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Offener Brief an Kanzler MerzSanktionen wären besser

Bernhard Clasen
Kommentar von Bernhard Clasen

Kanzler Merz hat die Reichenweitenbeschränkung von Waffen für die Ukraine aufgehoben. Unser Autor, der in der Ukraine lebt, findet das falsch.

Zerstörte Wohnhäuser im Dorf Markhaliwka in der Region um Kyjiw nach einem russischen Angriff am 25. Mai 2025 Foto: Evgeniy Maloletka/AP/dpa

D er Bundeskanzler hat die Reichweite für Waffen an die Ukraine aufgehoben. Unser Korrespondent in der Ukraine sieht das kritisch und hat an Friedrich Merz einen offenen Brief geschrieben:

Lieber Herr Merz,

da haben Sie also die Beschränkungen für die Reichweite von Waffenlieferungen an die Ukraine aufgehoben. Das ist sehr mutig von Ihnen, so eine riskante Entscheidung zu treffen. Allerdings werden nicht Sie es sein, der die Folgen Ihres Mutes bereits in den nächsten Tagen am eigenen Leib zu spüren bekommen wird. Die russische Antwort auf weitreichende Angriffe mit „unseren“ Waffen tief nach Russland hinein wird kaum ein „Ok, wir haben es eingesehen, wir hören auf zu bombardieren“ sein. Im Gegenteil: Russland wird seine Angriffe verstärken, qualitativ und quantitativ. Und wir, die wir in der Ukraine leben, werden das in den nächsten Nächten erleben.

Ich hätte eine bessere Idee: Sie waren doch kürzlich in Kyjiw. Just in dieser Zeit blieb es ruhig bei uns in der ukrainischen Hauptstadt. Ich weiß auch, warum: Die Russen trauen sich nicht, Kyjiw zu beschießen, wenn wichtige Politiker wie Sie hier sind. Deswegen wünsche ich mir, dass Sie öfter in die Ukraine reisen, auch mal ein paar Tage länger bleiben. Die Bevölkerung wird es Ihnen danken. Das ist jedenfalls besser, als Taurus zu schicken.

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Aber möglicherweise wollen Sie gar nicht so oft nach Kyjiw kommen. Nun, es gäbe da noch eine Alternative: Fahren Sie mal nach Lingen in Niedersachsen. Dort wollen der französische Framatome und der russische Atomkonzern Rosatom gemeinsam Atombrennstäbe bauen. Zur Erinnerung: Rosatom baut nicht nur AKW, sondern entwickelt auch Atomwaffen. Und die sind gegen uns gerichtet.

Die Gegner dieser russisch-französisch-deutschen Zusammenarbeit in Lingen würden sich freuen, wenn sie den Bundeskanzler auf ihrer Seite wüssten. Lieber Herr Merz, Raketen schicken, das können Sie. Aber Sanktionen ernsthaft durchziehen, das können oder wollen Sie nicht. Deswegen meine Bitte: Schöpfen Sie zunächst die Möglichkeiten der Sanktionen aus, bevor Sie weitreichende Raketen in die Ukraine schicken. Deutsche Drohnen und Raketen auf russisches Territorium – dabei kann wirklich nichts Gutes herauskommen.

Mit freundlichen Grüßen

Bernhard Clasen, Charkow/Charkiw

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Bernhard Clasen
Journalist
Jahrgang 1957 Ukraine-Korrespondent von taz und nd. 1980-1986 Russisch-Studium an der Universität Heidelberg. Gute Ukrainisch-Kenntnisse. Schreibt seit 1993 für die taz.
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13 Kommentare

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  • Danke für diese klaren Worte!



    Dass Merz nicht die hellste Kerze auf der Torte ist, hat sich ja allmählich rumgesprochen.



    Immerhin war er beim Thema Staatsfinanzen ja lernfähig...



    Die Hoffnung stirbt zuletzt.



    Ich wünsche den Ukrainerinnen und Ukrainern, dass das Blutvergießen bald endet.



    Dass trump, ein Dreijähriger im Körper eines Nilpferds, keine Ausdauer hat, ist offensichtlich.



    Das müssen aber nicht gleich Alle Anderen nachmachen.

