Neue „Schneewittchen“-Verfilmung: Besetz das Schloss!
Disney recycelt seinen Klassiker „Schneewittchen“ als Realfilm. Der ist künstlicher als das Zeichentrickoriginal und mit einigem Ballast beschwert.

Das mit dem Wachküssen ist so eine Sache. Wenn ein Prinz nicht weiß, dass sein liebender Kuss einen im magischen Tiefschlaf befindlichen Menschen erweckt – darf er dann trotzdem drauflos küssen? Oder ist das übergriffig? Beziehungsweise – wieso verliebt dieser Prinz sich überhaupt in jemanden, den er nur ohne Bewusstsein kennt!?
Die von den Brüdern Grimm gesammelten Märchen wimmeln vor widersinnigen, oft beängstigenden und brutalen Bildern. Sie gehen auf Mythen und Erzählungen aus der ganzen Welt zurück. Allein das 1812 in die „Kinder- und Hausmärchen“ aufgenommene „Schneewittchen“ enthält Motive, die sich bis ins 1. Jahrhundert verfolgen lassen – etwa die Totenwache am Glassarg des Fräuleins. Oder dessen versuchte Ermordung durch einen vergifteten Kamm.
Eine so mit Historie, Magie und Psychologie vollgestopfte Mär hat es in der Gegenwart nicht leicht. Im Fall des „Schneewittchen“-Realfilms, den der Disney-Konzern am Donnerstag im Kino startete, prallt somit einiges aufeinander: US-Rassist:innen war das Antlitz der Hauptdarstellerin Rachel Zegler zu dunkel – die 23-jährige Schauspielerin und Sängerin hat eine kolumbianische Mutter.
Dass Zegler der vor allem in den USA zum Kulturkanon gehörenden Original-Disney-Zeichentrickfigur von 1937 aufs (unbewegliche) Haar gleicht und eh fast „weiß wie Schnee“ ist – geschenkt.
„Schneewittchen“. Regie: Marc Webb. Mit Rachel Zegler, Gal Gadot u. a. USA/Vereinigtes Königreich/Italien/Deutschland 2025, 108 Min.
Aufreger ohne Ende
Kleinwüchsige, allen voran Peter Dinklage, kritisierten dagegen den angeblich stereotypen Einsatz von Schneewittchens Wahl-Mitwohnis: Das sei eine „verdammt gestrige Geschichte von sieben Zwergen, die in einer Höhle hausen“, fluchte der Schauspieler 2022 in einem Podcast – obwohl der deutsche Begriff „Zwerg“ nicht kleinwüchsige Menschen, sondern Fabelwesen aus der nordischen Mythologie bezeichnet. In den USA nennt man jedoch sowohl Kleinwüchsige als auch die Bartträger mit der Zipfelmütze „Dwarf“.
In einer Höhle wohnen jene Zwerge auch nicht, sondern in einem Häuschen (mit sieben Stühlchen, Bettchen und so weiter) – zudem mutmaßt die Märchenforschung, dass die fleißigen, aber mutterlosen Bergwerksarbeiter Kinder symbolisiert haben könnten: Bis zum 19. Jahrhundert wurden Kinder aufgrund ihrer geringen Größe unter Tage ausgenutzt. Disneys Entscheidung, computergenerierte Zwerge einzusetzen, um niemanden zu diskriminieren, produzierte gleich den nächsten Aufreger – schließlich gingen (kleinwüchsigen) Schauspielern so Jobs flöten.
Dass Zegler sich mit dem Tweet „Free Palestine“ zum Gaza-Krieg positionierte, während die Darstellerin der Stiefmutter, die israelische Schauspielerin Gal Gadot, sich öffentlich für die Freilassung der Hamas-Geiseln einsetzt, wurde vor allem von den Medien kräftig ausgeschlachtet. Und über all dem waberte der Versuch Disneys, sämtliche weitere, der misogynen Märchen-Grundkonstruktion (passives Mädchen wartet auf rettenden Prinzen) innewohnenden Problematiken abzufedern.
