Kulturkampf um Kinder: Evangelikale gegen den Staat

Mit einer beispiellosen Kampagne versuchen christliche Fun­da­men­ta­lis­t:in­nen derzeit auf einen Sorgerechtsstreit in Walsrode Einfluss zu nehmen.

Demo-Zug, Plakat "Diese Kinder sind nicht zum Verkaufen"

Kamen zu Tausenden nach Walsrode: Evangelikale aus ganz Europa Foto: Märit Heuer

BREMEN taz | „Jugendamt childhood killer“ steht auf einem schwarz-rot-gelben Plakat, und auf einem anderen samt Reichsadler: „Achtung, Kinder werden entführt“. Mit diesen und ähnlichen Sprüchen, das zeigen Videoaufnahmen, demonstrierten am Sonntag 6.500 Menschen aus mehreren europäischen Ländern gegen einen Sorgerechtsentzug im niedersächsischen Walsrode. Der Ort hat 24.000 Einwohner:innen.

Neben der Solidarität mit der Familie dürfte es den Or­ga­ni­sa­to­r*in­nen aber noch um etwas anderes gegangen sein. In den sozialen Medien beschwören die Un­ter­stüt­ze­r:in­nen eine Diskriminierung bibeltreuer Chris­t:in­nen durch den deutschen Staat.

Das Sorgerecht für seine sieben Kinder im Alter von zwei bis 16 Jahren verloren hat ein aus Rumänien stammenden Paar. Sie sind Mitglieder einer Pfingstgemeinde in Hannover. Pfingstgemeinden verbinden mit anderen fundamentalistischen protestantischen Strömungen – die oft „evangelikal“ oder „freikirchlich“ genannt werden – rigide Geschlechtsrollenbilder. Homosexualität, Sex vor der Ehe und Schwangerschaftsabbrüche werden abgelehnt.

Zudem sind Kinder aus evangelikalen Familien einem größeren Risiko körperlicher Gewalt ausgesetzt. Zu diesem Schluss kamen Wis­sen­schaft­le­r:in­nen des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen im Jahr 2010. „Je stärker die Eltern in ihrem Glauben verankert sind, umso mehr prügeln sie“, hatte der Institutsleiter Christian Pfeiffer gesagt. Erklären lässt sich das auch mit der 1:1-Übernahme biblischer Gebote. Bibeltreue ist ein weiteres Merkmal der Evangelikalen. Jedenfalls wenn es um Sexualität sowie die Rechte von Frauen und Kindern geht.

Eltern geben Fehler zu

Elterliche Gewalt soll auch der Grund sein, warum das Jugendamt im vergangenen April alle Kinder in Obhut nahm und sie in Wohngruppen beziehungsweise einer Pflegefamilie unterbrachte. Anschließend hatte das Familiengericht den Eltern das Sorgerecht für die Kinder teilweise entzogen. Vor zwei Wochen entschied das Familiengericht, das Sorgerecht vollständig zu entziehen. Diese Entscheidung ist vorläufig, bis zu einer Anhörung am 21. März.

Nach Berichten der Walsroder Zeitung, die nach eigenen Angaben Gerichtsakten eingesehen hat, sollen die Eltern die älteren sechs Kinder geschlagen haben. Die Eltern hätten Fehler gemacht, die sie jetzt einsehen würden, zitiert die Zeitung in einem Artikel vom Mittwoch einen der drei Anwälte der Familie. Eine offizielle Bestätigung gibt es nicht. Familiengerichtsverfahren sind zum Schutz der Kinder nicht öffentlich, eine Sprecherin des Jugendamts beruft sich im Gespräch mit der taz auf den Datenschutz.

Es spricht einiges dafür, dass sowohl das Jugendamt als auch das Familiengericht Fehler gemacht haben. Die Eltern sagen den Medien, es habe vor der Inobhutnahme keine Gespräche mit dem Jugendamt gegeben, keine Hilfsangebote, wie es sonst üblich ist. Nachvollziehen lässt sich das von außen nicht, aber das hindert Tausende Menschen nicht daran sich einzumischen.