    • @Philippo1000:

      Merz redet manchmal schneller als er denkt, aber doof ist der sicher nicht. Das kann man über keinen unserer bisherigen Kanzler sagen. Mit doof werden sie weder Ministerpräsident noch Kanzler.

      • @Nachtsonne:

        Um mal ein plakatives Beispiel zu nennen: halten Sie Donald Trump für intelligent?



        Gerissen, rücksichtslos, vielleicht bauernschlau - ja, All das, das hat aber wenig mit Intelligenz zu tun.



        Merz ist das in abgespeckter Version.



        Ich halte mich da an das Urteil von Angela Merkel. Der kann Merz nicht das Wasser reichen.



        Es ist natürlich ein bisschen peinlich, denn schließlich haben Ihn ja Menschen gewählt, das fällt dann auf sie zurück.



        Aber halten Sie die Deutschen für überwiegend intelligent?



        Dann warten wohl noch bittere Erkenntnisse auf Sie.



        Merz wurde gewählt, weil die Menschen lieber Probleme ignorieren, statt sie anzugehen.



        Merz wurde gewählt, weil die BürgerInnen oft zurück zu einer Zeit wollen, die es nie gab.



        Es erinnert an die " blühenden Landschaften", wenn Verbrenner und AKWs unsere Probleme lösen sollen.



        Bis vor Kurzem glaubte Merz noch, wir könnten uns diese riesige Infrastrukturmaßnahme aus den Rippen schneiden.



        Immerhin hat er eingesehen, dass das wohl nicht klappt.



        Womit wir beim Thema wären: an einer großen Klappe fehlt es Ihm nicht...

  • So, was also the graetest and bigest POTUS ever bisher nicht vermochte, richtet jetzt der 200-cm-Zwerg aus Berlin?



    Reichweitenbegrenzung: getillt. Heißt also, zumindest aus deutscher Sicht, eine neue Eskalationsstufe wird eingeläutet.



    Unser BuKa lässt sich zu stark von momentanen Emotionen leiten. Hätte sich mal bei Herrn Scholz ein wenig von dessen norddeutscher Nachdenklichkeit ab schauen sollen.



    Aber Nachdenken und Zurückhaltung wird vom Wähler als Eigenschaft eines Looser's gewertet. Oder warum sonst gibt es die AfD?

    • @LeKikerikrit:

      Aber Nachdenken und Zurückhaltung wird vom Wähler als Eigenschaft eines Looser's gewertet. Oder warum sonst gibt es die AfD?

      Sie meinen die AfD die auf Anti-Kriegs-Demos marschiert und der eine Russlandnähe nachgesagt wird?

      www.nzz.ch/interna...-lassen-ld.1665206

      Ja, diese AfD will am besten gar keine Waffen mehr liefern (ausser vielleicht nach Russland) und keine Sanktionen

  • Herr Clasen. Sie haben absolut Recht, es sollten sämtliche Möglichkeiten der Sanktionen ausgeschöpft werden. Aber ich mutmaße jetzt, dass sie im zeweifelsfall Verbindungen nach Deutschland haben und nicht in einer von Russland besetzten Ukraine leben werden.

    Trotz steigender Verhandlungsbereitschaft lehnt die Mehrheit der Ukrainer territoriale Zugeständnisse ab. In einer Umfrage des Kyiv International Institute of Sociology (KIIS) im Mai 2024 sprachen sich 58 % gegen solche Zugeständnisse aus, ein Rückgang gegenüber 80 % im Mai 2022 .

    Eine Umfrage des International Republican Institute (IRI) ergab, dass 88 % der Ukrainer weiterhin an einen Sieg über Russland glauben. Zudem unterstützen 71 % die Rückeroberung aller verlorenen Gebiete, einschließlich der Krim .

    www.iri.org/news/i...ng-lost-territory/

    Und diese Ziele werden eben auch mit Waffen erreicht die überhaupt erst ermöglicht haben, dass die Ukraine noch existiert

  • " Im Gegenteil: Russland wird seine Angriffe verstärken, qualitativ und quantitativ."



