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Oberstes Gericht in den USADie Anmaßung

Bernd Pickert
Kommentar von Bernd Pickert

Dass in den USA Roe v. Wade gekippt wurde, zeigt: Der Oberste Gerichtshof agiert für eine radikale Minderheit. Abtreibungen sind wohl nur der Anfang.

Radikalisiert durch ergaunerte Rich­te­r*in­nen­no­mi­nie­run­gen: der Oberste Gerichtshof Foto: Erin Schaff/ap

E in Begriff macht derzeit in den USA die Runde: minority rule. Unelegant, wie das Deutsche oft ist, etwa „Herrschaft der Minderheit“. Das beschreibt tatsächlich recht genau, was der konservativ besetzte Oberste Gerichtshof in Washington gerade mit den Vereinigten Staaten anstellt.

Die Entscheidung, das fast 50 Jahre alte Abtreibungsurteil Roe v. Wade zu kippen und damit allen Frauen in konservativ regierten US-Bundesstaaten ein Recht zu nehmen, das sie seit 1973 als Grundrecht ansehen konnten, ist dabei nur die Spitze des Eisbergs: Trotz allen Geschreis der selbst erklärten „Lebensschützer*innen“ – sprich: des reaktionärsten Flügels der Republikanischen Partei – zeigen alle seriösen Befragungen seit vielen Jahren eine konstante Mehrheit für das Recht auf sicheren und legalen Schwangerschaftsabbruch.

Aber während in vielen traditionell kulturell konservativen Ländern Lateinamerikas inzwischen dieses Recht erkämpft wurde, wirft die konservative 6:3-Mehrheit im Supreme Court die USA ein halbes Jahrhundert zurück. Eine unglaubliche Anmaßung.

Rechte Talking Points

Donald Trump hat das Gericht mit seinen ergaunerten Rich­te­r*in­nen­no­mi­nie­run­gen radikalisiert. Nun verordnet eben dieses Gericht den USA eine Transformation, die weit über das Recht auf Schwangerschaftsabbruch hinausgeht. Wenige Tage vor der Rücknahme von Roe v. Wade – die ja damit begründet wurde, es sei Aufgabe der Bundesstaaten, über solche Fragen zu entscheiden – hatte der Gerichtshof entschieden, der Bundesstaat New York dürfe keine Restriktionen beim Waffentragen auferlegen, das verstoße gegen den Zweiten Verfassungszusatz. Und am Donnerstag entschieden die Rich­te­r*in­nen auf eine Klage der Kohlelobby, die Bundesumweltschutzbehörde EPA habe nicht das Recht, nationale Grenzwerte für Treib­hausgasemissionen festzulegen.

Zusammengenommen wird klar: Dieser Gerichtshof folgt keinen Rechtsgrundsätzen, sondern rechten Talking Points. Die Vorlagen dazu liefern entweder republikanisch regierte Bundesstaaten oder konservative Lobbyorganisationen. Wer sich gefragt hat, was eigentlich damit gemeint war, wenn angesichts der Ernennung der Rich­te­r*in­nen Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett immer kommentiert wurde, damit bleibe der Trumpismus über Jahrzehnte an einer Schlüsselstelle der Macht, bekommt jetzt die Antwort.

Und es ist davon auszugehen, dass auch die Skandalurteile der letzten 14 Tage nur der Anfang waren. Schon jetzt suggerieren einzelne Richter, dass demnächst etwa auch LGBTQ*-Rechte bedroht sein könnten. Das ist freilich besonders heikel, weil zum Beispiel auch das Recht auf gleichgeschlechtliche Ehe in den USA anders als in der Bundesrepublik nicht durch Parlamentsmehrheit beschlossen, sondern 2015 durch ein Urteil des damals liberal besetzten Obersten Gerichtshof entschieden wurde.

Das Prinzip der Gültigkeit eines einmal entschiedenen Präzedenzfalls ist ein Kernstück des anglo-amerikanischen Rechtsverständnisses. Wird es einfach mal so über den Haufen geworden, wie jetzt bei Roe v. Wade, ist jede Rechtssicherheit dahin.

Der demokratische Sauhaufen

All das müsste zumindest eine Welle von Wahlsiegen der De­mo­kra­t*in­nen etwa bei den midterm elections nach sich ziehen, den Novemberwahlen zur Halbzeit von Joe Bidens Präsidentschaft. Klare Mehrheiten im Kongress könnten Bundesgesetze verabschieden und so zum Beispiel das bundesweite Recht auf Abtreibungsfreiheit endlich gesetzlich verankern – falls der Supreme Court das zuließe.

