Nach der Niederlage der Labour-Partei: Vorwärts ist keine Richtung
Nach der krachenden Wahlniederlage von Großbritanniens Labour-Partei lautet die Devise der Führung um Jeremy Corbyn: Weiter so.
Labour-Vertreter Richard Burgon antwortete, er sei über diese Frage „enttäuscht“. Price ließ nicht locker: „Wenn es in Schottland geht, warum nicht in Wales, wo Ihre Partei regiert?“ Burgon grinste gequält und schwieg. Das Publikum brach in schallendes Gelächter aus.
Wenn einmal die Geschichte des Labour-Wahldebakels am 12. Dezember 2019 geschrieben wird, dürfte diese Episode höchstens eine Randnotiz wert sein. Aber aus vielen Randnotizen ergibt sich ein ganzer Katalog von Fehltritten, die Labour von 40 auf 32 Prozent der Stimmen abrutschen ließen und von 262 auf 203 der 650 Sitze im Unterhaus, das schlechteste Ergebnis seit 1935.
Viel ist seitdem über Gründe gesprochen worden: die fehlende Haltung zum Brexit, die Unbeliebtheit des Parteiführers Jeremy Corbyn. Wenig thematisiert wird hingegen, dass Labour in Großbritannien Teil des Establishments ist und nicht nur an seinen Versprechen, sondern auch an seiner Bilanz gemessen wird. Und die ist schlecht.
Die Labour-Bastionen fallen
Die Linke regiert Wales seit Einführung der regionalen Autonomie 1999. Labour stellt in zwei der drei größten städtischen Ballungsräume Englands, London und Manchester, den Bürgermeister. In weiten Teilen Nord- und Mittelenglands regiert Labour Kommunen und Distrikte. Aber im Wahlkampf kam diese Ebene nicht vor.
Nun fällt eine Bastion nach der nächsten. Bereits 2015 verlor Labour die traditionelle Hochburg Schottland. Diesmal verlor Labour reihenweise alte Wahlkreise in den Industrierevieren von Nord- und Mittelengland. Die Menschen wenden sich am stärksten dort von Labour ab, wo die Partei historisch am meisten zu sagen hat. Nur London hält noch – aber wie lange?
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Im Südlondoner Innenstadtwahlkreis Vauxhall ging es im Wahlkampf um Gentrifzierung, Verdrängung und bezahlbaren Wohnraum. Labour hatte mit der nigerianischstämmigen Florence Eshalomi eine kämpferische junge Corbyn-Anhängerin ins Rennen geschickt, die auf einer Veranstaltung wortgewandt die Enteignung von Immobilienspekulanten forderte und verlangte, dass Milliardäre und Großkonzerne endlich ihre Steuern zahlen. Aber sie reagierte mit defensiven Plattitüden, als sie aus dem Publikum gefragt wurde, warum der lokale Labour-Bezirksrat mit ihrer Zustimmung billigen Wohnraum vernichte und wieso die Labour-Stadtregierung einen Luxusimmobilienentwickler fördere, um NHS-Grundstücke in Vauxhall zu erwerben. Eshalomi konnte den Wahlkreis zwar halten, doch die stärksten Zugewinne in Vauxhall verzeichneten die Grünen, die in Großbritannien für Widerstand von unten gegen Technokraten stehen.
Labour bleibt trotz aller Erneuerungsversuche der vergangenen Jahrzehnte eine Partei der Staatsgläubigkeit und des Alleinvertretungsanspruchs. Früher gaben die Gewerkschaften den Ton an, meist aus dem öffentlichen Dienst, heute sind es die linken Aktivisten, ebenfalls häufig aus dem öffentlichen Dienst. Beide reagieren auf Kritik mit reflexhafter Schmähung: innerparteiliche Gegner werden niedergemacht, andere linke Kräfte wie Luft behandelt. Populistische Breitseiten gegen „die Milliardäre“ ersetzten im Wahlkampf die Auseinandersetzung über eine überzeugende Alternative zu den Tories.