Die Eifersucht einer Königin
In Anbetracht all dessen ist der Kinderfilm, den der „Spider-Man“-Regisseur Marc Webb ähnlich wie im Original mit vielen Songs ausstattete, eine eher streberhafte Angelegenheit geworden – immerhin mit Backstory: Schneewittchen (Zegler), das so heißt, weil es während eines Schneesturms geboren wurde und nicht, weil die Mutter ein Kind „weiß wie Schnee“ wollte, verliert nach dem Verschwinden ihres Vaters jegliche Lebensfreude.
Mut- und antriebslos bohnert es unter der Fuchtel der Stiefmutter das Schloss und flirtet zaghaft mit dem feschen Silberdieb Jonathan (Andrew Burnap). Weil seine Schönheit die Eifersucht der Königin erweckt, stolpert Schneewittchen durch den ans Zeichentrickvorbild erinnernden dunklen Märchenwald und sinkt schließlich ins ungemachte Zwergenbettchen. Dort führt es das Bohnern und Wienern fort, diesmal mithilfe der dankbaren sieben „magischen Kreaturen“.
Auch ein brandneues Handlungsmotiv bekommt das Mädchen: den vielleicht noch lebenden Vater ausfindig zu machen. So gibt es ein Wiedersehen mit dem charmanten Dieb, mit dem das Gesangsduett in einem der seltenen humorvollen Momente (und dem Song „Princess Problems“) verdächtig gut klappt, man kämpft gar als Team im Wald gegen die königlichen Schergen – bis irgendwann doch Stiefmama mit dem fies-roten Apfel vor der Tür steht.
Am Ende musste Schneewittchen zwar wachgeküsst werden, aber formiert hernach eifrig eine dörfliche Allianz gegen die Herrscherin. Go girl, möchte man da rufen, nimm dem Schwiegertiger die Klunker ab und besetz das Schloss!
Animierte Vögelchen flattern aufgeregt
Wieso das Ganze als Realfilm gilt, bleibt schleierhaft – prozentual scheinen die Computerbilder fast zu überwiegen: Zeglers glattes Gesicht verschmilzt in der künstlich wirkenden, hell ausgeleuchteten Umgebung, während animierte Igelchen sich possierlich krümmen und animierte Vögelchen aufgeregt flattern. Die Musik, vor allem Neuinterpretationen der Klassiker (etwa „Whistle While You Work“ und „Heigh-Ho“), reicht insgesamt nicht an die Raffinesse der Originale heran. Und Stil hat allein die Stiefmutter: Gegen sie wirken Schneewittchens gelb-rote Puffärmel und ihr sauberer Scheitel wie aus dem Vorschulmalbuch.
Verglichen mit feurig-düsteren, erotisch aufgeladenen Fantasyfilmen wie „Snow White and the Huntsman“ oder dem selbstverständlich-selbstermächtigten Wildfang aus „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ lässt sich Disneys 270 Millionen Dollar schweres Märchen-Makeover also recht bieder an. An den Kinokassen wird das nicht stören. Denn eine jahrhundertealte Marke wie das „Schneewittchen“ kriegt man nicht so schnell kaputt. Es hat schließlich schon mehr als einen Mordversuch überlebt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
„Friedensgespräche“ in Riad
Die Verhandlungen mit Russland sind sinnlos
Ökonom über Steuersystem
„Auch in der Mitte gibt es das Gefühl, es geht ungerecht zu“
Letzte Generation angeklagt
Was sie für uns riskieren
Trumps Kampf gegen die Universitäten
Columbia knickt ein
Kostenloser Nahverkehr
Schafft endlich die Tickets ab
US-Journalist in Militärpläne eingeweiht
Kriegspläne gegen Huthis in Chat geleakt