Millionen Beschäftigte mit Niedriglöhnen: Mindestlohn steigt – zu langsam
SPD-Chefin Saskia Esken will die Mindestlohnkommission reformieren, um zu niedrige Festlegungen zu verhindern. Die Linke setzt auf eine EU-Richtlinie.
Der wesentliche Grund für diese Entwicklung ist der Mindestlohn, der 2015 eingeführt wurde. Der Mindestlohn, von Unternehmern damals hartnäckig als Jobkiller bekämpft, ist ein Erfolgsmodell. Er hat effektiv Armut reduziert, es gab keinen Arbeitsplatzverlust und er stärkt die Binnennachfrage.
Aber es gibt ein Problem: Er ist 2024 mit 12,41 Euro nach der Inflationsphase zu gering. „Die Erhöhung in diesem und im nächsten Jahr ist viel zu niedrig angesichts der Belastungen der Beschäftigten“, so SPD-Chefin Saskia Esken in einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Die Ampel hatte den Mindestlohn per politischem Entscheid auf 12 Euro angehoben, nun ist wieder die Mindestlohnkommission verantwortlich, in der Gewerkschaften, Arbeitgeber und eine neutrale Stimme sich einigen sollen. Bei der letzten Festlegung im Sommer 2023 kam es zum Eklat. Die Gewerkschaften protestierten, dass der Anstieg von 12 auf 12,82 Euro im nächsten Jahr viel zu bescheiden ausfalle, die Unternehmerverbände und die neutrale Vorsitzende setzten sich über das Gewerkschaftsvotum hinweg.
Esken hat eine Idee, wie Fehlentscheidungen der Mindestlohnkommission künftig ausgeschlossen werden können. Es soll wie bei Tarifverhandlungen nur noch Konsensentscheidungen geben. „Man muss sich einigen, die eine Seite kann die andere nicht überstimmen“, so die SPD-Chefin. Allerdings bleiben Fragen: Was, wenn sich beide Seiten blockieren?
Untauglicher Versuch
Victor Perli, linker Bundestagsabgeordneter, hält Eskens Vorschlag für „einen verständlichen, aber untauglichen Versuch, die Mindestlohnkommission zu reparieren“. Die Kommission habe seit 2015 die Mindestlöhne immer niedriger als die Reallöhne taxiert, so Perli zur taz. Die Linkspartei setzt auf ein anderes Instrument: die EU. Denn Deutschland muss in diesem Jahr die EU-Mindestlohnrichtlinie umsetzen. Die schreibt vor, dass der Mindestlohn nicht unter 60 Prozent des mittleren Lohns liegen darf. Das wären in Deutschland derzeit 14,14 Euro. Die Mindestlohnkommission sei, so Perli, entbehrlich, wenn es eine automatische Anpassung an die Reallöhne gibt.
Der Niedriglohnsektor ist zwar kleiner geworden. Aber es gibt immer noch jede Menge schlecht bezahlter Jobs. Die Linkspartei im Bundestag hat kürzlich eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung gestellt, wie viele Menschen weniger als 14 Euro in der Stunde verdienen. Die Antwort: Im Frühjahr 2023 bekamen 8,4 Millionen Menschen weniger als 14 Euro, das Gros (7,1 Millionen) in den westlichen Bundesländern. Und das Gros im Gastgewerbe.
Perli hält diese Zahl für beunruhigend – gerade mit Blick auf die Rente. „Wer derzeit weniger als 14 Euro bekommt, wird im Alter arm sein.“ Erst ab dieser Höhe erreiche man nach 45 Arbeitsjahren eine Rente oberhalb der Grundsicherung im Alter. Die Linkspartei fordert die Erhöhung des Mindestlohns auf 15 Euro. Auch SPD-Linke und einzelne SPD-Landesverbände wie Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein wollen 15 Euro. Doch beim Parteitag im Dezember 2023 scheiterte der Versuch des linken Flügels, die SPD auf 15 Euro zu verpflichten.
Ein weiteres, oft zu wenig beachtetes Problem des Mindestlohns ist der massive Betrug. Viele Unternehmer sind äußerst erfinderisch, um den Lohn mit Tricks zu drücken. Und die Fälle nehmen zu. 2023 gab es weniger Kontrollen als 2022, trotzdem stieg die Zahl der Ermittlungsverfahren. Will sagen: Nach der Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro ist, wie zu erwarten war, der Mindestlohnbetrug stark angestiegen.
Was tun? Nötig, so Perli, seien mehr Kontrollen, um Betrug unattraktiv zu machen. Und es gibt ein Instrument, die beliebte, schwer nachweisbare Arbeitszeitverlängerung zu stoppen. „Wir brauchen die digitale Arbeitszeiterfassung“, so Perli. Dass die kommt, ist unwahrscheinlich. Die FDP blockiert in der Ampel.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern