine Million Mitglieder haben.
Er scheint Erfolg zu haben.
Ab 2013 tourt Arsuaga durch die Welt und stellt ausgewählten Leuten die Idee von CitizenGo vor. „Wir verteidigen kraftvoll die Werte des Lebens, der Familie und der Freiheit“, so steht es in einer Powerpoint-Präsentation. Für das Kuratorium gewinnen sie neben einem Vertrauten des russischen Oligarchen Malofejew einen Berater des Vatikans, einen Funktionär der christlichen Rechten in den USA – und den italienischen Politiker Luca Volonté, der bis 2013 Chef der EVP im Europarat war und sich von zwei aserbaidschanischen Politikern bestechen ließ.
Das Geld kommt aus Deutschland
Die Großspender geben den Anschub, das Fundament von CitzenGo werden Kleinspender*innen aus der ganzen Welt, viele von ihnen aus Spanien und Lateinamerika. Allein im Jahr 2020 hat die Organisation mehr als vier Millionen Euro Spenden eingesammelt.
Die Deutschen sind laut einer internen Präsentation besonders großzügig. Wer die Menschen sind, die für den Aufbau der deutschen Sektion spenden, lässt sich in einer Liste von 2015 nachlesen. Es ist vor allem das westdeutsche katholische Bürgertum, keine prominenten Namen: katholische Pfarrer, ein Mann, der kurz darauf in einem Kreisvorstand der AfD sitzt, ein Katholik, der in einem Leserbrief an die FAZ Polen dafür gratuliert, dass es Abtreibungen verbieten will. Mehr als 175.000 Menschen aus Deutschland werden Anfang 2016 als Mitglieder bei CitizenGo geführt, gut 3,2 Millionen Mitglieder weltweit.
CitizenGo wird Teil einer Szene, die sich erfolgreich vernetzt, vor allem international. Ihre Akteur*innen reisen durch die Welt, sprechen auf Konferenzen, organisieren Netzwerktreffen von Pro-Life-Vereinen. Auf Einladungen zu diesen Treffen stehen Hinweise wie „No journalists!“ oder „This meeting is strictly confidential“. Die Öffentlichkeit soll nicht merken, wie die sogenannte Lebensschutzbewegung wächst. Und: Diese Bewegung ist nicht allein. Die sogenannten Lebensschützer, bei denen sich christliche Fundamentalisten, Evangelikale und gemäßigte Konservative finden gehen mit Rechten und extremen Rechten eine Allianz ein.
Slogan auf dem „Bus der Meinungsfreiheit“, den CitizenGo auf Tour geschickt hat
Das Thema Geschlechterpolitik funktioniert dabei als Scharnier. Es ist anschlussfähig an die gesellschaftliche Mitte – darauf, dass „Gendergaga“ irgendwie zu weit gehe, können sich viele einigen. Zum anderen ist Geschlechterpolitik ein Kernthema von Rechten. Eine rechte Politik ist ohne die Kontrolle des weiblichen Körpers nicht denkbar. Schließlich geht es dabei auch um Reproduktion und damit schnell um Bevölkerungspolitik.
CitizenGo erkennt, wie viele Menschen sich mit dem Thema ansprechen lassen, und macht sich das zunutze. Die Petitionen, die die Stiftung lanciert, berühren verschiedene Gesellschaftsbereiche. Eine richtet sich gegen Netflix, weil eine Zeichentrickserie dort angeblich Jesus verhöhnt. Eine andere unterstützt das umstrittene Anti-LGBTIQ-Gesetz in Ungarn, das die positive Darstellung von Schwulen und Lesben, trans und inter Personen in der Öffentlichkeit verbietet.
Der Brüsseler Lobbyist Neil Datta hat analysiert, woher das Geld kommt, das die antifeministische Bewegung in Europa investiert. Dafür hat er Finanzberichte zu 54 Organisation für die Jahre 2009 bis 2018 ausgewertet. 707,2 Millionen US-Dollar seien demnach in die Arbeit der Gruppen geflossen, Tendenz steigend. Das Geld russischer Oligarchen fließt genauso nach Europa wie das konservativer Christ*innen aus den USA mit Verbindungen zur Trump-Regierung. Aber: Der größte Teil des Geldes stammt aus der EU selbst.
Mit dieser Finanzmacht werden Büros in der Nähe europäischer Institutionen finanziert, Kampagnen geplant und Jurist*innen bezahlt, die in Polen Gesetzesentwürfe mitschreiben oder progressive EU-Politik vor Gerichten anfechten.
