Nach Erdogans Niederlage in Istanbul: Kritik an Wahlwiederholung
Die oberste türkische Wahlkommission hat das Votum bei der Kommunalwahl in Istanbul annuliert. Präsident Erdogans AKP hatte die Wahl verloren.
Erdogan hatte wiederholt die Rechtmäßigkeit des Wahlergebnisses in der größten türkischen Kommune angezweifelt. Die Lira gab unmittelbar nach Bekanntwerden der Entscheidung des Gremiums nach. In Istanbul sahen Augenzeugen der Nachrichtenagentur Reuters in verschiedenen Distrikten Menschen, die auf Töpfe und Pfannen schlugen, um so gegen die Entscheidung der Wahlkommission zu protestieren.
Der stellvertretende CHP-Chef Onursal Adigüzel erklärte: „Dieses Regime, das den Willen des Volkes übergeht und die Gesetze missachtet, ist weder demokratisch noch legitim. Es ist eine reine Diktatur.“ Kritik kam auch aus Europa. Die Türkei-Beauftragte des Europa-Parlaments, Kati Piri, sagte, damit werde der Glaube an eine demokratische Übertragung der Macht durch Wahlen beendet.
Die Republikanische Volkspartei CHP war bei der Kommunalwahl in Istanbul am 31. März mit nur 13.000 Stimmen oder 0,2 Prozentpunkten Vorsprung vor der islamisch-konservativen AKP zum Sieger ernannt worden. Daraufhin war der CHP-Politiker Imamoglu zum neuen Bürgermeister ernannt worden.
Gülen gilt als Strippenzieher
Beobachter werteten dies als persönlichen Rückschlag für Erdogan, der sich stark im Wahlkampf engagiert hatte und in den 1990er Jahren Bürgermeister von Istanbul war. Es war das erste Mal seit 25 Jahren, dass die AKP die Wahlen in Istanbul verlor. Der bei der Wahl im März unterlege AKP-Kandidat Binali Yildrim kündigte ebenso wie Imamoglu von der CHP an, sich wieder zur Wahl zu stellen.
Der Vertreter der AKP in der Wahlkommission, Recep Özel, sagte das Ergebnis sei annulliert worden, weil Ergebnislisten ohne Unterschriften berücksichtigt worden waren und weil in manchen Wahllokalen Menschen gearbeitet hätten, die keine Staatsbedienstete seien. In Ankara versperrte die Polizei vorsorglich den Zugang zu dem Gebäude der obersten Wahlkommission.
Nach der Wahl haben nach einem Bericht der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu Staatsanwälte Ermittlungen wegen des Vorwurfs von Unregelmäßigkeiten bei der Wahl eingeleitet. Die staatliche Agentur berichtete, dabei habe sich herausgestellt, dass 43 Behördenmitarbeiter in Verbindung mit dem Netzwerk des im US-Exil lebenden Predigers Fetullah Gülen stünden. Erdogan sieht in Gülen den Strippenzieher hinter dem gescheiterten Militärputsch von 2016. Gülen weist diesen Vorwurf zurück.
Die Entscheidung der Wahlkommission droht die ohnehin angespannte wirtschaftliche Lage zu verschärfen. „Dies beschädigt den Ruf der Türkei als Demokratie und er wird die türkische Wirtschaft verletzbar machen“, sagte der Analyst Timothy Ash von Blue Bay Asset Management unter Verweis auf Risiken für die finanzielle Stabilität der Türkei.
Kritik aus Deutschland
Abgeordnete der deutschen Koalitionsfraktionen haben die Annullierung der Kommunalwahl in der türkischen Millionenstadt Istanbul kritisiert. Der menschenrechtspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Michael Brand (CDU), sagte dem Spiegel: „Wer so lange wählen lassen will, bis ihm das Ergebnis passt, der ist ein lupenreiner Anti-Demokrat.“ Das sei „eine weitere Etappe in einem gezielten Abdriften in eine Diktatur“. „Berlin und Brüssel dürfen nicht achselzuckend an der Seitenlinie stehen bleiben. Europa darf gerade jetzt die pro-europäischen Kräfte in der Türkei nicht im Stich lassen.“
Der außenpolitische Sprecher der SPD, Nils Schmid, sagte dem Spiegel: „Früher hat die AKP die Annullierung von knappen Wahlen mit dem Argument abgelehnt, die Opposition sei ein schlechter Verlierer. Jetzt will sie so lange wählen lassen, bis das Ergebnis passt.“ Schmid meint: „Die Bürger Istanbuls werden das nicht durchgehen lassen.“
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