Nur: Anders als die Republikaner*innen, die seit Jahrzehnten stur, skrupellos, auf den radikalsten Teil ihrer Basis fokussiert und durchaus strategisch schlau ihre Agenda vorantreiben, agieren die De­mo­kra­t*in­nen im Kongress immer wieder als planloser Sauhaufen. Wer De­mo­kra­t*in­nen wählt, kann sich nicht darauf verlassen, dass sie umsetzen, was ihren Wäh­le­r*in­nen wichtig ist, selbst wenn sie die Chance dazu haben. Die Präsidentschaft Barack Obamas und die Belange der Schwarzen Bevölkerung waren dafür das beste und enttäuschendste Beispiel.

Und noch ein anderer Aspekt der politischen Debatte über die jüngsten Supreme-Court-Entscheidungen zeigt, welche Zeitenwende in den USA im Gange ist. Die linke Senatorin Elizabeth Warren etwa sagt, das Oberste Gericht sei nunmehr als „illegitim“ anzusehen. Das ist politisch nachvollziehbar, und sie ist nicht die Einzige, die das meint. Aber war es nicht just Donald Trump, der stets die Legitimität der Gerichte zu untergraben suchte und der ohne die Standhaftigkeit diverser Rich­te­r*in­nen womöglich seine Wahlniederlage vom November 2020 zu einem Sieg hätte erklären lassen? Auch hier wirkt seine Amtszeit zerstörerisch nach: Wenn jetzt weder Rechte noch Liberale die Rechtsprechung für legitim halten, also die Rechtmäßigkeit einer der drei Staatsgewalten in der öffentlichen Wahrnehmung massiv beschädigt ist, dann ist es um Demokratie und Rechtsstaat nicht mehr gut bestellt.

Trumps Amtszeit wirkt hier zerstörerisch nach: wenn weder Rechte noch Liberale die Rechtsprechung für legitim halten

Genau diese Legitimität aber wäre nötig, um die US-Institutionalität vor der weiteren Zerstörung durch die zum Trumpkultverein transformierte Republikanische Partei zu bewahren. Wenn etwa die derzeit laufenden Anhörungen zu Trumps Rolle bei der Stürmung des Kapitols am 6. Januar 2021 tatsächlich zur strafrechtlichen Verfolgung des Ex-Präsidenten führen sollten, bräuchte es die allgemeine Anerkennung einer unabhängigen Justiz. Von Trump und seinen An­hän­ge­r*in­nen ist das nicht zu erwarten: Sie werden immer von einer „politisch motivierten Hexenjagd“ sprechen. Können aber die De­mo­kra­t*in­nen politisch den einen Gerichtshof als illegitim begreifen, den anderen aber als objektive Rechtsinstanz?

Die massiven Fehler und Schwachstellen der US-Demokratie sind seit Jahren bekannt. Ein Senat, in dem die 760.000 Ein­woh­ne­r*in­nen von North Dakota exakt dasselbe Gewicht von zwei Stimmen haben wie die fast 40 Millionen Ein­woh­ne­r*in­nen von Kalifornien, ist zwar historisch erklärbar, führt aber keine Entscheidungen herbei, die Mehrheiten repräsentieren. Gerrymandering, also der beliebige Neuzuschnitt von Wahlkreisen, verzerrt die Mehrheiten im Repräsentantenhaus und den Staatsparlamenten. Der ungeregelte Einfluss von Lob­by­is­t*in­nen auf Wahlkämpfe und Gesetzgebung tut ein Übriges.

Ein Oberster Gerichtshof, der im Sinne der radikalen Agenda einer Minderheit agiert, könnte der letzte Sargnagel für das ohnehin angeschlagenes US-System sein.

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Bernd Pickert
Auslandsredakteur
Jahrgang 1965, seit 1994 in der taz-Auslandsredaktion. Spezialgebiete USA, Lateinamerika, Menschenrechte. 2000 bis 2012 Mitglied im Vorstand der taz-Genossenschaft, seit Juli 2023 im Moderationsteam des taz-Podcasts Bundestalk. Bluesky: @berndpickert.bsky.social In seiner Freizeit aktiv bei www.geschichte-hat-zukunft.org
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24 Kommentare

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  • Es gibt ein weiteres extremes, geradezu terroristisches Urteil, gemäß dessen Unschuldige hingerichtet werden dürfen, wenn die Verfahren korrekt gelaufen sind. Hierzu beispielsweise einen Artikel in der Washington Post: www.washingtonpost...t-shinn-innocence/ Der oberste Gerichtshof hat damit staatlichen Mord an Unschuldigen für legal erklärt. Dies ist nicht mehr mit einem Rechtsstaat vereinbar und wer dies vereinbaren will, legitimiert staatlichen Mord. Es ist erstaunlich, dass dieses extreme Urteil kaum Resonanz in den Medien findet.