33 Millionen Dollar für die Kampagnen
CitizenGo und seine spanische Vorgängerorganisation Hazte Oír gehören laut Dattas Zahlen zu den mächtigsten Finanziers von antifeministischen Kampagnen in der EU. Zwischen 2009 und 2018 haben die beiden Organisationen zusammen knapp 33 Millionen US-Dollar in ihre Kampagnenarbeit gesteckt.
Die Kampagnen von CitizenGo beschränken sich nicht auf das Internet. Im Jahr 2017 schickte die Stiftung einen orangefarbenen Bus durch europäische Länder. Der „Bus der Meinungsfreiheit“ machte halt in München, Köln und Berlin. An seiner Seite prangte der Spruch „Stoppt übergriffigen Sexunterricht – schützt unsere Kinder“, dazu das Logo von CitizenGo.
CitizenGo ist nach Dattas Einschätzung auch die Organisation innerhalb der antifeministischen Bewegung, die sich am erfolgreichsten internationalisiert und ihre Strategien an die Gegenwart angepasst hat. Früher haben überzeugte Christ*innen mit Gott argumentiert. Heute sind sie viel erfolgreicher, wenn sie ihre Aussagen säkularisieren. Heraus kommt eine Sprache, die nach der Verteidigung von Menschenrechten klingt, aber noch dieselben christlich-fundamentalen Ideen enthält. Pro-Life statt „gegen Abtreibung“. Pro-Family statt „gegen Ehe für alle“.
In den neunziger Jahren, so erinnert sich Neil Datta, gab es kleine Gruppen, die Proteste vor Kliniken, wo Abtreibungen stattfinden, organisiert haben, und mehr nicht. Viele ihrer Anführer*innen hätten alt gewirkt. Neil Datta und seine Mitstreiter*innen hatten das Gefühl, sie würden einfach aussterben. Das Gegenteil ist passiert.
Die Bewegung ist jünger geworden. Und lauter: Die einen mobilisieren zu Demonstrationen mit weißen Kreuzen und bauen Jugendgruppen auf. Die anderen liefern juristische Expertisen zu Gesetzen oder vernetzen sich mit Kleriker*innen und Politiker*innen.
Der große Angriff von CitizenGo auf den Matić-Report beginnt im Juni 2021. Die Organisation will unbedingt verhindern, dass die Abgeordneten im EU-Parlament für den Bericht stimmen, der sich für freien Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen einsetzt. Die Wortwahl ist entsprechend kriegerisch: „Der Matić-Bericht ist wahrscheinlich das aggressivste Projekt, das jemals im Europäischen Parlament vorgestellt wurde“, heißt es in der Petition von CitizenGo. In nur drei Wochen sammelt die Organisation 350.000 Unterschriften. Bei den Parlamentarier*innen kommt der Protest in ihrem Posteingang an. Pling, pling, pling. „Ich schreibe Ihnen mit Besorgnis, nachdem ich die Details des Matić-Berichts erfahren habe“, beginnen die oft gleichlautenden E-Mails, die an Mitglieder des Parlaments verschickt werden. Mehrere Parlamentarier*innen sagen, ihre Postfächer seien mit Mails geradezu geflutet worden.
Das Hauptziel von CitizenGo ist klar: politischer Druck durch möglichst viele Unterschriften.
Sie teilen Daten und Geld
Aus den internen Dokumenten wird allerdings deutlich: Das Erzeugen von Einfluss durch Masse ist nur ein Aspekt. Es geht auch um Daten – und um Geld.
350.000 Unterschriften gegen freie Schwangerschaftsabbrüche bedeuten 350.000 E-Mail Adressen. 350.000 Vor- und Nachnamen und Informationen über das Herkunftsland. Und den Hinweis darauf, welches Thema die Person interessiert. Damit hat CitizenGo eine wertvolle Währung in der Hand: Informationen. Hochprofessionelle Marketingtools, wie sie laut den Dokumenten bei den Onlinekampagnen genutzt werden, erlauben es, alle Informationen zu einer Person zu sammeln, auch über längere Zeit. Und dann gezielt bestimmte Gruppen von Menschen für ein Anliegen anzusprechen.
Und wenn diese Menschen sich interessiert genug zeigen, kann man sie auch um Geld bitten.
Deshalb startet CitizenGo so viele Petitionen. Auch eine, die keinen Erfolg hat, ist für die Organisation nicht sinnlos. Eine Petition, die nie eine Chance auf politischen Einfluss hatte, aber viele Leute emotional anspricht und zum Mitmachen bewegt, ist für CitizenGo erfolgreiche Datenbeute. „Big Data“ nennen sie das auf ihren internen Powerpoint-Folien.
