Nach Parteiaustritt des Tübinger OB: Boris Palmer ist dann erst mal weg

Nach dem jüngsten Eklat tritt Tübingens Oberbürgermeister aus den Grünen aus. Späte Einsicht eines Provokateurs mit Potenzial.

Portrait von Boris Palmer

Nicht die erste Entgleisung: Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen, ist nun in Auszeit Foto: Marijan Murat/dpa

Für Boris Palmers Verhältnisse kam das Einsehen diesmal geradezu blitzartig. Am Freitagabend hatte er in Frankfurt vor einer Gruppe Demonstranten, die ihn mit „Nazi, Nazi“-Rufen niederbrüllen wollten, die Benutzung des N-Worts verteidigt. Wer ihn deshalb zum Rassisten stemple, handle nicht anders als die Nazis. „Das ist der neue Judenstern“, sagte Palmer daraufhin.

Schon in der Veranstaltung an der Goethe-Universität Frankfurt zum Thema Migration bekam er dafür harsche Kritik zu hören. Und die weiteren Reaktionen aus der Partei und seinem Umfeld dürften dem Tübinger Oberbürgermeister gezeigt haben, dass er mit dem Auftritt, der auf Twitter dokumentiert wurde, endgültig zu weit gegangen ist.

Selbst einer seiner wichtigsten Unterstützer, der ehemalige grüne Spitzenpolitiker Rezzo Schlauch, hatte Palmer noch am Wochenende in einer öffentlichen Erklärung die „persönliche und politische Loyalität“ aufgekündigt und sein Mandat als Anwalt für ihn niedergelegt.

Am Montagabend dann schrieb Boris Palmer auf Facebook ungewöhnlich zerknirscht, er sehe ein, er habe als Oberbürgermeister nie so reden dürfen: „Eines ist mir klar: So geht es nicht weiter. Die wiederkehrenden Stürme der Empörung kann ich meiner Familie, meinen Freunden und Unterstützern, den Mitarbeitern in der Stadtverwaltung, dem Gemeinderat und der Stadtgesellschaft insgesamt nicht mehr zumuten.“

22 Jahre Irrungen

Palmer gibt bekannt, eine einmonatige Auszeit zu nehmen, und meldete sich am Montag in seinem Rathaus krank. Im Juni werde er seine Amtsgeschäfte vorübergehend niederlegen, erklärte die Stadt am Dienstag. Gleichzeitig erklärte Palmer in zwei Schrei­ben an die Bundes- und Landespartei seinen Austritt aus den Grünen, die er trotz aller Differenzen stets als seine politische Heimat bezeichnet hatte.

Damit geht das Kapitel Boris Palmer und die Grünen nach vielen Irrungen und 22 Jahren wohl endgültig zu Ende. Lange provozierte er seine Partei bis an die Schmerzgrenze und darüber hinaus. Mitten im Flüchtlingssommer 2015 entgegnete er im Gegensatz zu seiner Partei der Kanzlerin „Wir schaffen es nicht“ und wollte damit auf die drohende Überlastung der Kommunen bei der Flüchtlingsbetreuung hinweisen.

Er wehrte sich gegen Sprechverbote im Grünen-Milieu, die Umbenennung der Tübinger Universität und verteidigte Tierversuche in einem Uni-Institut. Dann wollte er Flüchtlingen fundamentale Menschenrechte absprechen, wenn es den Ermittlungen in einem Mordfall diene. Kurz vor dem Auftakt zu Bundes- und Landtagswahlen seiner Partei 2021 platzte er schließlich mit einem satirisch gemeinten, aber rassistisch intonierten Face­book-Tweet in den Landesparteitag der Partei.

