Neue Bomben auf Gaza: Israel tötet Hamas-Minister und Zivilisten
Unvermittelt bombardiert die israelische Armee den Gazastreifen, es sterben mindestens 400 Menschen. Eine Bodenoffensive könnte folgen.

Mehr als 400 Menschen sind seitdem bereits getötet und Hunderte weitere verwundet worden, wie die Gesundheitsbehörden im Gazastreifen meldeten. Unter den Toten sind, wie von der Hamas bestätigt, mehrere politische Anführer und Minister der Hamas, darunter der Chef des Innenministeriums, Mahmud Abu Wafta. Notärzte melden zahlreiche getötete Frauen und Kinder. Ein Angriff in der Stadt Rafah im Süden Gazas soll 17 Mitglieder einer Familie getötet haben.
Mit den massiven Bombardierungen bricht Israel eine Waffenruhe, die trotz zahlreicher Verstöße beider Seiten seit zwei Monaten gehalten hatte. Die Armee hat gegen 2.30 Uhr mitgeteilt, „umfassende Angriffe gegen Terrorziele der Hamas“ auszuführen. Demnach solle die Operation „so lange wie nötig“ fortgesetzt werden.
Die Hamas wirft Israel vor, das Abkommen aufzukündigen und die noch in Gaza verbliebenen 59 israelischen Geiseln „einem ungewissen Schicksal auszusetzen“. Berichten zufolge hätten Vermittler am Dienstag auf die Freilassung weiterer Geiseln gedrängt – im Gegenzug für eine Deeskalation.
Bald Bodentruppen?
Bisher setzt Israel noch keine Bodentruppen ein, hat aber die Bewohner mehrerer Gebiete nahe der israelischen Grenze zur Evakuierung „gefährlicher Kampfzonen“ aufgefordert. „Wir haben weder die Kraft noch das Geld, ein weiteres Mal zu fliehen“, sagt eine Frau im betroffenen Beit Hanun im Norden Gazas am Telefon. „Wir hatten gerade gewagt, durchzuatmen. Nun sollen wir erneut gehen.“ Ein Foto zeigt einen Trümmerhaufen: ihr Familienhaus, das bereits vor Monaten zerstört wurde.
Dem Angriff waren Wochen ergebnisloser Verhandlungen vorangegangen. Die Hamas hatte auf die ursprüngliche Vereinbarung bestanden, die ab Anfang März einen vollständigen Abzug israelischer Truppen sowie ein permanentes Ende des Krieges vorgesehen hätte. Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu schließt seit Langem ein Ende des Krieges vor einer militärischen und politischen Zerstörung der Hamas aus.
Israel nahm die für Anfang Februar geplanten Gespräche über die zweite Phase des Abkommens daher nie auf, obwohl laut Umfragen rund zwei Drittel der israelischen Bevölkerung ein Ende des Krieges im Gegenzug für die Rückkehr aller Geiseln unterstützen. Das Forum der Geiselfamilien warf der Regierung am Dienstag vor, eine Wiederaufnahme der Angriffe „tötet die Gefangenen“.
Den Brückenvorschlag des von US-Sondergesandten Steve Witkoff, der eine Verlängerung der Waffenruhe um mehrere Wochen vorsah, hatte die Hamas zwar akzeptiert. Statt der geforderten fünf lebenden Geiseln wollte die Gruppe jedoch nur den US-Israeli Edan Alexander und vier israelische Leichen übergeben.
Luftangriffe mit den USA abgestimmt
Die Luftangriffe waren mit Washington abgestimmt. „Die Hamas hätte die Geiseln freilassen und die Waffenruhe verlängern können“, sagte die Sprecherin des Weißen Hauses, Karoline Leavitt, dem US-Sender Fox News. Auch Netanjahus Büro machte die „wiederholten Ablehnungen“ der Hamas verantwortlich.
Experten hatten im Vorfeld gewarnt, dass ein Einlenken der Hamas ohne Garantien für ein Kriegsende unwahrscheinlich sei, da die Geiseln deren einziges Druckmittel seien. Daran dürfte auch neuer militärischer Druck wenig ändern, glaubt der israelische Analyst und ehemalige Geheimdienstoffizier Michael Milstein. Er halte es „für unwahrscheinlich, dass die Hamas bereit sein wird, ihre roten Linien aufzugeben“, sagte Milstein der New York Times. Stattdessen könnte Israel ein „Zermürbungskrieg“ bevorstehen.
Was militärischer Druck erreichen soll, ist unklar. Obwohl die Armee nach dem Hamas-Überfall binnen 15 Monaten weite Teile des Gazastreifens zerstört und mehr als 48.000 Palästinenser getötet hat, ist es nicht gelungen, die Hamas zu besiegen.
Ein neuer Krieg dürfte vor allem die rund zwei Millionen Bewohner treffen und könnte noch zerstörerischer aussehen: Von US-Präsident Donald Trump ist mit Blick auf zivile Opfer kaum Widerspruch zu erwarten. Israel blockiert bereits seit Anfang März ohne Mahnungen seitens der USA humanitäre Hilfslieferungen in das Gebiet.
Wechsel in israelischer Führung
Auch in der israelischen Führung gab es jüngst mehrere Wechsel, die für einen noch härteren Kurs sprechen. In den vergangenen Monaten waren Armeechef Herzi Halevi zurückgetreten und Verteidigungsminister Joav Galant entlassen worden. Beide hatten sich zuletzt für Verhandlungen ausgesprochen.
Halevis Nachfolger Eyal Zamir hingegen versprach bei seinem Antritt, die Hamas zerschlagen zu wollen. Galants Nachfolger Israel Katz zeichnet sich vor allem durch seine Loyalität zu Netanjahu aus und hat bisher wenig Begeisterung für Diplomatie gezeigt. Am Sonntag gab Netanjahu zudem bekannt, die Absetzung von Ronen Bar einzuleiten, dem Chef des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet und eines weiteren Befürworters eines Abkommens.
Kritiker des Regierungschefs vermuten zudem innenpolitische Gründe hinter der Wiederaufnahme der Kämpfe: Unter den Wählern von Netanjahus teils rechtsextremer Regierungskoalition gibt es weiterhin eine Mehrheit für eine Fortsetzung des Krieges.
Der zu Beginn der Waffenruhe aus Protest ausgetretene Ex-Polizeiminister und messianische Siedler Itamar Ben-Gvir kündigte am Dienstag an, in die Regierung zurückzukehren. Kurzfristig braucht Netanjahu, der wegen Korruption vor Gericht steht, die Stimmen seiner Koalitionspartner dringend: Bis Ende des Monats muss ein neuer Haushalt verabschiedet sein, sonst drohen Neuwahlen.
Umfangreiche Hilfslieferungen während der Waffenruhe haben die humanitäre Lage im abgeriegelten Gazastreifen nur kurzzeitig verbessert. Bei manchen Bewohnern herrscht Verzweiflung: „Ich weiß nicht mehr, wie ein Leben ohne den Lärm des Krieges, ohne die ständige Angst und die Wut aussieht“, sagte eine Bewohnerin von Nuseirat am Telefon. „Ich würde gehen, wenn ich könnte.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Baerbock zur UN-Generalversammlung
Undiplomatische Kritik an Nominierung für UN-Spitzenjob
Repression an der Columbia University
Es wird ein Exempel statuiert
Vertrauen in die Politik
Kontrolle ist besser
Schauspielerin Rachel Zegler
Rassismus gegen Schneewittchen
Erfolg der Grundgesetzänderung
Ein wahres Husarenstück
Neue Bomben auf Gaza
Israel tötet Hamas-Minister und Zivilisten