Wie das funktioniert, das erklärte Ignacio Arsuaga 2015 auf einer Konferenz: „The 3 Step Process for Mass Mobilization“ steht über der Powerpoint-Folie. „Wir bauen unsere Liste auf – mit Onlinepetitionen. Wir aktivieren unsere Mitglieder und halten sie aktiv – das ist der Grund, warum wir so VIELE E-Mails, Petitionen, Informationen senden. Wir fragen unsere Mitglieder kühn nach Spenden für unsere Arbeit.“ Menschen politisch zu mobilisieren ist ein Geschäftsmodell.
Das Geld und die Daten, die CitizenGo sammelt, teilt man mit seinen Verbündeten. Die Stiftung sponsert unter anderem Kongresse, und sie hilft Gleichgesinnten, an Daten zu kommen. „Du wirst Zugang zu den persönlichen Daten der Unterzeichner haben“, heißt es in einer Präsentation. Wer selbst eine Petition auf der Plattform initiiert, kann die Daten der Unterzeichner*innen demnach einfach als Datei herunterladen.
Sollten die Kontakte der Unterzeichner*innen wirklich komplett weitergegeben werden, widerspricht das eigentlich dem, was CitizenGo selbst auf der Seite über seinen Umgang mit Daten behauptet. „Wenn tatsächlich E-Mail-Adressen ohne Einwilligung der Betroffenen an andere Organisationen weitergegeben wurden, würde das eine ernsthafte Verletzung der DSGVO darstellen“, sagt der Jurist Tom Jennissen, Experte beim Verein Digitale Gesellschaft, der taz.
Die Unterstützung lässt sich fälschen
Ein Beispiel für einen Datendeal unter politischen Verbündeten ist eine Kooperation, die CitizenGo 2013 mit der US-Organisation ActRight eingegangen ist. Die Organisation, die enge Verbindungen zum Trump-Team hat, überweist CitizenGo 50.000 Dollar im Jahr für einen englischsprachigen Kampagnenmanager. CitizenGo soll auch von den damals 500.000 Menschen in der ActRight-Datenbank profitieren, die zu Spenden an CitizenGO aufgerufen werden sollen.
Doch unter dem Ziel, möglichst viele Daten zu sammeln, kommt es zu noch gravierenderen Verstößen.
Die taz hat während der Recherchen ein Datenleck bei CitizenGo gefunden. Von Tausenden Menschen, die Petitionen unterzeichnet haben, stehen Namen, E-Mail-Adressen, Postleitzahlen und Herkunftsländer offen zugänglich auf der CitizenGo-Website. Jeder Datensatz einer Person ist über eine fortlaufende Nummer abrufbar, wodurch jede Internetnutzer*in sich einfach durch die Daten klicken kann.
Der Jurist Tom Jennissen spricht im Zusammenhang mit dem Datenleak von „einem schweren Verstoß gegen die Datenschutz-Grundverordnung“. Weil CitizenGo eine politische Petitionsplattform ist, seien die dort gespeicherten Informationen besonders sensibel. Daten aus denen politische Meinungen abgelesen werden können, müssten besonders gut geschützt sein.
CitizenGo habe jetzt sofort die Pflicht, nicht nur die zuständige Datenschutzbehörde, sondern auch die Nutzer*innen zu informieren, sagt Jennissen. „Bei einem so eindeutigen und schwerwiegenden Verstoß dürfte dem Anbieter ein ernst zu nehmendes Bußgeld drohen.“
Die taz hat CitizenGo mit diesen Vorwürfen konfrontiert. Die Organisation hat darauf nicht geantwortet.
Bei CitizenGo geht es um Masse: Ein Anliegen, für das Tausende, Zehntausende, Hunderttausende Menschen unterschrieben, erscheint relevant und dringlich. Das Unterschreiben muss deshalb ganz einfach sein. Die E-Mail-Adresse, mit der man eine Petition unterschreibt, muss man nicht wie sonst üblich noch einmal bestätigen. Das bedeutet, man kann mit beliebig vielen Fantasieadressen oder mit der Adresse einer anderen Person unterschreiben.
Die nächste Attacke kommt
Eine Person, die einmal unterschrieben hat, muss beim nächsten Unterschreiben nur ihre Mailadresse eingeben, alle weiteren Daten werden automatisch vervollständigt. Wer also die E-Mail-Adresse einer Person, die bereits bei CitizenGo mitgemacht hat, weiß oder errät, kann ihre persönlichen Daten einsehen, in ihrem Namen unterschreiben und ihre Daten ändern.