  • Ach Herr Bernd Pickert.

    Sach mal so: “Totgesagte leben länger.“



    &



    “Frei nach dem Motto: Nur weil etwas umstritten ist, heißt das nicht, dass man es nicht schreibend ergründen kann.“



    taz.de/Personenfue...d-Pickert/!143200/

    kurz - “…kann.“ - Schonn •

  • Sehr lesenswert



    Essay



    Der Kampf um Abtreibung in den USA: Frauen gegen Frauen



    Von:Annett Meiritz,Juliane Schäuble



    www.handelsblatt.c...auen/28475512.html

  • Die Wähler, aber erst recht die Wählerinnen, haben es (trotz Gerrymandering) in der Hand, die politischen Verhältnisse zu ändern. Es sieht für mich so aus, als bräuchte die US-Gesellschaft die Eskalation der Fehlentwicklungen, um politisch aufzuwachen.



    Besonders in den US-Staaten, die konservativ geführt werden.

    • @Jossito:

      "Besonders in den US-Staaten, die konservativ geführt werden."

      Viele Wähler dort wollen diese Entwicklungen. Sie gehören zu ihrem Glauben.

  • "Unelegant, wie das Deutsche oft ist, etwa „Herrschaft der Minderheit“."

    Deutsch ist tatsächlich etwas spröde - vor allem, wenn man ganz unelegant glaubt, auf das Verb verzichten zu können.



    Von daher würde ich sagen: It's the singer, not the song.

  • Ach ja, jetzt gehts gegen die amerikanische Justiz.



    Ich erinnerer mich an Robert H. Jackson und bin der amerikanischen Justiz von Herzen dankbar.



    www.youtube.com/watch?v=EJj6NcWHkDE

    • @Günter:

      Es geht nicht um die amerikanische Justiz per se, sondern konkret um die aktuelle Entscheidung des politisierten, von aktuell konservativen und evangelikalen Richter:innen durchsetzten Supreme Court. Vor einigen Jahren war es noch ein wenig anders.

  • Es zeigt, dass Europa zusammenwachsen muß und die Rechte, sofern sie Verfassungsfeinde sind, ausschalten resp. verbieten muß.

  • Herr Pickert kritisiert die Entscheidung und wirft den Juristen gar Anmaßung vor, ohne sich auch nur im Ansatz mit der US Verfassung näher auseinanderzusetzen. Ehrlich gesagt habe ich erhebliche Zweifel, ob sich das Abtreibungsrecht tatsächlich aus der Verfassung ergibt.

    Die Richter haben die Entscheidungshoheit über die Frage der Abtreibung lediglich in die Hände der Abgeordneten gelegt. Das ist ganz genau der Zustand, der auch in Deutschland herrscht, nicht mehr und nicht weniger. Die Entscheidung liegt nun bei den jeweiligen Abgeordneten. Wo ist da die Anmaßunng?

    Ferner gibt es Änderungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung sowohl in Deutschland als auch in den USA (und ist in beiden Ländern selten).

    • @DiMa:

      Finde deinen Kommentar gut. Normalerweise erwartet man hier eher die mit dem Schaum vor dem Mund.

      Roe vs. Wade war für mich ein Unfall der Geschichte.

      Das dies nun jeder Bundesstaat für sich entscheiden kann finde ich in Ordnung.

      • @FermentierterFisch:

        Trotzdem ist das Urteil zu radikal, da es mit den vorher getroffenen und bestätigten Gerichtsentscheidungen vollständig bricht. Der Minderheitenvorschlag des einen konservativen Richters mit freiem Legislativentscheid ab 15. Woche wäre das angemessenere Urteil gewesen.



        Nichtsdestotrotz zeigt die jetzige Situation die Grenzen von richterlichem Aktivismus und konkreten Parlamentsbeschlüssen auf.

