Nach der Wahl in Thüringen: Ramelow ist die Mitte
Die geschlagene Thüringer CDU drückt die Linkspartei rhetorisch an den Rand – das ist bizarr. Der Regierungschef ist ein Versöhner mit Machtoptionen.
D er thüringische CDU-Chef Mike Mohring hat am Sonntag im Fernsehen – es war ein paar Minuten nach halb sieben – einen Satz gesagt, der zu denken gibt. „Dass die demokratische Mitte keine Mehrheit bekommen hat, ist das bitterste Ergebnis dieses Wahlabends.“ Bestimmt beschreibt das gesteigerte Adjektiv „bitterste“ Mohrings Erlebniswelt an diesem Abend. Denn mit nicht einmal 22 Prozent hat der Spitzenkandidat die Thüringer CDU auf das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte heruntergefahren. Und es ist tatsächlich auch so, dass die winzige Regierungsoption aus CDU, SPD, Grünen und FDP, an die sich Mohring im Wahlkampf klammern konnte, keine Mehrheit bekommen hat.
In dem Satz steckt jedoch etwas anderes: Er drückt aus, dass der Wahlsieger Bodo Ramelow mit seinen 31 Prozent nicht zur Mitte gehöre. Oder jedenfalls nicht zur demokratischen, was die Nebenfrage aufwirft, worum es sich bei der undemokratischen Mitte im Parteienspektrum eigentlich genau handeln würde. Undemokratisch, aber Mitte – hä?
Allein, dass Mohring Ramelow an den Rand gedrängt sehen möchte, ist bemerkenswert. Dass CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak oder FDP-Chef Christian Lindner an Wahlabenden ein bisschen ausgrenzen, geht ja in Ordnung. Sie müssen die Linkspartei so rot wie möglich malen, damit ihr eigenes Grau wie ein kräftiger Farbton wirkt. Aber Mohring ist nicht im Adenauer-Haus in Berlin auf die Welt gekommen, sondern in Apolda. Er kennt Thüringen, wo längst andere Verhältnisse gelebt werden als die westdeutsche Gesäßgeografie von anno dazumal. Die Linkspartei mag in Westdeutschland noch regelmäßig merkwürdiges Zeug fabrizieren. Aber überall in Ostdeutschland ist sie längst sozialdemokratisch mit ein paar sozialistischen Einsprengseln. In Thüringen hat Ramelow sie zur sozialen Alltagspartei entwickelt.
Mohring bizarr: Am Sonntag hat er genau das Gegenteil dessen verkündet, was soeben klar geworden war wie nie. Thüringens Mitte heißt Ramelow. Gewerkschafter, evangelisch, Landesvater – der Ministerpräsident hat Stimmen von CDU, SPD und Grünen angezogen wie ein riesiger Staubsauger. Vermutlich hat Ramelows Hund Atilla sogar die Tierschutzpartei angeknabbert.
Dass eine Partei allen anderen Stimmen abspenstig macht, heißt nicht unbedingt, dass sie in die Mitte der Gesellschaft hineinreicht oder dort steht. Von Linkspartei, CDU, SPD und Grünen sind am Sonntag Tausende Menschen zur AfD an den rechten Rand gewandert. Dass Ramelow sich in die Mitte entwickelt hat, drückt sich vielmehr in harter Regierungspolitik aus. Die AfD möchte ausgrenzen, Ramelow integriert.
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Er hat sich um einen Ausgleich mit Opfern des DDR-Regimes bemüht. Seine Regierung hat Geringstverdienern geholfen, indem der Freistaat nur Aufträge vergibt, wenn mindestens 11,42 Euro pro Stunde gezahlt werden. Seine Linkspartei hätte den Verfassungsschutz gern abgeschafft, aber Ramelow suchte der Behörde in Stephan Kramer lieber einen Chef, der sie umbaut. Als die Landesregierung die Kreise und Gemeinden neu zuschneiden wollte, traf sie vor Ort auf Widerstand. Ramelow machte einen klugen Rückzieher, die Gemeinden durften selbst entscheiden, was sie machen.
Ausgerechnet der Mann, der so kauzig ausrasten kann wie ein Waldgeist, versöhnt. Ramelow hat verstanden, dass er nur gewinnt, wenn er das macht, was jetzt nötiger ist denn je: den Laden zusammenhalten. Kein Wunder, dass Mohrings Wahlkampf nicht zündete, eine Wechselstimmungskampagne ohne Wechselstimmung.