Wenn das System so anfällig für Manipulation ist, haben dann im Juni 2021 wirklich 350.000 Menschen die Petition gegen sichere Abtreibung in Europa unterschrieben? Pumpen CitizenGo oder andere Lobbyisten die Petition künstlich auf? Wie groß ist der Druck auf das EU-Parlament vor der Abstimmung über den Matić-Report wirklich?
Der genaue Blick auf die Daten zeigt: Es ist kompliziert. Die taz hat sowohl die personenbezogenen Daten in den internen Dokumente als auch die auf der Website verfügbaren Nutzer*innendaten stichprobenartig geprüft. Wir haben Fake-Identitäten wie Sarah Noname gefunden, aber ebenso echte Menschen.
Die Unterstützer*innen von CitizenGo, die vielen Kleinstspender*innen – sie sind real. Aber wer seiner Petition auf CitizenGo mit unlauteren Mitteln mehr Kraft geben will, dem stellt die Plattform keine Hindernisse in den Weg.
Und die europäische antifeministische Bewegung, von der CitizenGo lebt, hat – wenn es um das Erzeugen von politischem Druck geht – durchaus ein Interesse daran, noch größer zu wirken, als sie wirklich ist.
Die nächste Attacke auf den Matić-Report kommt drei Tage vor der Abstimmung im EU-Parlament. Nicht online, sondern auf der Straße. An einem Montagnachmittag im Juni 2021 stehen Hunderte Menschen vor dem Bundeskanzleramt in Wien. Die Veranstaltung kann man sich in einem Internetvideo anschauen. Der Deutschlandbeauftragte von CitizenGo freut sich auf der Bühne über die 350.000 Unterschriften gegen mehr Rechte für Frauen, die eine Abtreibung erwägen.
Die Zahl der Demonstrierenden mag vergleichsweise klein erscheinen, aber man sieht, wen die fundamentalistische Bewegung inzwischen ansprechen kann: Es sind vor allem junge Leute, die sich vor der Bühne aufreihen, studentisches Publikum. Sie fächern sich Luft zu mit ihren Demoschildern: ein Zwinker-Smiley auf gelben Grund, darüber die Aufschrift „Bitte lächeln. Deine Mutter hat sich für dich entschieden“.
Ein Gruß an die Bischöfe
Kumpelig begrüßt der 27-jährige Organisator im lockeren Jackett die Bischöfe und Politiker*innen, die heute gekommen sind. Eine von ihnen ist Gudrun Kugler, Nationalratsabgeordnete der regierenden konservativen ÖVP. „Vielen Dank auch für deinen Einsatz, gerade auch bei diesem Thema, dem Matić-Bericht“, ruft der Sprecher ihr zu. „Es ist ganz großartig zu sehen, dass auf nationaler und internationaler Ebene österreichische Politiker führend mit dabei sind.“
Gudrun Kugler, große goldene Ohrringe, bunte Bluse, steht etwas abseits. Seit 2017 sitzt sie für die regierende ÖVP im Nationalrat, sie ist dort Sprecherin für Menschenrechte und Vertriebene. Gudrun Kugler war in den Gründungsjahren bei CitizenGo dabei. „Kampagnenmangerin, Deutsch“, steht neben ihrem Namen in einer internen Personalliste von Anfang 2014. Ein anderes Dokument zeigt eine Partnerschaftsvereinbarung zwischen CitizenGo und Kugler. Auf taz-Anfrage schreibt Kugler, CitizenGo habe das Unternehmen ihres Ehemannes beauftragt, die deutschsprachige Plattform von CitizenGo aufzubauen. Sie habe „sporadisch mitgeholfen, wenn es nötig war“.
Kugler ist dort angekommen, wo die antifeministische Bewegung hinwill: in der Mitte. In Deutschland haben es Leute wie Beatrix von Storch geschafft, den Kampf gegen Frauenrechte und LGBTIQ in der AfD zu verankern. Aber wer Einfluss will, dem reichen die Stimmen der Rechtsextremen nicht. Deswegen zielen viele Kampagnen von CitizenGo auf den rechten Rand der Christdemokrat*innen und Konservativen.
Auch in Spanien nähert sich CitizenGo der Macht von rechts außen. Im April 2014 veröffentlicht Hazte Oír, die spanische Organisation aus der heraus CitizenGo gegründet wurde, eine Wahlempfehlung für die Europawahl. Favorit: die Rechts-außen-Partei Vox, die gerade erst gegründet wurde. Sie wird zur neuen Verbündeten von Arsuaga und seinen Mitstreiter*innen. Von der konservativen Partei Spaniens fühlen sie sich verraten, sie ist ihnen zu liberal geworden.