        • @FancyBeard:

          Sicherlich wäre ein Recht, die Abtreibung bis zu einem gewissen Punkt zu erlauben, ein gutes Recht. Nur ist es Sinn und Zweck des Gerichtes Gesetze auszulegen und nicht zu schaffen. Für den Minderheitenvorschlag gibt es in der US-Verfassung halt auch keinen Ansatzpunkt. Daher wäre dies wohl ein schwerer Fehler gewesen.

          Allein die gewählten Abgeordneten können so ein Gesetz schaffen.

          • @DiMa:

            Sorry - wiederhol mich - aber Ihr Verständnis von Aufgaben & Grenzen des Supreme Court & ich denke des durchaus verschiedenen BVerfG Karlsruhe - “…keine Gesetze schaffen…“ erheitert denn doch a weng. Und das ist nicht nur eine Definitionsfrage - wenn auch für Karlsruhe bereits anzuführen ist - daß der Tenor in Gesetzeskraft erwächst & nur das Gericht selbst das abändern kann.



            Anyway - jedenfalls wäre der dissenting vote Vorschlag - salopp formuliert - supreme-court-kompatibel gewesen - auch wenn er Ihrem Wunschkonzert purgata - nicht entsprochen hätte! Woll.

  • Mehrere Aspekte:



    Tradition hin oder her, Anzahl der Richter erweitern oder reduzieren geht immer via Kongress.



    Verstehe nicht warum die drei Richter aus der Zeit G. W. Bush derlei Entscheidungen fällen! Die können unmöglich Trump Jünger darstellen und haben nix zu befürchten in der Öffentlichkeit.



    Es scheint aus meiner Perspektive eben Beton auf Beton zu treffen. Abtreibung bis zur 24-sten Woche und Abtreibungsverbot sind für mich beides Extrempositionen. Ich glaube der vorsitzende Richter wollte da auch einen Kompromiss anbieten. Keiner hat mitgemacht. Dann gilt wohl das Recht des Stärkeren. Schlimm für Demokratien!



    Mann muss auch bei den Demokraten davon ausgehen, dass die zurückschlagen werden bei irgendeinem Thema, sobald sie das können. Abwägung und Kompromisse scheinen unmöglich.

    • @Tom Farmer:

      "Verstehe nicht warum die drei Richter aus der Zeit G. W. Bush derlei Entscheidungen fällen! Die können unmöglich Trump Jünger darstellen und haben nix zu befürchten in der Öffentlichkeit."

      Bush hat auch schon an der konservativen Mehrheit am Obersten Gericht gearbeitet. Die jetzigen Entscheidungen liegen schon sehr lange auf der Linie der Republikaner.

  • "Das Prinzip der Gültigkeit eines einmal entschiedenen Präzedenzfalls ist ein Kernstück des anglo-amerikanischen Rechtsverständnisses. Wird es einfach mal so über den Haufen geworden, wie jetzt bei Roe v. Wade, ist jede Rechtssicherheit dahin."

    Gilt das auch für Plessy v. Ferguson?

    • @Meister Petz:

      Gibt schon noch einen Unterschied zwischen der Ausweitung und der Einschränkung von Bürgerrechten. Außerdem war Seperate but Equal in der Realität nie vorhanden.

  • Sie schreiben hier sehr polemisch. Donald Trump hat nur einen Richtersitz „ergaunert“. Das aber auch nur, weil Barak Obama ein schwacher Präsident war. Zwei Richterposten hat er regulär eingesetzt.

    • @Dirk Osygus:

      Er hat einen weiteren Posten am Ende seiner Präsidentschaft besetzt, in dem schnellsten Einsetzungsverfahren aller Zeiten.

      • @MeineMeinungX:

        Das ist eben der ergaunerte Sitz.

  • „Herrschaft der Minderheit“?



    wo in der welt herrscht sie denn nicht? sicher ist es ärgerlich, aber wenigstens sehen einige aus der riege aus, als könnten sie in bälde befördert werden...



    aber es sind die einzelnen staaten die die regeln machen und in denen sind wohl kranke religiöse fundamentalisten in der mehrheit...



    alles nur symptome für eine krankes land und eine kranke welt...

  • je mehr demokratische errungenschaften ...

    oder erneuerungen untergraben oder verhindert werden, desto mehr auch für europa eine empfindliche niederlage.

  • Demokratie, planlos und Sauhaufen unterstütze ich augenblicklich. Fachinkompetentes Gelaber, regelmäßig an der Realität vorbei. Die Chancen für radikale Gruppierungen steigen unermeßlich.