Ein Mobile , eine Frau auf einer Schale, eine DNA Struktur, ein Gitter, und auf der andreen Seite ein Baby mit Schnuller in der Waagschale

Illustration: Hanna Harms

Mutter in U-Haft:Ohne ihr Baby

In einem Hamburger Gefängnis wird einer Mutter das Recht verwehrt, ihr Neugeborenes bei sich zu haben. Nur weil es der JVA zu aufwendig ist?

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Aus hamburg, 5.7.2023, 09:44  Uhr

Ihren einjährigen Sohn Juan sieht Gabriela Martinez (Namen geändert) nur ein Mal pro Woche. Jeden Donnerstag wird der Säugling für ein paar Stunden zu seiner Mutter in die Justizvollzugsanstalt Hamburg-Billwerder gebracht. Seinen ersten Geburtstag musste das Baby im Heim verbringen.

Martinez ist des Mordes angeklagt. Die Staatsanwaltschaft glaubt, dass sie den 69-jährigen Ignacio Lopez (Name geändert) mit bloßen Händen in seiner Wohnung ermordet hat, während sie im neunten Monat schwanger war. Das Motiv soll Habgier gewesen sein. Zwar hatte Lopez nicht viel Geld, aber in seiner Wohnung hätten die Schränke offen gestanden, alles sei durchwühlt gewesen, als sein Neffe ihn tot aufgefunden habe, sagte der Neffe vor Gericht aus.

Gabriela Martinez wird gefesselt in den Gerichtssaal geführt, erst drinnen schließt ein Security-Mitarbeiter ihr die Handschellen auf. Ihre Anwältinnen Fenna Busmann und Katrin Hawickhorst stellen sich mit ihren weiten schwarzen Roben vor Martinez, als die Pressefotografen den Saal betreten. Klick, klick, klick, dann sind die Fotografen wieder draußen. „Dieses Verfahren hätte niemals eröffnet werden dürfen“, sagt Anwältin Fenna Busmann an das Gericht gewandt. „Aber es kann, es muss schnell wieder beendet werden.“

Über Kopfhörer bekommt Martinez das Gesprochene von einer Dolmetscherin übersetzt, die 38-jährige Kolumbianerin spricht kein Deutsch. In schwarz-blau-roter Trainingsjacke sitzt sie auf ihrer Bank, die Haare zu Cornrows geflochten. Ihre Haut ist dunkel, ihr Gesichtsausdruck ernst. Busmann sagt an den Richter gewandt: „Erlösen Sie diese Frau aus der albtraumhaften Situation, in die sie und ihr Sohn aufgrund eines falsch interpretierten DNA-Gutachtens geraten sind.“

Sachbearbeiterin vom Jugendamt

„Manchmal wirkt der Junge wie weggetreten. Insgesamt wirkt er traumatisiert“

Die Polizei hat am Tatort DNA-Spuren von Gabriela Martinez gefunden. Sie konnten ihr zugeordnet werden, weil Martinez eine freiwillige Speichelprobe abgegeben hatte. Die Er­mitt­le­r*in­nen waren die Handykontakte des Ermordeten durchgegangen und hatten die Personen als Zeu­g*in­nen vernommen und um Speichelproben gebeten. Nicht alle willigten ein, aber Martinez stimmte zu.

Ein halbes Leben

Im Dezember, sieben Monate nach der Tat, wurde sie festgenommen und in Untersuchungshaft gebracht. Juan war zu diesem Zeitpunkt sechs Monate alt, er kam zu einer Pflegemutter. Das Amtsgericht entzog Martinez das Sorgerecht und das Aufenthaltsbestimmungsrecht, eine Mitarbeiterin des Jugendamts ist seitdem seine Vormündin. Mittlerweile wurde Juan zwei Mal weitergereicht – von der Pflegemutter in ein Heim und einige Wochen später in ein anderes Heim. Fast die Hälfte seines bisherigen Lebens musste der Säugling schon ohne feste Bezugsperson auskommen.