Folge ist 2022 das Verfahren zum Parteiausschluss, den Rezzo Schlauch als sein Anwalt noch einmal abbiegen kann. Dabei hilft, dass Palmer inzwischen zum dritten Mal die Oberbürgermeisterwahl in absoluter Mehrheit gewonnen hat. Diesmal gegen eine grüne Kandidatin. Das grüne Enfant terrible ist da wohl auf dem Zenit seines persönlichen Erfolgs. Bundesgrüne, die Palmer sonst auch eher kritisch gegenüberstehen, staunen, dass er zusammen mit seiner Gegenkandidatin Ulrike Baumgärtner 70 Prozent der Tübinger dazu gebracht hat, für acht weitere Jahre grüne Politik zu wählen.

Vertane Chance

Spätestens dieser Erfolg zeigt, was Boris Palmer für seine Partei auch hätte sein können: eine kommunal- und klimapolitische Galionsfigur, von denen seine Partei nicht so viele hat. Palmer schafft in seiner Stadt eine hohe Akzeptanz für eine sozialökologische Politik. Er vereint Wirtschaftswachstum und CO2-Reduktion, er machte in der Wohnraumfrage Ernst, und drohte Besitzern leerstehender Wohnungen mit Enteignung.

Und als Fridays for Future auf die Straße ging, nutzte er diesen Rückenwind, um dem Stadtrat ein einstimmiges Bekenntnis zum klimaneutralen Tübingen bis 2030 abzuringen. Das ist der Grund, warum die Tübinger Grünen selbst jetzt noch bereit sind, mit ihm an dieser „realistischen Chance zu arbeiten“, wie sie in einer Stellungnahme schrei­ben.

Großen Teilen der Öffentlichkeit wird Palmer aber nicht als erfolgreicher Klimapolitiker und Oberbürgermeister in Erinnerung bleiben, sondern als kalter Provokateur und Rechthaber. Zuletzt hatte er nach dem Mord an dem Geflüchteten Basiru Jallow noch während der Ermittlungen den Toten des Drogenhandels beschuldigt. Erst nach Gesprächen unter anderem auch mit Seelsorgern hatte er sich dafür entschuldigt.

Es war nicht die erste ressentimentgeladene Wortmeldung mit ungünstigem Timing. Die SPD-Fraktion im Stadtrat weigerte sich daraufhin, weiter mit Palmer zusammenzuarbeiten.

Sohn des Remstal-Rebell

Am Ende ist es ausgerechnet ein Nazivergleich, der offenbar auch Palmer selbst klargemacht hat, wie wenig er sich unter Kontrolle hat. Das Rassismus-Label als den „neuen Judenstern“ zu bezeichnen hätte in fast jeder Partei für ein Parteiausschlussverfahren gereicht, das der Grüne Volker Beck dann am Wochenende auch erneut beantragt hatte.

Dabei müsste er es, anders als irgendwelche Querdenker-Wichtigtuer, aus eigener Anschauung besser wissen. Palmer schreibt selbst in seiner Erklärung vom Wochenende: „Aus einer großen übermächtigen Gruppe als Nazi bezeichnet zu werden, hat tief in mir sitzende Erinnerungen wachgerufen. An die Gruppe Jugendlicher, dir mir als Junge Schläge androhten und riefen, man habe nur vergessen, meinen Vater zu vergasen.“

Vater Helmut Palmer war das uneheliche Kind eines jüdischen Vaters, der vor den Nazis geflohen ist. Eigentlich Obstbauer, wurde er nach dem Krieg als „Remstal-Rebell“ zum bundesweit bekannten politischen Original, der mit teils maßloser Polemik vermeintliche und tatsächliche Naziseilschaften in der Politik kritisierte. Für seine Beleidigungen war er mehrfach in Haft. Sein Sohn Boris hat öfter bekannt, wie sehr er darunter gelitten hat.

Es scheint, als hätte Boris Palmer jetzt erkannt, dass er diesem Weg des Vaters nicht weiter folgen darf. Er wolle sich professionelle Hilfe holen, schreibt er nach dem jüngsten Vorfall. Das zu tun und öffentlich zu bekennen nötigt Beobachtern Respekt ab, auch den vieler seiner zahlreichen Gegner und wenigen verbliebenen Unterstützer. Respekt, den der Politiker Boris Palmer anderen gegenüber zu oft hat vermissen lassen.

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