Neuer Präsident in Argentinien: „Wir sind zurück!“
Mit einer großen Feier übernimmt der Mitte-links-Politiker Alberto Fernández Argentiniens Präsidentschaft. Größte Herausforderung ist die desolate Wirtschaft.
Bei brütender Hitze startete am frühen Nachmittag die Fiesta Popular vor dem Präsidentenpalast. „Alberto, querido – el pueblo está contigo“ (Alberto, Lieber – das Volk ist mit Dir) skandierte die Menge auf der aus allen Nähten platzenden Plaza de Mayo, als der neue Präsident kurz nach 20 Uhr Ortszeit auf die Bühne vor dem Präsidentenpalast trat und das Thermometer noch immer 35 Grad anzeigte.
Fernández hatte bereits am Tag zuvor Volksnähe demonstriert, als er die Gitterzäune vor dem Präsidentenpalast abräumen ließ und sich die Plaza de Mayo erstmals seit 2001 wieder ohne Absperrungen präsentierte. „Cristina und ich, wir wissen, wen wir repräsentieren“, rief er der Menge zu. „Vier lange Jahre mussten wir uns anhören, wir würden nie wiederkommen. Heute sind wir zurück.“ Der Rest war Fiesta, Jubel und Feuerwerk.
In seiner ersten Rede als Präsident vor dem Kongress hatte Fernández zuvor eine düstere Bilanz gezogen. „Argentiniens Wirtschaft hört nicht auf zu schrumpfen. Erstmal seit 1991 hat Argentinien eine Inflationsrate über 50 Prozent. Die Arbeitslosenquote ist die höchste seit 2006. Der Wert des Dollars ist seit 2015 von 9,60 Peso auf 63 Peso gestiegen.“ Die Wirtschaft und das soziale Gefüge seien in einem Zustand extremer Schwäche.
40 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze
Tatsächlich ist die Sozialbilanz von Vorgänger Macri verheerend. Der 60-Jährige selbst hatte die Senkung der Armutszahlen als die entscheidende Messlatte für den Erfolg seiner Politik ausgegeben. Ende 2015 hatte das angesehene Observatorio de la Deuda Social der Katholischen Universität 29 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze registriert. Nach vier Jahren Macri ist der Anteil der Armen auf 40.8 Prozent gestiegen, heißt es in dem Anfang Dezember veröffentlichten Bericht des Observatoriums. Das sind 2,8 Millionen Menschen mehr als Ende 2015.
„Die Regierung, deren Mandat gerade abgelaufen ist, hat uns das Land in einer virtuellen Zahlungsunfähigkeit hinterlassen“, sagte Fernández in seiner Kongressrede über den hohen Schuldenstand und machte dafür auch den Internationalen Währungsfonds verantwortlich, der der Macri-Regierung einen 57-Milliarden-Kredit eingeräumt hatte. Der IWF-Kredit sollte die bereits bestehende Zahlungsunfähigkeit verschleiern und Macris Wiederwahl sichern, so Fernández. Argentinien habe den Willen zu zahlen, aber es fehle die Fähigkeit dazu, konstatierte er.
Im kommenden Jahr beträgt der Schuldendienst 21 Milliarden US-Dollar, in den danach folgenden zwei Jahren sind es 44 Milliarden US-Dollar allein beim IWF. „Um die Schulden tilgen zu können, muss man erst wachsen“, sagte Präsident Alberto Fernández und kündigte eine harte Neuverhandlung der Verbindlichkeiten an.
Dafür zuständig ist seit Dienstag der neue Wirtschaftsminister Martín Guzmán. Der 37-Jährige hat bisher vor allem an US-Universitäten gelernt und geforscht, gilt als Schüler des von Cristina Kirchner sehr geschätzten US-Ökonomen Joseph Stiglitz, ist aber den meisten Argentinier*innen bisher unbekannt gewesen.
Erste Frauenministerin in Argentiniens Geschichte
Bekannter ist dagegen der 47-jährige Matías Kulfas. Der ehemalige Chef der halbstaatlichen Banco Nación soll als eine Art Super-Minister für produktive Entwicklung Wirtschaft und Konsum wieder zum Laufen bringen. Schon in den kommenden Tagen sollen Maßnahmen verkündet werden, die vor allem die Kaufkraft der ärmeren Bevölkerung stärken sollen.
Eine Schlüsselposition dabei nimmt der 57-jährige Miguel Pesce ein, der als neuer Zentralbankchef für die notwendige Emission von Pesos sorgen soll. Weshalb neoliberale Expert*innen bereits den weiteren Anstieg der Inflationsrate vorhersagen.
Mit der Ernennung von Elizabeth Gómez Alcorta zur Ministerin für Frauen, Geschlecht und Vielfalt hat Fernández bereits ein Wahlversprechen eingelöst: Erstmals hat Argentinien ein Frauenministerium. Bei ihrer Vereidigung hatte die 47-jährige Gómez Alcorta ein grünes Tuch um ihr Handgelenk gewickelt – das Symbol für den Kampf um das Recht auf legalen Schwangerschaftsabbruch. 2018 war die Lockerung des strikten Abtreibungsverbots an der Ablehnung des Senats gescheitert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Jahresrückblick Erderhitzung
Das Klima-Jahr in zehn Punkten
Anschlag von Magdeburg
Aus günstigem Anlass
Biden hebt 37 Todesurteile auf
In Haftstrafen umgewandelt