„Das Kind ist sehr unruhig, schlägt beim Schlafen gegen die Gitterstäbe des Bettes“, gab die Sachbearbeiterin vom Jugendamt Ende Februar dem Familiengericht zu Protokoll. „Manchmal wirkt der Junge wie weggetreten, gar nicht richtig wach. Insgesamt wirkt er traumatisiert.“

Als Martinez im Dezember in Untersuchungshaft gekommen war, hatte sie umgehend die Zusammenführung mit ihrem Baby beantragt. Die Leiterin der JVA sprach sich dagegen aus, ebenso die Vormündin vom Jugendamt. Die Haftrichterin entschied daraufhin, dass Mutter und Kind getrennt bleiben sollten. „Frau Martinez befindet sich wegen des dringenden Tatverdachts des Mordes in Untersuchungshaft“, schreibt die Richterin in ihrem Beschluss, den die taz einsehen konnte. „Es könnte sein, dass die Angeklagte zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wird.“ Die Mutter-Kind-Plätze hingegen seien nur für vorübergehende Aufenthalte geeignet. „Von einer sicheren nur kurz- oder mittelfristigen Unterbringung des Kindes in der JVA kann zum jetzigen Zeitpunkt keine Rede sein“, so die Richterin in dem Beschluss.

Wie lange ein Kind bei seiner inhaftierten Mutter leben darf, ist je nach Bundesland unterschiedlich. Auch das Höchstalter für das Kind, um gemeinsam mit der Mutter in Haft unterzukommen, variiert. Außerdem gibt es nicht in jedem Bundesland Plätze für Mütter mit Kindern, deutschlandweit sind es nur knapp 100 Zellen in elf Gefängnissen. Nach Schätzungen des „Netzwerk Kinder von Inhaftierten“ sind bundesweit rund 100.000 Kinder von der Inhaftierung eines Elternteils betroffen. Offizielle Zahlen gibt es dazu nicht.

„Keine Jugendhilfe“

In der Hamburger Justizvollzugsanstalt, in der Gabriela Martinez inhaftiert ist, gibt es vier Plätze für Mütter mit Kindern, derzeit ist keiner davon belegt. An die vier Haftzellen schließt jeweils ein Kinderzimmer an, in dem ein Kinderbett und Wickeltisch, ein Tisch, Stuhl und ein separates Badezimmer mit Babybadewanne bereitstehen. Hygieneartikel und alle anderen benötigten Dinge können von der Mutter für den Zeitraum der Unterbringung ausgeliehen werden, so schreibt es die Richterin, die über Martinez’ Antrag, ihr Baby zu sich zu holen, entscheidet. „Die Mutter-Kind-Station ist keine Einrichtung der Jugendhilfe“, stellt die Richterin klar. Es gebe kein pädagogisches Fachpersonal, keine Kinderärzte, die den Säugling betreuen und bei der Erziehung helfen könnten. Und wer solle babysitten, wenn Martinez vor Gericht müsse? Wer solle das Baby zu Impfungen und zum Arzt bringen? Und wie solle der Junge abends einschlafen, wenn die Mutter ihn nicht umherschieben oder -tragen könne, weil die Zellen ab 18 Uhr geschlossen sind?

Eine Maikäfer-Schaukel, dahinter der Stacheldraht auf der Gefängnismauer

Federwipp-Marienkäfer im Vorgarten der Mutter-Kind-Abteilung im Gefängnis Frankfurt-Preungesheim Foto: epd/imago

„Natürlich lässt sich das organisieren“, sagt Martinez’ Anwältin Busmann. „Man muss es nur wollen.“ Seit Monaten bombardiert sie das Gericht mit Anträgen, immer wieder fordert sie, das Baby zur Mutter zu holen, und solange das nicht passiert, wenigstens die Besuchszeiten zu erhöhen. Busmann hat dem Gericht Kontakte und Telefonnummern gegeben: Ein Neffe der Angeklagten könnte das Baby kurzfristig betreuen oder zum Arzt bringen. Die Richterin hielt dagegen, Martinez spreche nur Spanisch – im Falle eines Notfalls könnte sie den JVA-Mitarbeiter*innen nicht mitteilen, was dem Kind fehle. Busmann verwies auf digitale Übersetzungsprogramme sowie die Handynummer der Familienrechtsanwältin Ilka Quirling, die Martinez vor dem Familiengericht vertritt und dolmetschen kann. So geht es seit Monaten hin und her. „Für die Angeklagte ist die Situation kaum auszuhalten“, schreibt Busmann dem Gericht.

Ist es der JVA zu umständlich, den Säugling einer Frau aufzunehmen, die kein Deutsch spricht? Säuglinge haben oft Bauchschmerzen oder Fieber, müssen zu Vorsorgeuntersuchungen, können sich nicht mitteilen. Kann es sein, dass man in Hamburg-Billwerder nicht genug Motivation oder nicht genug Personal hat, auf die besondere Lage von Mutter und Kind einzugehen?