Das geht so weit, dass einige behaupten, die Gewaltenteilung in Deutschland sei aufgehoben: „Das Jugendamt heckt etwas mit dem Gericht aus“, heißt es auf Englisch auf der in Chicago herausgebrachten Online-Zeitung „Tribuna Românească“. Auf der Homepage ist ein Foto der Leiterin des Jugendamtes abgebildet, zudem Angaben zu ihrem Alter und ihrer Ausbildung.

User greifen diese in sozialen Medien persönlich an, andere attackieren den ältesten Sohn der Familie. Der jetzt 16-Jährige soll sich nach Medienberichten im vergangenen Jahr an eine Sozialarbeiterin der Schule gewandt und dieser von der Gewalt berichtet haben. Einer der Anwälte der Familie berichtet der taz, dass die meisten der Kinder zurück zu ihren Eltern wollten.

Fundamentalistische Stiftung agitiert mit

Beteiligt an der Kampagne gegen das Walsroder Jugendamt und das Familiengericht ist die in Spanien ansässige Stiftung „CitizenGO“, die nach eigener Darstellung „das Leben, die Familie und die Freiheit durch Online-Petitionen und Aktionen verteidigen“ will. Die taz hat mehrfach über die weltweit agierende Organisation und ihren teils erfolgreichen Einfluss auf Parlamente berichtet.

Sie agitiert gegen Sexualaufklärung an Schulen, Schwangerschaftsabbrüche und die Rechte von Homosexuellen – alles im Namen des Herrn. Dabei ist „CitizenGO“ mit Rechtsaußen-Politiker:innen vernetzt, unterhält Kontakte zum Umfeld von ­Wladimir Putin.

Derzeit sammelt sie Unterschriften für eine Petition an den Sprecher des Gerichts in Walsrode sowie an den Landrat des Kreises. In einer Erklärung auf der Homepage heißt es, das Jugendamt handele „offensichtlich aus ideologischen Gründen, die sich gegen eine auf christlichen Werten beruhende Erziehung von Kindern“ richtet. Und weiter: Wenn die Behörde nicht gestoppt werde, „wird dies ein völlig falsches Signal aussenden, das zu vermehrten behördlichen Übergriffen auf christliche Familien führen dürfte“.

Verlinkt sind fünf Beiträge* auf dem Youtube-Kanal „Klartext im O-Ton“, laut Selbstbeschreibung „eine private Initiative von Christen in Österreich“. Dort wird in erster Linie die Gefahr von Corona geleugnet. In den fünf Beiträgen unter dem Titel „Trauma Kindeswegnahme“ berichtet der Videoblogger Jo Hoffmann über den Fall der Familie.

Gewalt wird ausgeschlossen

In einem Beitrag werden alle sieben Kinder mit Namen, Alter und Hobbys vorgestellt. In einem anderen erklärt eine Psychotherapeutin, der älteste Sohn, der sich der Sozialarbeiterin anvertraut hatte, rebelliere wohl gerade gegen seine Eltern und deren Werte. Auch sie kommt aus dem evangelikalen Spektrum, verbreitet etwa die Falschbehauptung, es gebe ein „Post Abortion Syndrome“ nach Schwangerschaftsabbrüchen.

Ohne die Familie zu kennen, schließen Hoffmann und die Therapeutin aus, dass an den Schilderungen des Jungen über Gewalt etwas dran sein könne. Stattdessen wiederholt Hoffmann wieder und wieder, die Ju­gend­amts­mit­ar­bei­te­r:in­nen wollten „die Kinder vor dem religiösen Einfluss der Eltern schützen“.

Er warnt davor, dass „die Behörden versuchen, einen Präzedenzfall zu schaffen und Angst unter bibeltreuen Christen zu verbreiten“. Man könne sich darauf einstellen, „dass es in Zukunft mehr solcher Fälle geben wird“. Im Kern, sagt er wiederholt, gehe es um die Frage, „wem gehören die Kinder: Dem Staat oder den Eltern“.

Bis gestern Nachmittag wurden auf der Crowdfunding-Plattform „Gofundme“ knappe 70.000 Euro an Spenden für die Eltern gesammelt. Das Jugendamt hatte mit Stand vom Mittwoch seit dem Wochenende 344 Mails erhalten, in denen die Behörde zur Rücknahme ihrer Entscheidung aufgefordert wird.

* Die Videos waren am Tag des Erscheinens dieses Artikels in der Printausgabe der taz nicht mehr frei zugänglich (Anm. d. Red.)

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