    Nein, genau das ist der Grund, weshalb das ukrainische Militär und die politische Führung des Landes auf Freigabe drängen. Man kann dann nämlich die rückwärtige militärische Infrastruktur Russlands (Kommandozentralen, Abschussrampen, logistische Knotenpunkte etc.) unter Beschuss nehmen und damit Angriffe erheblich erschweren. Davon abgesehen, kann ich überhaupt nicht erkennen, dass sich Russland derzeit irgendwelche Restriktionen bzgl. seiner Angriffe auferlegt, den Krieg gewissermaßen mit angezogener Handbremse führt. Tatsächlich greift Russland schon jetzt völlig skrupellos zivile Ziele an. Insofern erinnert das etwas an das unsägliche Gerede vom angeblichen "Eskalationspotential" Russlands, mit dem die Appeasement-Fraktion seit Jahren schon jedwede militärische Unterstützung der Ukraine auszubremsen versucht.

  • Es ist offen, ob die Taurus geliefert werden. Die Reichweitenbeschränkungsrücknahme bezieht sich auf welches Waffensystem? Dürfen die Panzerhaubitzen jetzt auch auf russisches Stastsgebiet schießen? Das wäre dann wohl maximal bis 30km hinter der Grenze. Soviel Recherche hätte durchaus sein dürfen, zumal bis vor kurzem die Lieferungen an die Ukraine auf der Homepage des BMVg bemerkenswert transparent gemacht wurden. Anlässlich deutscher Naivität steht sogar zu befürchten, dass die dort genannten Daten vollständig und richtig waren. Und warum berichtet der Korrespondent der TAZ in der Ukraine nicht über die Meinung der Ukrainer, der Leute auf der Straße sowie politischer und militärischer Entscheidungsträger? Nichts gegen die persönliche Meinung von Hr. Clasen.

  • Die Aufhebung ist seit Monaten Tatsache, nicht erst seit heute. Allerdings hat D gar keine Waffen geliefert die dazu in der Lage wären. Insofern ist es wohl eher eine Geste.

    Die USA importieren ihr Uran auch vor und seit 2022 aus Russland, Das Geschäft läuft. In Russland und seinen Partnern gibt es seit Jahren Netzwerke und Vertriebskanäle für alles was mit Sanktionen belegt ist.

    Die einzigen ernsthaften Sanktionen mit Wirkung sind die Vermögen der Oligarchen. Aber dazu müssten die Dimensionen weitreichender sein. Putin kann Ölgeld und Posten verteilen und dann ist das schnell vergessen.

  • Weitreichender dürfte doch auch bedeuten, man kann mehr militärische Infrastruktur treffen, somit eine Verringerung dessen. Wie auch immer, weiterhin natürlich inklusive anderer Kanäle wie Diplomatie (natürlich schwer angesichts der russischen Aggressivität und Nicht-Bewegung) und Sanktionen.

  • Es ist nie falsch wenn die Offziere mit in den Schützengraben gehen . Dass Framatom und Rossatom in Lingen die Vorausetzungen für das russische Atomarsenal schaffen wusste ich noch nicht. Das sollte man nicht dulden. Die Argumentation "Vorsicht, die Russen könnten wütend werden und zurückschießen" klingt vernünftig hat aber nichts genützt. Ich bin für Taurus und weitreichende Waffen. Der Autor sitzt in Charkiw und weiß was er schreibt, deswegen müsste man seine Thesen besonders bedenken: Wir liefern seit 3 Jahren kein Taurus, keine weitreichende Waffen etc. Wurden die Ukrainer deswegen in Ruhe gelassen? Ich würde sagen : Nein, Kinderkrankhäuser wurden deswegen mit russischen Marschflugkörpern angegriffen. Wir sind mit der Lieferung deutlich zu spät dran.

  • Herr Clasen hat völlig recht mit seiner Kritik an Lingen und zu zaghaften Sanktionen, möge sich aber bitte verkneifen, im Namen von "wir in der Ukraine" Einschränkungen bei Lieferung und Einsatz westlicher Waffen zu fördern. Die überwältigende Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung fleht geradezu um mehr militärische Möglichkeiten, da sie weiß, zu welchem Massaker die bei deutschen "Friedens"engagierten so beliebten Einschränkungen führen.

  • Sorry, aber der Autor hat in Merz den vollkommen falschen Adressaten, wenn er er sich vor der russischen Reaktion fürchtet: nicht Merz wird über den Einsatz entscheiden, sondern die ukrainische Führung. Und es ist gut und richtig, dass sie das frei tun darf; allein dem Wohl und Überleben ihres Landes verpflichtet.