Ramelow hat die meisten Stimmen gewonnen, aber keine naheliegende Regierungsmehrheit. Für Rot-Rot-Grün reicht es nicht, weil SPD und Grüne mit 8 und 5 Prozent vergleichsweise winzig sind. Eine abermalige Mehrheit für das bisherige Bündnis war Ramelows Traum, jedoch nichts, auf das er zählen konnte. Für alles, was darunter liegt, hat er die bestmögliche Ausgangsposition erreicht. Die Linkspartei ist mit ihren 31 Prozent sehr deutlich die Nummer eins im Landtag. Mohring ist geschwächt, er kann kein Gegenbündnis bilden: Für die schwarz-rot-grün-gelbe Koalition reicht es nicht, und von der Höcke-Partei hat er sich maximal abgegrenzt. Die Lage ist kompliziert in Thüringen, aber dennoch ergeben sich für den Ministerpräsidenten drei Möglichkeiten:
Erstens: Ramelow bleibt geschäftsführend im Amt. Die Landesverfassung erfordert es in Thüringen nicht, in einer bestimmten Frist einen neuen Ministerpräsidenten zu wählen. In Sachsen zum Beispiel löst sich der Landtag in so einem Fall auf, es kommt zu Neuwahlen. In Thüringen nicht. Das Erfurter Parlament bräuchte eine Zweidrittelmehrheit, um Neuwahlen zu beschließen. Geschäftsführend könnte Ramelow keine neuen Minister berufen; geht ein Ressortchef, müsste ein anderer mitübernehmen. Für Gesetze müsste Ramelow im Landtag um Mehrheiten werben. Aber so viele Gesetze werden in den Ländern nun auch wieder nicht gemacht. Den Haushalt müsste eine geschäftsführende Regierung mit CDU oder FDP aushandeln – nächstes Jahr, denn das Budget für 2020 hat die rot-rot-grüne Regierung vorsorglich bereits verabschiedet.
Zweitens: Ramelow lässt sich mit einfacher Mehrheit wählen. Die Verfassung sieht vor, dass Regierungschef ist, wen die Mehrheit der Mitglieder des Landtags wählt. Klappt das in zwei Wahlgängen nicht, reichen auch die meisten Stimmen. CDU und FDP könnten sich enthalten. Sie haben zwar eine Regierungskoalition mit Ramelow ausgeschlossen, aber alles was darunter kommt, wäre leichter machbar. Ramelow könnte ihnen entgegenkommen, damit sie seine Regierung stützen. Wie wäre es beispielsweise mit einem parteilosen Digitalminister, der nah an der FDP dran ist?
Drittens: Ramelow erreicht, dass doch jemand etwas anderes tut, als er vor der Wahl gesagt hat. Etwa dass die CDU sich zur ersten dunkelrot-schwarzen Koalition entschließt. In der Partei käme ein ganz schönes Getöse auf nach Jahrzehnten der Rote-Socken-Kampagne. Die AfD würde diesen Schritt in ihrer PR maximal für sich nutzen. Hitzige Debatten fänden statt, in der Hauptstadt, auf Twitter, auf Facebook. Aber in Erfurt, in Saalfeld, in Sömmerda? Eher nicht. Ramelow ist weithin beliebt. Zum politischen Alltag in Städten und Dörfern gehört es schon ewig, dass die Linke mitmacht.
Gut möglich, dass von diesen drei Varianten zunächst die erste greift, dann die zweite und vielleicht nach ein oder zwei Jahren die dritte. Mike Mohring dürfte das wissen. Dass er etwas Borniertes gesagt hat, heißt nicht, dass er borniert ist. Vielleicht ist sein widersprüchliches Wortgebilde von der „demokratischen Mitte“, der die Linkspartei nicht angehöre, einfach Ausdruck eines Zwiespalts, ein Mohring'scher Versprecher. Nach einmal drüber schlafen sagte Mohring im ARD-Morgenmagazin, er sei bereit für Verantwortung.
Die Frontstellung zwischen CDU und Linkspartei wird im Wahlkampf abgerufen. Aber im Alltag löst sie sich auf im Staate Thüringen mit Bodo Ramelow in der Mitte.
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