Mord an Kreml-Kritiker Nemzow: Attentat auf das bessere Russland
Die Welt trauert um den ermordeten Oppositionellen Boris Nemzow. Dieser hatte Putins Ukraine-Politik zuletzt stark kritisiert und Rache gefürchtet.
MOSKAU taz | Wieder ist ein Kremlkritiker durch ein heimtückisches Attentat ums Leben gekommen. Am Freitagabend wurde der 55jährige Boris Nemzow in Moskau auf offener Straße hinterrücks erschossen. Der ehemalige russische Vizepremier und charismatische Oppositionspolitiker wurde mit vier Kugeln niedergestreckt. Der Attentäter soll sich in einem weißen Ford genähert und den Wagen kurz verlassen haben. Sechs Patronenhülsen fand die Polizei am Tatort. Der Täter schoss dem Politiker von hinten in Kopf, Herz und Lunge. Die Ermittler gehen davon aus, dass es sich bei dem Mörder um einen Auftragskiller handelte.
Boris Nemzow war in Begleitung einer ukrainischen Freundin, die unversehrt blieb und als Zeugin aussagen konnte. Kurz vor Mitternacht hatten beide ein Restaurant in Kremlnähe verlassen und gingen zu Fuß über den Roten Platz. Keine 500 Meter vom Zentrum der russischen Macht schlug der Täter zu. Das Tatfahrzeug wurde gestern in Tatort-Nähe sichergestellt.
Kremlchef Putin reagierte noch in der Nacht zu Samstag: Es sei ein „brutaler Mord“, Putin habe laut seinem Sprecher Peskow auch von einer politischen „Provokation“ gesprochen. Da bei früheren Attentaten der Kreml umgehend in Verdacht geriet, zerstreute Peskow sofort jegliche Zweifel: in politischer Hinsicht habe Nemzow für die Führung Russlands und für Wladimir Putin keine Bedrohung dargestellt. Ähnlich äusserte sich Putin 2006 nach der Ermordung der Journalistin Anna Politkowskaja. Bis heute sind die Hintermänner des Mordes nicht ermittelt worden. Politkowskajas Tod würde mehr Schaden anrichten, so Putin damals, als ihre Artikel.
Die Opposition ist schockiert
Die Opposition steht unter Schock. Viele fragen sich: Wie konnte in unmittelbarer Nachbarschaft des Kreml ein Attentat geschehen? Dort, wo protestierende Bürger sofort festgenommen und jeder einzelne mehrfach überwacht wird? Alexej Wenediktow, Chefredakteur des Radiosenders Echo Moskwy, twitterte: „Wenige Meter vom Kreml getötet, in einer bewachten und von allen Seiten gefilmten Zone“.
Ex-Energieminister und Freund, Wladimir Milow, wundert sich, dass kurz vor der seit Monaten größten Demonstration der Opposition am Sonntag der Mitveranstalter und schärfste Kreml-Gegner nicht beschattet worden sein soll? Und warum ging der Mörder so dreist und unbekümmert vor? Könnte er glauben, ungestraft davon zu kommen?
Diese Fragen werden wohl nie geklärt. Zumal Putin den Fall unter seine Fittiche genommen haben soll. Für die Aufklärungsstatistik ist das ein schlechtes Omen.
Noch herrscht in der Opposition Sprachlosigkeit. Wenn auch niemand den Kreml offen des Mordes bezichtigt, so sind sich die meisten doch einig, dass die Atmosphäre von Hass und Gewalt seit dem Überfall auf die Ukraine die Tat befördert haben. „Ich kann es nicht glauben. Was ist aus Russland geworden? Die Aggression wächst“, sagte der frühere Regierungschef Michail Kasjanow.
Putin teilt die russische Gesellschaft seither in „National-Verräter“ und Anhänger des Kreml ein - in wir und sie Im letzten Jahr brachten seine Getreuen im Moskauer Zentrum ein Plakat an: “Fünfte Kolonne – Fremde unter uns“. Nemzows Porträt thronte in der Mitte.
War es Gedankenlosigkeit oder Absicht, dass das staatliche Fernsehen den entblößten Leichnam stundenlang vor der Kulisse des Kreml zeigte? Solche Entwürdigung widerfuhr sonst nur tschetschenischen Feinden.
Es gab schon Morddrohungen
Nemzow erhielt in letzter Zeit viele Morddrohungen. Die Polizei hätte zu seinem Schutz jedoch nichts unternommen, sagte sein Anwalt Wadim Prochorow. Erst vor kurzem erzählte der Politiker in einem Interview, seine Mutter befürchte, der Präsident könne sich an ihm rächen. „Hör auf Putin zu beschimpfen. Er wird Dich töten“, soll sie ihn angefleht haben.
Nemzow wies dem Kremlchef und seiner Entourage in mehreren Untersuchungen gigantische Korruption nach. Auch im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen. Demnächst sollte wieder etwas aufgedeckt werden: die Beteiligung russischer Truppen am Ukrainekrieg.
Dass russische Ermittler inzwischen auch ultranationalistische Kräfte aus dem Umfeld der sogenannten Separatisten als mögliche Attentäter verdächtigen, kann auch ein Ablenkungsmanöver sein. Der Kreml könnte sich dann auf die bekannte Position zurückziehen, dass er keinen Einfluss auf die Separatisten ausübe.
Erst wenige Stunden vor dem Attentat warf der mutige Herausforderer Putins im Sender Echo Moskwy dem Kremlchef vor, Russland mit einer „verrückten, aggressiven und tödlichen Politik des Krieges gegen die Ukraine“ in eine Krise gestürzt zu haben.
Keine Illusionen
Putin fürchtet den Maidan, das Aufbegehren selbständiger Bürger. Nemzow war dessen unermüdlicher Propagandist. Er hielt eine freie Zivilgesellschaft auch in Russland für möglich. 15 Jahre warnte er vor den Gefahren der Autokratie unter Putin, oft wurde er deswegen schon belächelt und marginalisiert. Davon ließ er sich nicht beirren und sollte auf schreckliche Weise Recht behalten.
Er hatte zuletzt keine großen Illusionen: “Die Opposition hat zur Zeit nicht viel Einfluss auf die Russen“, räumte er ein, gab aber nicht auf. Unvergessen ist sein Ausspruch, der sauberste Ort auf der Welt sei Putins Hinterteil, weil es so viel geleckt würde. Ein andermal definierte er das System Putin als „ein riesiger, mit einer hauchdünnen Schicht Blattgold überzogener Haufen Scheiße“. Wenn er Angst hatte, dann zeigte er sie nicht.
Heute findet statt der Demonstration gegen die Krise ein Trauermarsch statt. „Das wird die Bestattung eines ganzen Landes sein, alle wurden ermordet. Du, ich, das ganze Land“, sagte eine junger Mann am Tatort.
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