Wenn das so wäre, wäre es laut Busmann rechtswidrig. „Vollzugsorganisatorische Belange“ dürften nicht dazu führen, dass eine Entfremdung von Mutter und Kind in Kauf genommen werde, argumentiert sie. Im Klartext heißt das: Es kann nicht sein, dass der Säugling nicht bei seiner Mutter sein darf, weil es für die JVA zu nervig zu organisieren ist.

Auch den letzten Antrag von Busmann auf Zusammenführung von Mutter und Kind lehnte das Gericht ab. Das Jugendamt hat sich dagegen ausgesprochen, ebenso die JVA: Der Umgang mit den anderen Inhaftierten sei eventuell nicht gut für das Kind. Es könne Neid und Missgunst unter den Frauen auslösen, wenn Martinez ihren Sohn bei sich habe, andere jedoch nicht.

Zwei Anwältinnen stehen im Gerichtssaal

Rechtsanwältinnen Fenna Busmann (l) und Katrin Hawickhorst verdecken die Angeklagte im Mordprozess Foto: Ulrich Perrey/picture aliiance

Ein Menschenrecht

Die Hamburger Justizsenatorin Anna Gallina war früher, in ihrer Zeit als Abgeordnete und familienpolitische Sprecherin der Hamburger Grünen, für ihr Engagement für die „Frühen Hilfen“ bekannt. Als Frühe Hilfen gelten Angebote der Kinder- und Jugendhilfe und des Gesundheitswesens, die schon in der Schwangerschaft und den ersten Lebensjahren Eltern und Kinder unterstützen. Müsste Gallina sich als Justizsenatorin nicht dafür einsetzen, dass die JVAs ausgestattet und qualifiziert sind, Eltern und Kinder in solchen Fällen bestmöglich zu unterstützen? Auf wiederholte Anfragen der taz weicht die Justizbehörde aus, antwortet mit Allgemeinplätzen, möchte zu dem Fall nichts sagen und schon gar nicht zitiert werden.

„Die UN-Kinderrechtskonvention gibt jedem Kind das Recht auf direkten Kontakt zu beiden Eltern“, sagt Judith Feige vom Deutschen Institut für Menschenrechte. „Daran ändert auch eine Haftstrafe nichts.“ Natürlich müsse man in jedem Einzelfall prüfen, ob es besser für das Kind sei, bei der Mutter in Haft oder ohne die Mutter in Freiheit zu leben. In jedem Fall dürfe aber bei der Abwägung nicht die Strafe im Vordergrund stehen und schon gar nicht der organisatorische Aufwand für die Justizvollzugsanstalt. „Im Fokus steht das Kind mit seinen Bedürfnissen“, sagt Feige.

Auch der Europarat setzt sich für die Rechte von Kindern inhaftierter Eltern ein. 2018 empfahl er den Staaten: „Die Behörden haben sich zu bemühen, den staatlichen Einrichtungen genügend Ressourcen zur Verfügung zu stellen, um Kinder inhaftierter Eltern zu unterstützen.“ Mitarbeiter*innen, die Kontakt zu den betroffenen Kindern und Eltern hätten, seien angemessen zu schulen. Zur Frage, ob Haft überhaupt sein muss, steht in den Empfehlungen: Wenn eine Haftstrafe im Raum steht, aber es sich um die Hauptbetreuungsperson eines Kindes handelt, seien die Interessen des Kindes zu berücksichtigen und Alternativen zur Haft anzuwenden.

Dass die Mutter verurteilt wird, ist nicht besonders wahrscheinlich. Sie hat für den Tatzeitpunkt ein Alibi

Gabriela Martinez verbüßt keine Haftstrafe, sondern befindet sich lediglich in Untersuchungshaft. Bis ein Gericht sie rechtskräftig verurteilt, gilt sie als unschuldig. Doch dass Martinez verurteilt wird, ist nicht besonders wahrscheinlich. Sie kann erklären, wie ihre DNA in die Wohnung gelangt ist, und vor allem: Sie hat für den Tatzeitpunkt ein Alibi.

Gegenüber der Polizei gab Martinez an, fünf Tage vor Lopez’ Tod in dessen Wohnung gewesen zu sein. Sie habe sich auf ein Stellengesuch gemeldet, das er in sozialen Netzwerken gepostet hatte. Martinez habe sich als Haushaltshilfe beworben, sei zum Probearbeiten gekommen und habe seine Kleidung gebügelt. Der Neffe des Verstorbenen sagte vor Gericht aus, er habe seinen Onkel niemals in ungebügelter Kleidung gesehen.