Vox ist heute die drittstärkste Partei im spanischen Parlament und hat auch auf die Regierung Einfluss, sie stützt in drei Regionen eine*n konservative*n Regionalpräsident*in. Vox ist so etwas wie eine spanische Tea Party, rechtspopulistisch bis rechtsextrem; für strenge Einwanderungsregeln, für lasche Waffengesetze, für eine zentralistische Regierung unter Führung der Armee. Und was ihre gesellschaftspolitischen Positionen angeht, ist sie völlig auf Linie mit CitizenGo, radikal antifeministisch.
Offiziell ist man unabhängig voneinander, aber CitizenGo macht Werbung für die Positionen von Vox und Werbung gegen die der politischen Konkurrenz. Und es gibt auch direkte personelle Verbindungen. Ein Mann saß nach spanischen Medienberichten im Kuratorium von CitizenGo, bis er Vox-Abgeordneter wurde. Der Vater eines weiteren Kuratoriumsmitglieds sitzt für Vox im Parlament. Arsuaga und der Parteichef sind spanischen Medien zufolge befreundet.
Am 24. Juni stimmen die Abgeordneten im EU-Parlament über den Matić-Bericht ab. Neil Datta, der Gegenspieler von CitizenGo, steht extra früh auf, um die Parlamentsdebatte einzuschalten. Zwischen der ersten und der zweiten Abstimmung im Parlament spricht er per Zoom mit der taz. Die Zahlen der ersten Abstimmung hat er sich vorhin in sein Notizbuch geschrieben: 373 zu 288. Es sieht gut aus für den Matić-Report, aber sicher ist noch nichts.
Rückschlag für die Liberalen
„Sie haben exakt dasselbe Strategiebuch benutzt wie damals 2013“, sagt Datta. Damals, als CitizenGo seine Petitionskanone das erste Mal abgeschossen hat. Warum hat das dieses Mal nicht so gut funktioniert? Obwohl die Organisation jetzt mehr Geld hat, mehr Macht. Und obwohl die extrem Rechten in Europa mehr politischen Einfluss haben als noch vor acht Jahren?
Es war mühevolle Kleinarbeit. Datta warnte dieses Mal, bevor es knallte, aber er beließ es nicht bei ein paar Worten. Er holte die Mitarbeiter*innen von Abgeordneten in Zoom-Treffen zusammen und erklärte, was sie in ihren Postfächern in den kommenden Wochen erwarten werde. Er und sein Team sprachen viele Abgeordneten der Europäischen Volkspartei persönlich an, denn von deren Stimmen hing alles ab. Sie verhandelten hart und versuchten im Report Kompromisse zu finden. Sie schrieben lange E-Mails, und sie bereiteten den Abgeordneten Predrag Matić darauf vor, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit persönlich attackiert werden würde.
Trotz all der Arbeit müssen Datta und seine Leute zunächst einmal einen großen Rückschlag verkraften. Trotz der Verhandlungen im Vorfeld bringt die konservative EVP einen eigenen Alternativantrag ein. Wenn alle EVP-Abgeordneten für diesen Gegenantrag stimmen und die Rechten auch, dann ist das das Aus für den Matić-Report. CitizenGo hätte gewonnen.
Mitarbeiter*innen von CitizenGo auf Facebook
Aber es kommt anders. Nach einer emotionalen Debatte stimmt die Mehrheit der Europäischen Abgeordneten für den Matić-Bericht. Das europäische Parlament bekennt sich dazu, dass die Selbstbestimmung von Frauen über ihren Körper in der EU nicht eingeschränkt werden darf. Ein historischer Moment.
CititzenGo will sich mit dieser Niederlage nicht abfinden. „Wir haben gekämpft bis zur letzten Minute“, schreiben Mitarbeiter*innen der Organisation später auf Facebook. Sie versprechen: „Wir werden nicht nachlassen.“ Das tun sie auch nicht, sie ändern nur die Strategie. CitizenGo bekämpft jetzt den Mann, der den Widerstand gegen sie angeführt hat. Sie starten eine Petition gegen Neil Datta und seine Organisation. Sie fordern eine Untersuchung. 139.951 Menschen haben angeblich bereits unterzeichnet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Aktionismus nach Magdeburg-Terror
Besser erst mal nachdenken
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Gedenken an den Magdeburger Anschlag
Trauer und Anspannung