Schuld sind die anderen
Das hat sich seit der Niederlage kaum verändert. Diesen Freitagmorgen twitterte Jeremy Corbyn: „Was war es an unseren Plänen, die Superreichen zum Zahlen ihres fairen Anteils zu zwingen, das die milliardenschweren Pressebarone nicht mochten?“
Aus Corbyns Sicht hat Labour alles richtig gemacht – schuld sind die anderen. Umfragen seit der Wahl zeigen, dass Labours Wahlprogramm – Verstaatlichung großer Dienstleister, staatlich verwaltete Arbeitnehmeranteile in Großunternehmen, massive Ausweitung der Sozialausgaben – durchaus auf Sympathien stieß. Doch die Wähler trauten Labour nicht zu, abzuliefern, ganz abgesehen vom Unbehagen über Corbyn. Mit diesem Misstrauen konnte die Partei nicht umgehen, nachjustieren konnte sie nur in eine Richtung: noch mehr Wahlversprechen.
„Jeder Tag begann mit dem Versuch, das Chaos zu beseitigen, das die Konfrontation mit den Sorgen der Wähler über Nacht hinterlassen hatte“, schimpfte der ehemalige Abgeordnete James Frith, nachdem er seinen einst sicheren Wahlkreis Bury North im Großraum Manchester ganz knapp an die Konservativen verlor. „Es sollte nicht überraschen, dass städtische Wähler, die kaum über die Runden kommen, von Versprechen üppiger Wohltaten und Gratis-Zeug wenig beeindruckt sind. Wenn man zu wenig hat, weiß man genau, was die Dinge kosten, die man sich nicht leisten kann. Und man wird misstrauisch bei dem Wort ‚gratis‘.“
Tony Blair, der einzige Labour-Politiker seit 1974, der je britische Wahlen gewonnen hat, verglich die Partei mit einem Fußballteam, „wo der Stürmer nicht weiß, in welche Richtung er spielen soll, das Mittelfeld im Koma liegt, die Verteidiger zur Tribüne gegangen sind und mit Fans plaudern, und der Torwart hinterm Netz steht und ein Video von seinem einzigen gehaltenen Ball bei einer 9:0-Niederlage twittert.“
Was fehlt sind konstruktive Ideen
Labour, so Blair diese Woche in einer Rede, brauche eine neue politische Agenda: „Selbstdisziplin statt Selbstbefriedigung; hören, was die Menschen sagen und nicht nur, was wir hören wollen“ und „ein Regierungsprogramm, keinen Wutausbruch“. Progressive Politik im 21. Jahrhundert bedeute „eine komplette Neuordnung von Staat und Regierung; ein Fokus auf Bildung und Infrastruktur; neue Umgangsformen mit vererbter Armut; eine Neukonzeption von Unternehmensverantwortung; ein nationaler und internationaler Anschub von Wissenschaft und Technologie für den ökologischen Wandel und spezifische Maßnahmen, um Menschen und Gemeinschaften wieder einzubinden, die der Wandel der Globalisierung zurückgelassen hat.“
Doch Blairs Kritik ist nicht viel mehr als der Weckruf eines Besserwissers, der selbst zehn Jahre Zeit hatte und damals lieber gemeinsam mit George W. Bush Krieg führte. Blair ist bei Labour eine Unperson geworden. Corbyns Labour definiert sich als Gegenpol zu Blairs New Labour.
Gleichzeitig sind viele der heutigen Corbyn-Fans unter Blair aufgewachsen und profitierten von New Labours Förderung benachteiligter Familien und der Erleichterung des Zugangs zu höherer Bildung. Labours Dilemma besteht auch darin, dass das eigene Erbe im Guten wie im Schlechten nicht verinnerlicht und nicht darauf aufgebaut wurde. Stattdessen soll immer neu reiner Tisch gemacht werden – mit den alten Strukturen. Das hielt Blair früher genauso wie Corbyn heute.
In der Partei fehlen konstruktive Ideen. Eine Studie des Thinktanks „Fabian Society“ zu Lehren aus der Wahlniederlage bleibt bei taktischen Überlegungen. „Die Priorität muss sein, Unterstützung in Kleinstädten in Wales, Nord- und Mittelengland zu gewinnen“, heißt es. Inhaltliche Aussagen fehlen komplett. Auch die bekannteste Anwärterin auf Corbyns Nachfolge, Schattenaußenministerin Emily Thornberry, schrieb, die richtige Antwort auf die Wahlniederlage sei „sicherlich nicht eine große ideologische Debatte“. Stattdessen müsse man „Johnson herausfordern“ und „unsere Maschine wiederaufbauen“. Rezepte von gestern für das Großbritannien von morgen.
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