Am Tag des Todes von Ignacio Lopez, so gab es eine Kollegin von Martinez gegenüber der Polizei an, habe Martinez in einem Hotel geputzt. Der 12. Mai 2022 sei Martinez’ zweiter Arbeitstag für eine Reinigungsfirma gewesen. Die Kollegin hat den Er­mitt­le­r*in­nen ein Stundenprotokoll vorgelegt, in dem die Angeklagte an dem betreffenden Tag mit fünf Stunden gelistet ist. Den Er­mitt­le­r*in­nen liegen außerdem Chats zwischen den beiden Frauen vor. Ab neun Uhr morgens geht es etwa so hin und her: Martinez: „Ich bin schon im Hotel“, Kollegin: „Ich bin noch auf dem Weg“, Martinez: „Okay, ich warte hier.“ Kollegin: „Komm in den 4. Stock“, Martinez: „Zimmer 402 ist fertig“.

Wenn das Stundenprotokoll stimmt, hat Gabriela Martinez am 12. Mai 2022 bis etwa 14 Uhr gearbeitet. Könnte sie Lopez auch nach ihrer Schicht umgebracht haben? Sein Neffe fand ihn erst am Abend. Trotzdem ist das Szenario unwahrscheinlich. Um 11.18 Uhr ging ein Notruf vom Handy des Ermordeten bei der Polizei ein. Er sagt „Hilfe, Hilfe“. Dann endet das Gespräch.

Warum hält das Gericht Gabriela Martinez trotz allem für dringend tatverdächtig? Sieben Monate nach ihrer Festnahme sitzt Martinez noch immer in U-Haft. Hielte das Gericht eine Verurteilung für unwahrscheinlich, müsste es die U-Haft aufheben. Mit der drohenden lebenslangen Haft argumentiert das Gericht auch gegen die Zusammenführung von Mutter und Sohn: Im Falle einer Verurteilung müsste das Kind der Mutter wieder weggenommen werden – ein weiterer Beziehungsabbruch jedoch sei unbedingt zu vermeiden. Bis auf Weiteres bleibt Juan im Heim.

So lange plätschert die Gerichtsverhandlung vor sich hin: Bislang haben Nachbarn und Angehörige des Toten als Zeugen ausgesagt, außerdem ein Rechtsmediziner, Po­li­zis­t*in­nen und Rettungssanitäter*innen. Es ist der normale Vorgang eines Strafgerichts. Die Kammer versucht zu klären „Was ist passiert? Wann passierte es? Wer hat was gesehen und gehört?“ Die Kollegin, die Martinez’ Alibi bestätigen kann, soll erst Mitte/Ende Juli als Zeugin erscheinen. Ein von der Verteidigung eingereichtes Gutachten, das bestätigen soll, dass die von Martinez aufgefundenen DNA-Spuren bereits fünf Tage vor dem Mord in Lopez’ Wohnung gelangt sein könnten, kam in der Verhandlung noch nicht zur Sprache – der Richter hat es noch nicht als Thema vorgesehen.

Vielleicht wird man niemals herausfinden können, wer Ignacio Lopez getötet hat. Die Er­mitt­le­r*in­nen fanden in der Wohnung neben Martinez’ DNA noch die seiner vorherigen Haushälterin und die von Unbekannten.

Am Ende des sechsten Termins tut sich etwas. Der Richter hat angekündigt, als Nächstes den DNA-Gutachter zu hören. Danach soll auch die Kollegin von Martinez aussagen, die das Alibi bestätigen kann. Außerdem stellt das Gericht in Aussicht, die Besuchszeiten für den Sohn von Martinez im Gefängnis zu erhöhen. Ein Kinderpsychologe empfiehlt, dass das Baby drei Mal pro Woche zu seiner Mutter gebracht werde, damit es sich nicht von ihr entfremde. Das Jugendamt hält dagegen, drei Mal sei zu aufwendig. Dann lenkt es ein. Das Gericht ordnet drei Besuche pro Woche an.

Hinweis: In einer früheren Version hieß es: „Es werde wohl auf zwei Besuche pro Woche hinauslaufen, sagten die Richter. Drei Mal sei zu aufwendig.“ Korrekt ist, dass es dem Jugendamt zu aufwendig vorkam, nicht dem Gericht.

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